Die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.
Definition und Diagnose von ADHS
„Eine ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu deutlicher Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Bezugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt“ - so beschreibt die Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. das Störungsbild (2007). Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist eine genetisch bedingte chronische Störung, die durch ein großes Spektrum von persistierenden Aufmerksamkeitsproblemen, Hyperaktivität, Impulsivität und einer Störung der Emotionsregulation sowie verschiedenen komorbiden Problemen, z. B. Störung des Sozialverhaltens (SSV), dysexekutive, kognitive und Teilleistungsprobleme, Angst- und Ticstörungen gekennzeichnet ist. Probleme betreffen nicht nur die neuronale oder intellektuelle Funktion und Leistungsfähigkeit, sondern auch das Verhalten und die familiäre und soziale Integration.
Die Version 5 des DSM wurde 2013 eingeführt. ADHS wird nicht mehr den Sozialverhaltensstörungen (Entstehung als Folge von z.B. „pädagogischem Versagen“) zugeordnet, sondern den „Neurodevelopmental Disorders“. Das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als Ausschlusskriterium entfällt. Die ursprünglich für die Phänomenologie im Kindesalter konzipierte Liste der 18 Symptome wurde durch Beispiele ergänzt, die vor allem illustrieren, wie sich die Symptomatik im späten Jugend- und im Erwachsenenalter darstellt.
Ein Ziel dabei war, die Reliabilität und Konsistenz der Beurteilung der Symptomatik bei Jugendlichen und Erwachsenen vor dem Hintergrund ihres altersabhängigen Wandels zu verbessern. Die Zahl der notwendigen Symptome für Jugendliche ab 17 Jahren und für Erwachsene wurde für beide Symptombereiche von sechs auf fünf herabgesetzt. Die Altersgrenze für die Erstmanifestation der Symptomatik wurde auf zwölf Jahre hinaufgesetzt. Das Kriterium eines Beginns der Symptomatik vor dem Alter von sieben Jahren hatte sich einer Metaanalyse zufolge als nicht valide erwiesen (Kieling et al., 2010). Die Bedeutung multipler Beurteiler und situationsübergreifender Symptomatik wird stärker betont. Der Begriff der „Subtypen“ wird durch „Erscheinungsformen“ ersetzt, wobei sich die Unterscheidung der beiden Symptomdimensionen „Unaufmerksamkeit“ und „Hyperaktivität/Impulsivität“ als valide erwies (Willcutt et al., 2012). Der Begriff „Subtypus“ suggeriert stabile Entitäten, was nicht den klinischen Beobachtungen entsprach.
Diagnostische Schritte
- Anamnese: Die Einbeziehung anderer Kinder und Jugendlicher, der Eltern, der Erzieher und Lehrer ist demnach eine wichtige diagnostische Maßnahme.
- Klinische Untersuchung: Der klinische Untersuchungsbefund und Verhaltensbeobachtungen sind ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für ein umfassendes Bild der Betroffenen.
- Diagnostische Instrumente: ADHS-spezifische Fragebögen fokussieren auf bestimmte diagnosetypische Verhaltensweisen und ermöglichen damit bis zu einem Grad eine standardisierte Diagnostik und eine Abgrenzung der Erscheinungsformen.
- Testpsychologische Untersuchungen: Diese werden ergänzend zur klinischen Diagnostik eingesetzt.
- Videoaufzeichnungen: Sowohl für Diagnostik und Therapie als auch für die Verlaufskontrolle können optionale Videoaufzeichnungen von Nutzen sein.
- Laboruntersuchungen, EEG, Gehörprüfung, Visusüberprüfung, MRT: Diese Untersuchungen dienen ausschließlich zur Differenzialdiagnostik.
Epidemiologie und Ursachen
ADHS ist eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Die Angaben dazu schwanken je nach angewandten Diagnosekriterien, Erhebungsmethoden und untersuchten Bevölkerungsgruppen zwischen 2,4 bis sieben Prozent. Im Vorschulalter liegen sie bei ca. 1,8 Prozent. Untersuchungen weisen darauf hin, dass ADHS kulturübergreifend mit ähnlicher Häufigkeit auftritt. So wird in einer Metastudie (Regressionsanalyse von Polancyk et al., 2007) eine weltweite Prävalenzrate von 5,29 Prozent gefunden.
Lesen Sie auch: Hilfe bei Angst
Die Pathomechanismen der ADHS sind nicht im Detail geklärt. Man geht von einer multifaktoriellen Genese aus, wobei genetische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen. Zu den als nicht genetischen Einflussgrößen diskutierten Faktoren zählen Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen (Eklampsie, verringertes Geburtsgewicht, höheres Alter der Mutter, fetaler Stress, Frühgeburtlichkeit) sowie Nikotin- und Drogenkonsum während der Schwangerschaft (Voeller, 2004). Auf neurobiologischer Ebene wird die ADHS als ein heterogenes Störungsbild mit Dysfunktionen in Regelkreisen zwischen präfrontalem Kortex, parieto-occipitalem Kortex, Basalganglien und Vermis cerebelli auf dem Boden einer Neurotransmitterfunktionsstörung im dopaminergen System gesehen, wobei das noradrenerge und das serotonerge System ebenfalls betroffen sind (Faraone et al., 2001; Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. nach ICD-10/DSM-IV bzw.
Klinische Merkmale werden dann auch mit der Dysfunktion in den betroffenen Arealen in Verbindung gebracht: Unaufmerksamkeit, Antizipationsschwierigkeiten etc. (präfrontaler Kortex); Stimmungslabilität, Ängstlichkeit etc. (limbisches System); Hyperaktivität, Tics etc. (Basalganglien); Impulshaftigkeit (Vermis cerebelli). Reifungsmechanismen - im Sinne einer primären „Unreife“ dieser Systeme (mit der Chance der Nachreifung - z.B. Abnahme der Hyperaktivität im Erwachsenenalter) scheinen eine Rolle zu spielen.
Symptomatik
Die Symptome von ADHS treten mit lebensalter- und geschlechtstypischer Ausprägung vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter auf. Bei Jugendlichen nimmt die hyperaktive Symptomatik tendenziell ab, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität bleiben eher bestehen. Bei Erwachsenen wird eher eine Abnahme der Anzahl von Symptomen beobachtet, wobei die verbleibenden Beeinträchtigungen jedoch persistieren und mit steigendem Alter tendenziell zunehmen (Solanto et al., 2012). Die drei Kernsymptome des ADHS sind Aufmerksamkeitsdefizit, motorische Hyperaktivität und mangelnde Impulskontrolle.
Komorbide Störungen sind häufig und betreffen zwei Drittel bis drei Viertel der Kinder mit der Primärdiagnose ADHS. Dabei stehen oppositionelle Störungen, Störungen des Sozialverhaltens und Suchtverhalten im Vordergrund. Relativ häufig werden auch Schlafstörungen, depressive Störungen, Angst- und Tic-Störungen sowie umschriebene Entwicklungsstörungen gesehen. Mehrfachdiagnosen kommen häufig vor.
Therapeutische Ansätze
Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen von ADHS erfordert das therapeutische so wie das diagnostische Vorgehen ein multimodales und multidisziplinäres Vorgehen. In einem Konsensus-Statement wurde dazu ein Algorithmus nach den Deutschen AWMF-Leitlinien zusammengefasst. Das Behandlungssetting ist üblicherweise ein ambulantes. Bei unklarer Diagnose oder schwerer Symptomatik und Gefährdung der sozialen Integration, bei ambulant schwieriger medikamentöser Einstellung oder komplexer klinischer Symptomatik (Komorbidität) sollte eine teilstationäre Therapie angedacht werden. Eine vollstationäre Aufnahme des betroffenen Kindes/Jugendlichen ist nur dann anzustreben, wenn die familiären Ressourcen überfordert sind und/oder wenn das Kind bzw.
Lesen Sie auch: Was tun bei einer Hai-Begegnung?
Generell wird immer die Etablierung einer ADHS-Elternberatung (mit vielen psychoedukativen Elementen) und eine strukturierende Therapie mit dem Ziel des Erwerbs von Selbstkontrolle und Selbststrukturierung für die Betroffenen empfohlen. Diese Empfehlung gilt bei leichter bis milder Ausprägung der Symptomatik, leichten bis mittleren Einschränkungen und (noch) belastbarem Umfeld (Eltern, Schule). Die Wirksamkeit der Therapie wird sich innerhalb von einigen Wochen und Monaten zeigen. Bei unzureichendem Ergebnis, bei mittlerer bis schwerer Symptomatik mit massiven Einschränkungen und hochbelasteten Systemen wird dann eine zusätzliche medikamentöse Therapie etabliert. Eine Wirksamkeit zeigt sich dann innerhalb von wenigen Tagen bis Wochen. Diese Empfehlungen basieren auf vielen Studien.
Bei der Reduktion der internalisierenden und aggressiven Begleitsymptome sowie der Verbesserung der sozialen Kompetenzen, der Eltern-Kind-Beziehung und der schulischen Leistungen erwiesen sich Pharmakotherapie mit ADHS-Beratung und Verhaltenstherapie als die effizientesten Methoden. Bei der Reduktion der Kernsymptome war die Pharmakotherapie mit ADHS-Beratung der reinen Verhaltenstherapie überlegen. Allerdings verminderten sich nach 36 Monaten die Unterschiede zwischen den einzelnen Methoden mit einer Stabilisierung der Therapieeffekte.
Psychotherapeutische Behandlung
Bei der psychotherapeutischen Behandlung von ADHS stehen v.a. strukturierende, symptomorientierte psychotherapeutische Ansätze im Vordergrund. Diese Therapiemethoden (Verhaltenstherapien etc.) sind am besten evaluiert und haben sich auch in der Praxis bewährt. Dabei wird einerseits patientenzentriert, andererseits elternbzw. familienzentriert gearbeitet. Im besten Fall wird auch das schulische Umfeld einbezogen. Essenziell ist eine entsprechend spezifische, umfassende Psychoedukation mit Patienten, Eltern, Schule etc., wobei das Krankheitsmodell und die Symptome erklärt sowie die therapeutische Beeinflussung erläutert und geübt werden.
Medikamentöse Behandlung
Der Entscheidung für eine Pharmakotherapie der ADHS sollen mehrere Entscheidungskriterien zugrunde gelegt werden: Intensität der Störung, Akuität der Situation, Beeinträchtigung von Patient und Umfeld, Alter des Kindes/ Jugendlichen (für Vorschulalterkinder sind derzeit keine ADHS-Medikamente zugelassen), Verfügbarkeit der Pharmakotherapie, psychosoziales Umfeld und Compliance. Bei den in Österreich zur Behandlung der ADHS zugelassenen Medikamenten handelt es sich um diverse Präparate aus der Gruppe der Stimulanzien (Amphetamin, Methylphenitat, Lisdexamphetamin), einen Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer (Atomoxetin) und ein zentral wirksames Sympathotonikum (Guanfacin).
Stimulanzien
Die Wirksamkeit von Stimulanzien fußt auf der Katecholamin-Hypothese, die von einer Verminderung von Noradrenalin und Dopamin im synaptischen Spalt ausgeht, wobei auch das serotonerge System mitbetroffen sein dürfte. Für den Einsatz von Stimulanzien sprechen die lange Erfahrung mit diesen Medikamenten, die große Anzahl von mehr als 300 Studien und die gute Wirksamkeit. Etwa 80 Prozent der mit Stimulanzien behandelten Patienten sind Responder. Stimulanzien gelten als Standardtherapie der ADHS. Es stehen kurz- und langwirksame Präparate zur Verfügung, wobei auch Kombinationen je nach Anforderungen im Tagesverlauf angewandt werden.
Lesen Sie auch: Wichtige Verhaltensregeln nach Katarakt-OP
Die häufigeren Nebenwirkungen von Stimulanzien umfassen Appetitverlust, Kopf- und Bauchschmerzen, Arrhythmie, Puls- und Blutdruckveränderungen, Agitation und Schlafstörungen. Gelegentlich bis selten treten Dysphorie, Wachstumsstörungen, „Wesensveränderungen“ und psychotische Reaktionen auf. Sehr selten bzw. mit unbekannter Häufigkeit wurden Konvulsionen, Blutbildveränderungen, plötzlicher Herztod, zerebrovaskuläre Erkrankungen einschließlich Vaskulitis, Hirnblutungen, zerebrovaskuläre Ereignisse und zerebraler Verschluss beobachtet. Regelhaft sollten Puls, Blutdruck und Wachstum kontrolliert werden, gelegentlich sollten Kontrolle des Blutbilds und ein EKG erfolgen.
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
In Österreich ist aus dieser Wirkstoffgruppe Atomoxetin auf dem Markt. Das Medikament hemmt hochselektiv den präsynaptischen Noradrenalin-Rezeptor, erhöht die Wirkung von Noradrenalin im präfrontalen Kortex und wirkt indirekt auf den Dopaminspiegel. Etwa 50 bis 70 Prozent der mit Atomoxetin behandelten Patienten sind Responder. Die Wirksamkeit gilt allgemein als etwas geringer, hält allerdings - nach Einmalgabe - 24 Stunden an.
Zentrale alpha-Sympathomimetika
Es handelt sich um eine Substanzgruppe, die bereits 1979 als zentrale Antihypertonika eingesetzt wurden. Es zeigte sich eine zusätzliche Wirksamkeit bei ADHS, und die Substanz wurde in Fachkreisen als „Off-Label-Behandlung“ von ADHS bei mangelnder Wirksamkeit von oder Kontraindikation gegen Stimulanzien eingesetzt. In den USA wird seit 2011 nunmehr eine verbesserte Substanz mit Retard-Wirkung (Guanfacin) als ADHS-Medikament zur Anwendung gebracht und darf auch seit 2017 in Österreich (nach chefärztlicher Bewilligung) im Kindes- und Jugendalter eingesetzt werden. Vorteile sind u.a. eine 24-Stunden-Wirkung und fehlendes Missbrauchspotenzial. Als Nebenwirkungen können u.a.
Alternative und ergänzende Therapien
Als nicht medikamentöse Therapie zeigt das allerdings aufwendige „Neurofeedback“ in einigen kleinen Studien erste positive Ergebnisse, die Effektivität muss aber erst bestätigt werden. Als eine sinnvolle Nahrungsergänzung zur Verbesserung der Hirnleistung scheinen sich ungesättigte Fettsäuren zu erweisen (Richardson et al., 2005). Sie sollen „neuroprotektiv“ in den Nervenzellmembranen wirken. Bei Kindern mit ADHS wurden auch niedrigere Spiegel von Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren im Plasma und in der Phospholipidmembran der Erythrozyten festgestellt, und so wurde auf Defizite im Bereich der Nervenzellen geschlossen.
Prognose
Die Kernsymptome von ADHS sind sehr gut behandelbar. In etwa zwei Drittel der Fälle bestehen Symptome und Einschränkungen - und somit Behandlungsbedürftigkeit - bis ins Erwachsenenalter. Die Prognose ist abhängig von der Behandlungscompliance, den zusätzlichen komorbiden Beeinträchtigun... Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist eine häufige, chronische neuropsychiatrische Störung mit genetischem Hintergrund, multiplen Komorbiditäten und einem großen Spektrum an individuellen und sozialen Beeinträchtigungen. Trotz zahlreicher positiver Eigenschaften und meist erfolgreicher medikamentöser Therapie bestehen langfristige, individuelle Auffälligkeiten und Dysfunktionen und bedingen auch im Erwachsenenalter eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität.
Tabellen
Tabelle 1: Übersicht über Medikamente zur Behandlung von ADHS
Medikament | Wirkstoffgruppe | Wirkmechanismus | Vorteile | Nachteile |
---|---|---|---|---|
Methylphenidat (Ritalin®, Medikinet®, Concerta®) | Stimulanzien | Stimuliert die Ausschüttung und hemmt die Wiederaufnahme von Dopamin und Noradrenalin | Rasche Wirkung, keine Abhängigkeit | Suchtgiftrezept notwendig |
Lisdexamphetamin (Elvanse®) | Stimulanzien | Prodrug, Umwandlung in Dexamphetamin | Lange Wirkdauer, Einmalgabe pro Tag | - |
Atomoxetin (Strattera®) | Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer | Selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer | Alternative oder Kombination mit Methylphenidat | Geringere Wirksamkeit, verzögerter Wirkeintritt |
Guanfacin (Intuniv®) | Zentrale Alpha-2-Adrenorezeptor-Agonisten | Ähnlichkeit mit Clonidin | Retardtablette, Einmalgabe pro Tag | - |
tags: #oppositionelles #verhalten #adhs #medikamente #wirkung