Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist eine häufige, chronische neuropsychiatrische Störung mit genetischem Hintergrund, multiplen Komorbiditäten und einem großen Spektrum an individuellen und sozialen Beeinträchtigungen. ADHS betrifft wenigstens 3-6 % aller Schulkinder und bedingt auch im Erwachsenenalter schwerwiegende psychische und soziale Konsequenzen.
Trotz zahlreicher positiver Eigenschaften und meist erfolgreicher medikamentöser Therapie bestehen langfristige, individuelle Auffälligkeiten und Dysfunktionen und bedingen auch im Erwachsenenalter eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität. Ungelöste Probleme sind vor allem transgenerationale soziale Belastungen, schwere Verlaufsformen mit komorbider Störung des Sozialverhaltens, therapeutische Versäumnisse und Non-Compliance sowie die Frage effektiver Prävention.
ADHS: Eine Spektrumstörung
ADHS ist eine Spektrumstörung, d. h. es gibt eine Vielfalt klinischer Ausprägungen, Schweregrade, Komorbiditäten und Verläufe sowie auch eine beträchtliche ätiologische Heterogenität. Strukturell finden sich globale Auffälligkeiten, insbesondere verzögerte Hirnentwicklung mit kortikaler Massenreduktion vor allem im Frontalhirn, weiterhin thalamikale und zerebelläre Strukturdefizite, Vernetzungsprobleme langer Bahnen sowie Mikrostrukturanomalien frontal, temporal und parietal.
Funktionelle Defizite betreffen Aktivierung und Konnektivität in diesen Arealen. Als ursächlich werden genetisch und epigenetisch bedingte Probleme im Katecholamin-Neurotransmitterstoffwechsel gesehen, die eine verminderte dopaminerge inhibitorische Funktion des (rechtsseitigen) präfrontalen, cingulären und temporalen Kortex sowie im Striatum bedingen.
Der präfrontale Kortex ist unter anderem für exekutive (EF) und soziale Funktionen, das Cingulum für Aufmerksamkeits- und Auswahlsteuerung zuständig. Dopaminerge Neurone sind wesentlich für Motivation, Lernen, Aufrechterhalten zielorientierten Verhaltens und beim Kurzzeitgedächtnis, noradrenalinerge Neurone für Aktivierung und Steuerung der Aufmerksamkeit verantwortlich. Zusätzlich wurden strukturelle und funktionelle Defizite im Default-Mode-Netzwerk und im Glutamatsystem beschrieben.
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Genetische und umweltbedingte Faktoren
ADHS wird in hohem Grad (etwa 80 %) polygen vererbt. Es gibt aber auch klare Hinweise für umweltbedingte Risikofaktoren. Prä- und perinatale Faktoren (insbesondere Frühgeburtlichkeit und perinatale Komplikationen) sowie fraglich Luftverschmutzung, Bleiexposition und oxidativer Stress. Veränderungen des Mikrobioms können ebenfalls ein ADHS (mit-)bedingen oder verstärken: Rauchen in der Schwangerschaft z. B. scheint unabhängig vom genetischen Risiko das Risiko für das Auftreten von ADHS und schwereren ADHS-Verlaufsformen dosisabhängig zu erhöhen.
Das fetale Alkoholsyndrom geht mit einem verminderten Wachstum präfrontaler und temporaler Bereiche einher, intrauteriner Sauerstoff- und Eisenmangel, Hyperbilirubinämie, Jodmangel und Hypothyroxinämie bzw. Behandlung mit Thyroxin in der Schwangerschaft beeinträchtigen möglicherweise das dopaminerge System. Temporale und frontale Hirnschäden oder Schäden am Nucleus caudatus oder an frontostriatalen Bahnen können im Rahmen von Apoplexie, Blutungen, Verletzungen oder im Gefolge von Infektionen ebenfalls ein ADHS bedingen.
Auch emotionale Vernachlässigung im frühen Kindesalter stellt ein erhöhtes Risiko für ADHS dar, wobei das bei der untersuchten Population rumänischer Waisenkinder wahrscheinlich erhöhte genetische Risiko nicht unabhängig davon analysiert wurde. ADHS ist durch phänotypische Heterogenität gekennzeichnet, deren genauer genetischer und pathophysiologischer Hintergrund derzeit Gegenstand intensiver Forschung ist.
Modelle zur Erklärung von ADHS
Nach Barkley lassen sich die Kardinalsymptome auf exekutive Inhibitionsdefizite, Probleme des Arbeitsgedächtnisses, der Wahrnehmung, der Selbstregulation, der Internalisierung von Sprache sowie der Verhaltensanalyse und -synthese zurückführen, wobei experimentell eher die Inhibition geplanter Aktivitäten (Stop- oder Go‑/No-go-Aufgaben) beeinträchtigt erscheint. Entscheidend sind vor allem die defizitäre Verhaltensinhibition und Probleme im Arbeitsgedächtnis. Dieses Modell wurde auch wiederholt experimentell bestätigt.
Ein anderes Modell sieht Probleme im Belohnungssystem (Belohnungsaufschub) und damit verbundene Motivationsschwierigkeiten als Primärdefekte, die zahlreiche Folgeprobleme bedingen. Sonuga-Barke et al. haben aus diesen beiden Modellen ein Dual-pathway-Modell entwickelt, das funktionale und motivationale, aber auch umweltbedingte Probleme und Anpassungsvorgänge (z. B. im Rahmen der Eltern-Kind-Interaktion bzw. das Verhalten von Eltern[-teilen] mit [unbehandeltem] ADHS) berücksichtigt. Sonuga-Barke und Halperin versuchten aus diesem Modell heraus auch Präventionsstrategien zu entwickeln.
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Singh erklärt die Vielfältigkeit des ADHS aus der Sicht eines biopsychosozialen Modells. Buben sind in klinischen Stichproben deutlich stärker repräsentiert (etwa 9-10:1), wobei das Prävalenzverhältnis in epidemiologischen Feldstudien 2-3:1 beträgt.
Komorbidität und klinische Vielfalt
Die klinische Vielfalt des ADHS wird neben den Kardinalsymptomen auch beeinflusst durch das Lebensalter (Tab. 1) und Umweltbedingungen. Multiple komorbide, internalisierende und externalisierende Probleme sowie neurokognitive Defizite bestimmen zusätzlich das klinische Bild. Sie sollten sorgfältig abgeklärt und in der Therapie berücksichtigt werden.
Nur ein Drittel der Kinder der 579 Kinder der Multimodal Treatment Study of Children with Attention Deficit Hyperactivity Disorder (MTA [297] hatte keine komorbiden Probleme. Bei den von uns untersuchten 500 Kindern mit ADHS waren dies nur 4 %! Die häufigsten komorbiden Probleme sind dysexekutive (99,6 % im eigenen, klinischen Patientengut, SI 6-16 %), Teilleistungs- (78 % im eigenen Patientengut), Wahrnehmungs- und Sprachentwicklungsstörungen (7 % im eigenen Patientengut), SSV vom oppositionellen Typ (über 50 %), schwere Depression und Angststörungen (je ein Drittel) sowie Tics (11-20 %).
Eine rezente Arbeit zeigt eine Verbindung zwischen ADHS, emotionalem oder sexuellen Trauma und der Entwicklung von Borderline-Persönlichkeitsstörung. Einzelne Patientengruppen haben deutlich höhere ADHS-Prävalenzen: zum Beispiel sind ADHS und Intelligenz negativ korrelliert, Patienten mit chronischen Ticstörungen (55 % der Kinder mit chronischen Ticstörungen haben eine komorbide ADHS-Diagnose, 20 % der ADHS-Kinder entwickeln eine chronische Ticstörung), depressive Episoden (70 %) und Patienten aus dem Autismusspektrum (etwa 36-50 %).
ADHS ist ein Risikofaktor für Unfälle und Verletzungen, Substanzabusus und Medienabhängigkeit. Auch Essstörungen, Adipositas und Diabetes Typ 2 sind bei ADHS-Patienten häufiger.
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Prognose und Komorbidität
Das Herauswachsen aus dem ADHS, Symptomverlust oder Nachreifung wird in der Literatur unterschiedlich behandelt. In 50-60 % persistieren wichtige Symptome, wobei sich die Hyperaktivität bei den meisten Kindern in der Pubertät verringert. Inwieweit die Verbesserung eher Resilienzfaktoren, einer Nachreifung neuronaler Strukturen oder einem Therapieerfolg zugeschrieben werden kann, ist im Wesentlichen unklar.
Die Kombination aus ADHS und SSV ist sowohl für die Lebensqualität als auch für die Prognose bedeutsam. Die amerikanische Literatur und neuerdings auch die ICD-11 unterscheiden zwischen ODD („oppositional defiant disorder“, oppositionelles Trotzverhalten) mit einer Komorbiditätsrate von 30 bis 50 % und CD („conduct disorder“, dissoziale Verhaltensstörung) mit einer Komorbiditätsrate von etwa 3 %. Das Komorbiditätsrisiko ist für beide Formen höher bei der hyperaktiv-impulsiven (und kombinierten) Variante des ADHS, während die aufmerksamkeitsgestörte Form eher mit Intelligenzdefiziten einhergeht.
Sowohl der Schweregrad des ADHS als auch komorbide SSV sind abhängig von psychosozialen Faktoren (z. B. elterlicher Erziehungsstil, persönliche Erfahrungen im sozialen Netzwerk). Soziales Problemverhalten und Depression prädestinieren insbesondere unbehandelt für schwere Verlaufsformen, schulisches, berufliches und soziales Versagen, Außenseitertum, Risikoverhalten, Delinquenz und Drogenabhängigkeit.
Die therapeutischen Optionen sind limitiert durch schlechteres Ansprechen auf Medikation, auch pharmakologische Incompliance und vermehrt auftretende unerwünschte Nebenwirkungen insbesondere der antiimpulsiven Neuroleptika (z. B. Gewichtszunahme, Müdigkeit).
Ergotherapie bei ADHS
Dysexekutive Probleme, d. h. Probleme der Inhibition, des Arbeitsgedächtnisses, der Aufmerksamkeitssteuerung und im Planen und Abwägen von Entscheidungsoptionen, sensorische Integrationsstörungen (Über- oder Unterempfindlichkeit bzw. Modulationsprobleme für sensorischen Input [Sehen, Hören, Gleichgewichts-, taktile und Tiefensensibilität]) sowie Teilleistungsstörungen (Probleme der Raum-Lage-Koordination, der Serialität, Lese-Rechtschreibschwäche usw.) bestimmen neben den ADHS Kardinalsymptomen und den Verhaltensproblemen den schulischen und sozialen (Miss‑)Erfolg.
Sensorische Integrationsstörungen (Sensory Processing Disorder, SI/SPD) werden vor allem im Kleinkind- und Grundschulalter bei 6-20 % der Kinder beobachtet. Sie sind die spezifische Domäne der ergotherapeutischen Diagnostik und Therapie. Die Reaktion auf sensorische Empfindungen ist bei verschiedenen Menschen unterschiedlich in Abhängigkeit von der Art, der Intensität, der affektiven Reaktion und der ...
Mit der Einschulung spitzt sich oft die Situation zu: Ohnehin hyperaktive oder impulsive Kinder können sich nicht in den Ablauf des Unterrichts integrieren. Sie träumen vor sich hin oder stören. Sie haben auch Schwierigkeiten, sich über eine längere Zeit zu konzentrieren und still zu sitzen.
Bei Eltern und auch Lehrern drängt sich meist schon im ersten Schuljahr die Vermutung auf, dass die zappeligen, unausgeglichenen Kinder unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden könnten. Bei einem Drittel - so die Erfahrung der ADHS-Spezialisten der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums - bestätigt sich dieser Verdacht.
Dysexekutive Probleme wurden in den letzten Jahren intensiv mittels bildgebender Verfahren erforscht. Klinisch scheint dem ADHS- auch ein EF-Spektrum zu entsprechen. Die einzelnen ADHS-Untertypen weisen auch unterschiedliche EF-Defizite auf: der impulsive (und kombinierte) Typ zeigt eher Inhibitionsdefizite, die aufmerksamkeitsgestörte Form eher Probleme des Arbeitsgedächtnisses.
Diagnostisch werden „coole“, frontoparietal gelegene Netzwerke, die für Planen, Arbeitsgedächtnis und Inhibition zuständig sind, von „heißen“, frontolimbischen Netzwerken, mit stärkerer affektiver Komponente (Belohnung, Motivation) unterschieden. Dabei werden ADHS-Defizite eher den „coolen“ EF zugeschrieben. Therapieoptionen sind neben Ergotherapie zum Teil kostenintensive Onlineprogramme (z. B. Cogmed), die vor allem für Schädeltraumapatientinnen und -patienten entwickelt wurden, und kognitive Verhaltenstherapie.
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