Ein wichtiger Aspekt der Ambiguitätstoleranz besteht darin, mit Dilemmata des Alltags gut umgehen zu können, vor allem auch des Führungs-Alltags. Einen besonderen Stellenwert nehmen die moralischen Dilemmata ein. Mit Dilemmata hat sich von je her die Philosophie beschäftigt, vor allem mit moralischen Dilemmata - die Ethik und Moral-Philosophie.
Moralische Dilemmata entstehen, wenn wir vor einer Entscheidung stehen und alle Alternativen moralisch bedenklich sind. Wir können uns nicht für die gute Alternative entscheiden, wir müssen wählen zwischen Pest und Cholera, zwischen Skylla und Charybdis.
Aber Dilemmata sind keine philosophisch-abstrakte Angelegenheit. Sie werden z. B. sehr konkret sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen Bereich. Beispiele finden sich in der aktuellen Digitalisierungs-Debatten, z. B. zum autonomes Fahren bzw. selbstfahrenden Autos. Wie soll der Algorithmus entscheiden, wenn vor dem Auto plötzlich eine Kindergruppe auftaucht?
Bei Vollbremsung ist ein Auffahrunfall mit den dahinter fahrenden Autos unvermeidlich und das Leben der Mitfahrer ist in Gefahr - eventuell auch der Fahrer und Mitfahrer dahinter fahrender Autos. Viele Dilemmata handeln davon, ob man Menschenleben aufwiegen kann.
Ein bekanntes Beispiel ist das Straßenbahn-Dilemma: „Ein Straßenbahnwagen ist außer Kontrolle geraten und rast auf fünf nichtsahnende Bahnarbeiter zu. Sie, als Beobachter, stehen an einer Weiche und könnten den Wagen auf ein anderes Gleis leiten, auf dem aber ein Bahnarbeiter steht. Sie würden fünf Menschenleben retten, aber eines opfern."
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Vor ähnlichen Situationen standen Regierungen, wenn es in der Corona-Krise darum ging, zu bestimmen, wie stark und wie lange welche Einschränkungen gegen die Ansteckung mit COVID 19 entschieden wurden. Das Risiko von Ansteckungen und damit auch die Todesrate stand den Verlusten von Lebensqualität, demokratischen Rechten und ökonomischen Ergebnissen gegenüber.
Auch Ärzte standen vor grundlegenden Dilemmas, wenn, wie in einigen Ländern, das Gesundheits-System überfordert war und Ärzte entscheiden mussten, wer ein Notfallsbett mit Beatmungs-Maschine bekam und damit wesentlich bessere Überlebens-Chancen hatte, als solche, die das nicht bekamen.
Je nachdem wie Menschen in moralischen Dilemmatas entscheiden, lässt sich der moralische Entwicklungs-Stand eines Menschen einschätzen. In Führungs-Beziehungen gibt es zahlreiche Dilemmata, die auch zum Teil moralische Dimensionen haben. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Macht.
Der Einsatz von Macht ist ein integraler Bestandteil von Führung. Sie ethisch oder moralisch akzeptabel einzusetzen, führt zu einem moralischen Dilemma. Moralisch und ethische zu führen bringt nämlich Führungskräfte häufig in einen Konflikt mit ihren wirtschaftlichen Zielen.
Zudem zeigt sich ein neuer Faktor in Studien zur Persönlichkeit bzw. zu den zentralen Führungsmerkmalen, die den englischen Sprachraum überschritten: Dort wird vorgeschlagen, zusätzlich zu den „Big Five“ einen 6. Faktor zu ergänzen. Das neue Modell wird als HEXACO-Modell tituliert. Der neue zentrale Faktor ist „Ehrlichkeit-Demut“ (honesty-humility). Er enthält unter anderem: ethisches Verhalten, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Fairness, Gier-Vermeidung.
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Interessant ist vor allem auch, dass der Moral-Faktor (Ehrlichkeit-Demut) einen negativen Zusammenhang (negative Evidenz) zu abweichenden Arbeitsverhalten (Diebstahl, Sabotage, Rückzug, …) und positive Evidenz zu ‚Organizational citizenship behaviors‘, OCBS, hat.
Fairness als Führungskompetenz
Fair geführte Unternehmen sind nachweislich langfristig erfolgreicher. Grund genug, sich als Führungskraft mit dem Thema Fairness am Arbeitsplatz auseinanderzusetzen: Warum ist Fairness eine Führungskompetenz? Wie kann ich mich als Führungskraft selbst gegen Unfairness schützen? Wie kann ich meine Fairnesskompetenz einschätzen, ausbauen und nutzen?
- Fairness ist ein Erfolgsfaktor für die Zusammenarbeit von Menschen. Auch im beruflichen Umfeld spielt es eine große Rolle, ob wir - oder auch andere - fair behandelt werden.
- Was den Menschen wichtig ist, kann Führungskräften nicht egal sein. Führungskräfte werden für wahrgenommene Unfairness (mit)verantwortlich gemacht. Sie stehen unter besonderer Beobachtung und sollten zeigen, dass ihnen die Bedeutung dieses Themas bewusst ist.
- Fairness ist das, was die Menschen darunter verstehen. Für Fairness gibt es keine einheitliche Definition. Wir nehmen Fairness am Arbeitsplatz sehr individuell und subjektiv wahr; wir interpretieren Verhalten und Ergebnisse sehr unterschiedlich. Deshalb braucht es gemeinsame Klärungen im Alltag, indem wir darüber sprechen, was wir als fair oder unfair wahrnehmen.
- Fairness lohnt sich, Unfairness kostet. Führungskräfte sollten hier eine vollständige Kalkulation aufstellen, im Sinne einer „Gewinn- und Verlustrechnung“. Auf der „Kostenseite“ sorgt Unfairness für Ärger, Misstrauen, Demotivation, Krankheit, Fehlzeiten, Kündigungen, Imageschäden, Rache und Rechtsstreitigkeiten. Die betriebswirtschaftlichen Kosten sind häufig höher als der Ertrag.
- Fairness fällt nicht vom Himmel. Neben dem Willen zur Fairness braucht es auch Mut. Er entscheidet, ob wir z. B. bei Unfairness aktiv werden; unsere Sozialkompetenzen entscheiden dann darüber, wie fair und wirkungsvoll wir es tun. Als wichtige Kompetenzen sind hier genannt: Empathie, Reflexions- und Kritikfähigkeit, Kommunikations-, Kooperations- und Konfliktkompetenz, zu der insbesondere auch emotionale Stabilität und Selbstbeherrschung gehören.
- Es gibt Orientierungshilfen für faires Führen. Lassen Sie Fairness zu einem bewussten(!) Kriterium für Ihr Verhalten werden und orientieren Sie sich in ihren Entscheidungen auch an der Frage: Was ist in dieser Situation fair - aus der Sicht möglichst vieler Betroffener?
- Als Führungskraft sind wir dafür verantwortlich zu reagieren, wenn wir selbst oder andere unfair behandelt werden. Dazu steht uns ein Repertoire an Verhaltensweisen zur Verfügung: Es gilt zunächst, dem „Opfer“ beizustehen: Empathie zeigen, auf die Person zugehen oder auch Hilfe zusichern. Unfairness sollte darüber hinaus gegenüber den Beteiligten angesprochen werden.
Die negativen Folgen von unfairem Verhalten lassen sich mit einer ehrlichen Entschuldigung deutlich mildern. Opfern von Unfairness tut es gut, wenn sie das Geschehene schriftlich festhalten. Schriftliche Beschwerdemöglichkeiten mindern das Konfliktpotenzial von unfairen Aktionen.
Ethische Aspekte in der digitalisierten Arbeitswelt
Im § 3 (1) Arbeitnehmer:innenschutzgesetz heißt es: „Arbeitgeber haben die zum Schutz … der Integrität und Würde erforderlichen Maßnahmen zu treffen …“ Es geht also nicht nur um Gesundheit, sondern auch um „Arbeit und menschliche Würde“.
Was können Arbeitgeber:innen in einer digitalisierten und automatisierten Arbeitswelt zum Schutz der Würde beitragen? Die Antwort darauf ist mehr denn je eine menschengerechte Gestaltung der Schnittstelle Mensch - Technik - Organisation. Aber reichen bestehende arbeitspsychologische Bewertungskonzepte dazu noch aus? Oder braucht es eine Neubewertung und Ergänzung der Kriterien?
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Gründe, die für eine Neubewertung und Ergänzung der Kriterien sprechen:
- Erstens, die beim Menschen verbleibende Arbeit muss selbstverständlich weiterhin gültige Kriterien erfüllen, die auch mit geeigneten Methoden durch Expertinnen:Experten überprüft werden müssen.
- Zweitens, das Zusammenrücken von Mensch und Technik, die zunehmend engere Interaktion mit der Technik erfordert eine Neubewertung der bestehenden Kriterien unter dem Aspekt der kognitiven Anforderungen: der Auswirkungen auf das Denken, Wissen und Handeln des Menschen.
In der Bearbeitungsreihenfolge des Systementwicklungsprozesses beginnt menschengerechte Arbeits- und Technikgestaltung bei der Arbeitsorganisation bzw. der Prozessbeschreibung. Erst in weiterer Folge werden die Funktionsteilung - Allokation - sowie die Eingriffspunkte von Psychologie und Technik gemeinsam festgelegt.
Was für den Menschen hilfreich ist, was ihm abgenommen werden sollte und was beim Menschen verbleiben sollte, wird aktuell selten mit der Psychologie diskutiert. Das hat etwas mit der Automatisierungsstrategie zu tun, die angewendet wird.
Der Punkt ist: Nur komplementäre Funktionsteilungsstrategien, die „Im Mittelpunkt der Mensch“-Strategien (humanized task approach allocation), gewährleisten, dass das technische System ein Werkzeug des Menschen bleibt und nicht umgekehrt der Mensch zum Werkzeug des technischen Systems wird. Entscheidungskriterium für die Aufgabenverteilung auf Mensch und technisches System ist die Nutzung und Förderung menschlicher Fähigkeiten mit dem Ziel: Menschliche Schwächen sollen ausgeglichen werden, Stärken verstärkt.
Anhand eines Beispiels zur Allokation psychosozialer Arbeit mit einem Pflegeroboter soll das verdeutlicht werden. Dafür stand ein kollaborativer Roboter „Lio“ von „F&P Robotics“ zur Verfügung, den die Studenten:Studentinnen programmieren konnten.
Es zeigt sich, dass man dem Roboter sehr weitgehende und intime Überwachungs- und Kommunikationsaufgaben übergeben möchte, darunter so heikle Aufgaben wie das Überprüfen der Vitalzeichen in der Nacht. Auch die Frage, wer die „einzelnen“ Personen sein sollen, ist an sich schon problematisch.
Ausgehend vom Gesamtauftrag werden in sich geschlossene Teilaufgaben identifiziert. Diese Teilaufgaben werden gemäß der psychologischen Forderung nach vollständigen (ganzheitlichen) Tätigkeiten in die zur Aufgabe gehörigen Tätigkeiten und gleichzeitig nach den Tätigkeitsklassen Vor- und Nachbereiten, Ausführen, Kontrollieren und Organisieren weiter aufgeschlüsselt. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich grundsätzlich von technikzentrierten Strategien und deren Anwendung, z. B. in Form von Use Cases.
Man kann dabei sogar teilweise auf bestehende Strukturen zurückgreifen und sie anpassen. Zum Beispiel: Verpflichtende Ethikkommissionen sind im Bereich der Krankenanstalten durch die bundesgesetzliche Regelung in Österreich vorgeschrieben.
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