Die eigene psychosexuelle Entwicklung beginnt bereits vor der Geburt im Mutterleib und wird maßgeblich von den wichtigsten Bezugspersonen beeinflusst. Bei den heute Erwachsenen werden in den meisten Fällen die primären Bezugspersonen wahrscheinlich die Mütter gewesen sein. Um die Lesbarkeit zu erhöhen, wird daher in weiterer Folge vereinfachend von den Müttern geschrieben. In jenen Fällen, wo andere Personen die primären Bezugspersonen waren, sind diese ebenfalls damit gemeint.
Es wird davon ausgegangen, dass diese das Beste für ihre Kinder wollen, nur aber auch selber von der eigenen Kindheit und Jugend geprägt sind. Nachstehend soll ein idealtypisches, in der Realität wahrscheinlich so nicht erreichbares Bild einer ungestörten psychosexuellen Entwicklung eines Kindes beschrieben werden.
Die Mutter (oder primäre Bezugsperson, siehe oben) hat sich bewusst für eine Schwangerschaft entschieden, sie lebt in einer stabilen Partnerschaft, braucht sich keine finanziellen Sorgen um die Zukunft machen und hat ein stabiles soziales Netz. In einer derartigen Situation kann sie die Schwangerschaft wahrscheinlich unbeschwerter erleben und sich auf ihre Rolle als Mutter vorbereiten. Von ihrer Freude und positiven Einstellung profitiert auch das noch ungeborene Kind.
Nach einer im Idealfall problemlosen Schwangerschaft und Geburt kann sie dem Kind genügend Aufmerksamkeit, Liebe, Körperkontakt, Zeit etc. geben - alles was das Kind braucht. Sie erkennt die Bedürfnisse des Kindes und kann diese erfüllen. Das Kind kann in gutem Kontakt zu seinem Körper sein und seine Gefühle auch ausdrücken. Es wird in diesem Ausdruck auch unterstützt, seine Gefühle werden ernst genommen.
Das Kind wächst heran und die Mutter bestärkt es darin, das selbstständig zu tun, was es schon alleine erledigen kann. Sie vermittelt ihm, dass sie es ihm zutraut, sie unterstützt es dabei, neue Fähigkeiten zu erlernen. Das Kind wird zum Jugendlichen und schließlich zum Erwachsenen, der auf eigenen Beinen steht, einen Beruf erlernt, aber sich immer noch emotionalen Rückhalt in der Herkunftsfamilie holen kann.
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Einflussfaktoren auf die Mutter-Sohn-Beziehung
Zwänge von außen: Wenn die Mutter z.B. Alleinerzieherin ist, unter wirtschaftlichen Zwängen steht, wenig Unterstützung hat, ev. selber erkrankt, kann sie sich oft nicht in dem Ausmaß um die Bedürfnisse des Kindes kümmern, die dieses für eine ungestörte Entwicklung bräuchte.
Generationenübergreifende Traumata: Wenn die Mutter ihrerseits als Kind zu wenig Aufmerksamkeit, Zeit, Liebe, Erfüllung ihrer Bedürfnisse von ihrer eigenen Mutter erfahren hat, fällt es ihr oft schwer, den Ansprüchen ihres Kindes voll zu entsprechen.
Wenn die Mutter selbst unerfüllte Bedürfnisse hat, kann es leicht passieren, dass sie unbewusst das Kind für deren Erfüllung heranzieht. Sie will dies gar nicht, aber wenn sie z.B. in einer unglücklichen Beziehung mit einem wenig liebevollen Partner ist, wird sie die Liebe des Kindes sehr dankbar aufnehmen. Die Mutter wird auch dafür sorgen, dass sie diese weiterhin erhält. Das Kind wird dadurch unbewusst zu einem Partnerersatz. Wenn das Kind ein Sohn ist, kann es in vielen Fällen zu einer Konkurrenzsituation zwischen Partner und Sohn kommen. Die Mutter kann das Werben um ihre Gunst durchaus genießen. Der Sohn erhält aber oft unbewusst die Aufgabe: „Ich muss die Mama glücklich machen“.
Da dies eine unerfüllbare Aufgabe ist, sind im Erwachsenenalter oft Partnerinnen für ihn anziehend, die er unbewusst als bedürftig wahrnimmt, die er aber ebenfalls nicht glücklich machen kann. Dadurch wiederholt er die Grundsituation seiner Herkunftsfamilie.
Neben der übermäßigen Bindung an den gegengeschlechtlichen Elternteil kann es auch zu einer ungesunden Fixierung an den gleichgeschlechtlichen Elternteil kommen. In allen Fällen ist das Resultat eine ungenügende Ablösung des erwachsenen Kindes - mit Folgen für die Partnerwahl und die Sexualität.
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In manchen Fällen kann das Kind auch auf eine bestimme Aufgabe hin geprägt werden, z.B.: Du wirst den Hof übernehmen und ihn in unserem Sinne weiterführen. Wunderbar, wenn dies der freie Wille des erwachsenen Kindes ist. Furchtbar, wenn es lebenslang etwas tun muss, was nicht seinen Neigungen entspricht. Auch dies hat Auswirkungen auf die Partnerwahl und die Sexualität.
Das erwachsene Kind versucht oft fremde Bedürfnisse zu erfüllen, die eigenen bleiben unerfüllt. Dies ist schmerzhaft - aber das Kind wurde nie dazu erzogen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Es baut eine Maske auf, die es nach außen zeigt und errichtet innere Barrieren, um den Schmerz über die eigenen unerfüllten Bedürfnisse nicht wahrnehmen zu müssen. Dadurch leidet aber auch der Zugang zu den eigenen feinen körperlichen Empfindungen und das Einfühlungsvermögen in andere Menschen. Dies zeigt sich natürlich auch in Beziehungen und in der Sexualität.
Erwachsene Kinder erwarten sich oft von der Partnerin/ vom Partner die Erfüllung all ihrer Bedürfnisse. Jener, die in ihrer Kindheit unerfüllt geblieben sind und jener, die sie als Erwachsene haben. Mit der Erfüllung dieser Erwartungen muss aber jede Partnerin/ jeder Partner überfordert sein. Dadurch entstehen Enttäuschungen, die wiederum Auswirkungen auf die Sexualität haben können.
Diese Enttäuschungen werden oft aber ausschließlich der Partnerin/ dem Partner angelastet - ohne zu berücksichtigen, dass unbewusst immer auch unerfüllte Erwartungen aus der eigenen Kindheit in die Beziehung mit eingebracht werden.
Oftmals sind die Erwartungen auch unklar. Geht es vorrangig um eine körperliche Befriedigung oder um Liebe und Nähe? In vielen Fällen haben Personen in Beziehungen unterschiedliche Voraussetzungen. Eine Partnerin/ ein Partner braucht oft zuerst die körperliche Entspannung durch die Sexualität, um Nähe geben zu können, die andere Partnerin/ der andere Partner braucht oft zuerst die Nähe, um danach gemeinsame Sexualität genießen zu können. Auch dafür sind oft kindliche Erfahrungen ausschlaggebend.
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Es ist auch eine Überforderung, wenn die Partnerin/ der Partner für das eigene Glück verantwortlich gemacht wird.
Solch schwierige Konstellationen können über lange Zeit aufrecht erhalten bleiben. In einer Beziehung kann jede Person für sich selber versuchen, im Hier und Jetzt an sich zu arbeiten. Mögliche Fragen dazu sind z.B.: Welche Verhaltensweisen zeige ich, wenn ich meine Enttäuschung nicht offenbaren will? Wie kann ich mehr Zugang zu meinen versperrten Gefühlen bekommen? Wie kann ich feinfühliger auf meinen eigenen Körper hören? Auch ein Blick in die eigene Vergangenheit kann helfen. Fragen dazu sind z.B.: Welche Erlebnisse meiner Kindheit haben mein Verhalten in einer Partnerschaft geprägt? Auch wenn nicht jede Partnerin / jeder Partner daran Interesse zeigt, lohnt sich die Beschäftigung mit sich selber und wird auch zu persönlichen Veränderungen führen.
Parentifizierung
Die Parentifizierung, die Rollenumkehr in der Eltern-Kind-Beziehung, ist ein Entwicklungstrauma. Es gibt verschiedene Ausprägungen der Parentifzierung und doch ist die Grunddynamik immer die Gleiche: Es handelt sich um die Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind. Dabei übernehmen die Kinder die Elternrolle - entweder in konkreten Alltagssituationen oder emotional.
Doch nicht nur den späteren Erwachsenen ist die Rollenumkehr selten bewusst, sondern auch den Eltern. Für Betroffene ist es oft ein jahrelanger Weg sich aus der Rollenumkehr ganz zu lösen. In der Regel kennen sie es nicht anders und die Muster zeigen sich später in Partnerschaften, Freundschaften und im beruflichen Umfeld. Sie kommen dann in Therapie, weil sie sich ausgebrannt fühlen, Beziehungen scheitern, sich leer fühlen oder nicht ihr eigenes Leben leben. Um sich aus der Rollenumkehr zu lösen und in ein autonomes Leben hineinzuwachsen, ist die Arbeit an der Selbstverbindung und gesunden Grenzen zentral.
Bei einer Parentifizierung sind die Rollen vertauscht. Kinder fühlen sich (unbewusst) nicht beschützt, geborgen oder gehalten. Im Gegenteil spüren Kinder bereits vorgeburtlich, wenn Eltern gestresst, traumatisiert oder krank sind, sich ständig streiten, selbst nicht genug Halt bekommen haben oder nicht ganz bei sich sind.
Sind die wesentlichen Fähigkeiten für eine „holding environment“ (Winnicott) bei den Eltern nicht vorhanden, beginnen Kinder sich anzupassen und den Eltern das zu geben, was sie selbst bräuchten. Das führt zu einer hochgradigen Überforderung des Kindes und damit schon früh zu stressgeladenen Überlebensstrategien bzw.
Das hohe Einfühlungsvermögen der Kinder macht die Rollenumkehr im Außen oft nicht sichtbar. Alles läuft ganz automatisch, wirkt „normal“, da die Kinder sehr angepasst sind und viel Leistung bringen. Parentifizierungen zeigen sich nicht nur in der Eltern-Kind-Beziehung, sondern auch in Partnerschaften.
Hier übernehmen die jeweiligen Partner eine (unbewusste) Elternrolle. Auch hier sind unerfüllte Kernbedürfnisse in der Kindheit eine tragende Rolle, dessen Erfüllung dann vom Partner übernommen werden sollen und immer zur Enttäuschung und Vorwürfen führen. Die Grenzen zwischen den Partnern verschwimmen. Auch ein Anfälligkeit für Süchte zeigt sich bei Kindern, die parentifiziert sind/waren. Die Bedürftigkeit ist immens groß, wie bei einem hilflosen Säugling. Die Ersatzbefriedigungen können den Mangel jedoch nicht ausgleichen. Im Gegenteil wird der Mangel größer.
Betroffene sind in einer Dynamik gefangen, niemanden zu brauchen, alles alleine zu bewerkstelligen oder sich nur auf sich selbst zu konzentrieren. Nach außen mag dies selbstbewusst oder eigenständig wirken, doch die Autonomie ist nur ein Schein und Ausdruck eine Überlebensstrategie. Die Überlebensstrategie ist eine Überabgrenzung und damit ein Kontaktabbruch. Daher fühlen sich Menschen tief im Inneren oft einsam oder leer. Der Aufbau von gesunden Beziehungen, die eine konstruktive Art und Weise der Abhängigkeit beinhalten und von einem Geben und Nehmen getragen sind, sind für Menschen mit der Erfahrung der Parentifizierung schwer.
Scham-und Schuldgefühle sind bei einer Parentifizierung vorprogrammiert. Wenn Kinder emotional missbraucht oder manipuliert werden, zeigen sich Schuldgefühle bei jeder Bewegung in Richtung Autonomie. Auch wenn sie hinaus in die Welt gehen, fühlen sie sich immer irgendwie verantwortlich für die Eltern und deren Wohlbefinden. Sie kümmern sich aufopfernd um die Eltern und leben nicht ihr eigenes Leben. In kindlicher Treue leben sie ein Leben für die Mutter, den Vater oder auch den PartnerIn.
Psychisch kranke Eltern, traumatisierte oder narzisstische Eltern sind Ursachen für die destruktive Beziehungsdynamik zwischen Eltern und Kind. Die Eltern sind nicht in der Lage für ihre unerfüllten Bedürfnisse selbst zu sorgen und missbrauchen emotional ihre Kinder. Sie sehen ihre Kinder nicht in ihren Bedürfnissen, sondern projizieren eigene Bedürfnisse auf sie.
Oder die Eltern sind schwach und nutzen die Kraft der Kinder - emotional oder auch bei alltäglichen Aufgaben, wie auf Geschwister aufpassen, Besorgungen machen, den Haushalt führen, etc. Manchmal haben Kinder Angst, dass Eltern etwas zustoßen würde, wenn sie sich nicht um sie kümmern. Diese verstrickten/symbiotischen Beziehungen sind hochstressgeladen und massiv überfordernd. Sie ziehen Lebensenergie ab, die für das eigene Leben gebraucht wird. Um die stetige Überforderung zu verdrängen, werden Überlebensstrategien entwickelt.
Ein weiterer Aspekt der Folgen einer Parentifizierung zeigt sich in der Umkehr vom Opfer zum Täter. Das Muster anderen Menschen aufopfernd zu helfen, bleibt auch im Erwachsenenalter aufrecht, wenn dies nicht aufgearbeitet wird. So besteht die Gefahr vom Opfer zum Täter zu werden im Kleide eines Wohltäters. Sie projizieren die eigene Not in die Hilfsbedürftigen und haben ständig Menschen um sich herum, die ihre Hilfe benötigen. Das Helfen wird zum Selbstzweck und ist hoch egoistisch, da es um das Verbergen des eigenen Mangels geht und weniger um eine unabhängige Hilfe. Irgendwann werden Ansprüche, Forderungen gestellt oder Druck ausgeübt, um Anerkennung für die Aufopferung zu bekommen. Sie wiederholen die Dynamik der Rollenumkehr der Eltern-Kind-Beziehung und unterstützen nicht die Hilfesuchenden, sondern benutzen sie für ihre eigene Bedürfnisbefriedigung.
Ein Kind, dass auf seine Eltern oder Partner aufpasst, leidet. Es verliert an Freiheit und Leichtigkeit. Ein ganz wichtiger Schritt ist, anzuerkennen, dass man keine Schuld an den Problemen der Eltern hat und nicht für deren Wohlbefinden verantwortlich ist.
Eltern sind für sich selbst verantwortlich und ihre Kinder. Kinder tragen keine Verantwortung, wie man mit ihnen umgegangen ist und was man ihnen als wehrloses Kind angetan hat. Im therapeutischen Prozess wird immer wieder daran gearbeitet, die Verantwortung und die Lasten zurückzugeben. Wir können erst bei uns selbst ankommen, wenn wir uns aus der falschen Verantwortung lösen und damit die Verantwortung für uns selbst übernehmen können. Der Aufbau einer gesunden Grenze zu den Eltern, den Generationen und auch zu unseren Partnern und Freunden ist dabei unumgänglich.
Mit der Selbstverbindung sind wir im Kontakt mit unserem inneren Kern oder auch wahren Selbst. Das parentifizierte Muster anderen zu helfen, um Anerkennung oder Liebe zu bekommen, wird Schritt für Schritt mit dem wachsenden Selbstwert unterbrochen. So gelingt es neue Beziehungen aufzubauen, die von einer Begegnung auf Augenhöhe und Autonomie geprägt sind. Denn um diese möglich zu machen, muss der eigene Selbstwert stabil sein und die eigenen destruktiven Muster aufgelöst werden.
Projektionen werden aufgelöst, indem der eigene Mangel bewusst wird und die damit verbundene Bedürftigkeit gefühlt wird. Das kann schmerzhaft sein, doch es ist ein ganz gesunder Schmerz. Das Lösen aus einer Parentifizierung ist ein therapeutischer Prozess, wo die stressgeladenen Erfahrungen nachverarbeitet werden und Autonomie aufgebaut wird. Mit der lösungsorientierten Intensivtherapie werden Schritt für Schritt, die aus der Parentifizierung destruktiven Lebensmuster bearbeitet und gelöst.
Parentifizierung beschreibt die Rollenumkehr in der Eltern-Kind-Beziehung. Weil Kinder für die emotionale Stabilität der Eltern zuständig gemacht werden. Betroffene wirken nach außen unabhängig und regeln alles selbst.
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Phänomen der Parentifizierung von Kindern im Zuge elterlicher Beziehungskrisen und Trennungssituationen, das Kinder zwischen Machtgefühl und Überforderung spannt. Wenn die Stabilität der wichtigsten Bezugspersonen des Kindes durch Life-Events wie zum Beispiel Trennung bzw. Scheidung der Eltern ins Wanken gerät, bedeutet dies eine außerordentliche Belastung für das Kind, welche die Lebenssicherheit bedroht. Das Kind strebt dann danach, diese so weit und so schnell es ihm möglich ist, wiederherzustellen. Dabei kommt es häufig zum Phänomen der Parentifizierung: Das Kind schlüpft in die Rolle der Eltern und übernimmt Anteile der elterlichen Verantwortung, oft von den Eltern in diese Rolle gedrängt.
Aufgezeigt wird, welche unbewussten Gefühle und Konflikte das Kind in die Parentifizierung zwingen und welche Gefühle, Risiken und Folgen damit einhergehen können. Das Kind steht in der Rolle der Parentifizierung zwischen einem wohltuenden Machtgefühl und der drohenden Überforderung, welche Versagen bedeuten würde.
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