Depression ist weltweit zu einem der großen Gesundheitsprobleme geworden. Weltweit leiden nach aktuellen Schätzungen rund 322 Mio. Menschen, das sind 4,4 % der Bevölkerung, an Depressionserkrankungen. 8 % der österreichischen Bevölkerung (rund 550.000 Personen) haben eine ärztlich diagnostizierte Depression oder geben von selbst an, depressiv zu sein. Schätzungen zufolge verursachen Depressionen mit 92 Mio. € rund ein Drittel aller Gesamtkosten psychischer Erkrankungen. Depressionserkrankungen sind damit die teuerste psychische und neurologische Erkrankung in Europa (Bundesministerium für Arbeit, Soziales, GesundheitundKonsumentenschutz 2019, S. 33).
Bevor ich mich dem zuwende, möchte ich Sie als Leserin oder Leser einladen, mit mir die Frage zu betrachten, was als Gesellschaft unser Beitrag zu dieser Epidemie Depression ist, mit der wir in industrialisierten Hochkulturen heute konfrontiert sind. In diesem Paper wird das Thema durch die Brille der Psychoanalyse angeschaut werden, und diese hat eine lange Forschungstradition im Bereich Depression.
Die Hauptfrage, die ich in diesem Paper behandeln möchte, ist diese: Spielen generationsübergreifend weitergegebene Traumata in Bezug auf depressive Verfassungen eine Rolle, und falls dem so ist, was sind dann die kollektiven Auswirkungen davon? Warum ist es für das Feld der Psychoanalyse von Bedeutung, sich damit auseinanderzusetzen? Warum ausgerechnet jetzt?
Der Zustand der „Massenamnesie“ in dem wir, als Gesellschaft, uns befinden, neigt zur schmerzlichen Wiederholung vergangener Traumata, und auch zum Leugnen historischer Fakten, solange, bis Anerkennung, Zeugnis-Ablegen und Trauer erfolgt sind.
Maria Yellow Horse Brave Heart definiert geschichtliches Trauma als „kumulative emotionale und psychologische Verletzung über die Lebensspanne einer Generation und darüber hinaus, ausgehend von einem starken Gruppentrauma“.
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Trotzdem sich dieser Text natürlich, wie schon an seinem Titel erkennbar, mit psychoanalytischen Theorien auseinandersetzt, muss doch auch erwähnt werden, dass sich andere therapeutische Schulen ebenso mit dem Thema beschäftigt haben. Insbesondere systemische Zugänge haben das Gebiet der transgenerational weitergegebenen Traumata betrachtet, wie zum Beispiel Lempa (2000), ein systemischer Therapeut, der postuliert hat, Trauma habe einen „infektiösen Charakter, es wirkt wie ein ‚chronisches Gift‘ (Lempa 2000), innerhalb von familiären Beziehungen und über Generationen hinweg“.
Man könnte meinen, dass Depression heute die häufigste falsch verwendete Diagnose der Psychologie und Psychiatrie darstellt. Als praktizierende Therapeutin, die täglich mit PatientInnen arbeitet, begegne ich ständig Menschen, die mit „Depression“ diagnostiziert worden sind. Der Begriff ist so weitverbreitet, verwendet und missbraucht, dass er ganz alltäglich wirkt. Er ist Teil unseres Alltagswortschatzes, beinahe ein Routinewort, etwas Normales.
Psychoanalytische Perspektiven auf Depression
Dieses Paper behandelt die mögliche Interrelation von Depression mit generationsübergreifend weitergegebenen Traumata aus der Sicht der Psychoanalyse. Die Autorin unternimmt den Versuch, Trauern und Melancholie voneinander abzugrenzen soweit es das aktuelle Verständnis von Depression betrifft. Das Phänomen der verschiedenen depressiven States auf einem individuellem Level wird untersucht, so wie Freud und nachfolgende PsychoanalytikerInnen es vorgeschlagen haben, einschließlich produktiver und unproduktiver Depression (Gut).
Bei der depressiven Position besteht eine Beziehung zu einem integrierten Elternbild, das sowohl geliebt als auch gehasst wird. Das Individuum erkennt seine destruktiven Wünsche gegenüber dem Objekt. Das bringt eine gewisse charakteristische Traurigkeit mit sich, doch dem entspricht auch ein stärker integriertes Ich (Fonagy 2001).
Freud verwendet in seinen Schriften den Begriff der „Melancholie“. Bereits im Jahr 1917 unterscheidet er zwischen Melancholie und Trauer, wobei letztere die Reaktion auf den Verlust eines Objektes außerhalb des Patienten und dem Bewusstsein zugänglich ist. Trauer bedarf keiner Behandlung, da sie keine Pathologie darstellt. Eine weitere wichtige Unterscheidung liegt darin, dass es bei Trauer keine Störung der Selbstachtung gibt (Freud 1917, S. 244). Sobald die Trauerarbeit abgeschlossen ist, ist das Ego wieder frei und unbefangen („ego is free and uninhibited again“ (ibid., S. 245)).
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Bei Trauer wird die Welt leer und armselig, bei Melancholie hingegen das Ego (ibid., S. 246). Die Selbstvorwürfe und der Wunsch nach Selbstbestrafung bei der Melancholie sind so markant, dass keine Energie mehr für die Außenwelt bleibt. Es handelt sich um ein schwarzes Loch in der Psyche, das die libidinöse Energie aufsaugt.
Dieses Paper von Freud deutet zwei bedeutende Entwicklungen in der Theorie der Psychoanalyse an, nämlich den Todestrieb und die Objekttheorie, und dies sagt aus, dass die Psyche nichts Homogenes ist sondern aus internalisierten Objekten besteht die Echos, Schatten, Karikaturen oder Übertreibungen wichtiger Menschen aus früher Kindheit und Kleinkindalter des Betroffenen sind. Freud postuliert, dass Selbstvorwürfe vormals Vorwürfe an geliebte Menschen waren, die später durch Internalisierung ins Ego verwandelt worden sind. Er legt hier seine Ansicht dar, dass Melancholie gegen sich selbst gerichteter Sadismus und Hass in Aktion sind. Das macht es offensichtlich, dass der Sekundärgewinn der Erkrankung darin liegen könnte, die Nahestehenden mit der Krankheit zu quälen.
Es scheint nun, dass das, was zu Zeiten Freuds Melancholie war, heute Depression heißt, was zu einem weiteren Diskurs innerhalb der Theorie der Psychoanalyse einlädt.
Das sehr erhellende Paper von Emmy Gut (1985) schlägt vor, sich mit der „Depressionsarbeit“ zu befassen, das heißt mit den defensiven Funktionen der Depression und der „normalen Reaktion von Depression“. Emmy Gut (1985) schreibt, dass depressive Reaktion ein adaptiver Affekt ist, der einer speziellen Abwehrfunktion dient. Die verschiedenen depressiven Reaktionen, das Signal, das sie vermitteln, und die vielen unbewussten kognitiven Anstrengungen, die sie mobilisieren, können wir als „Depressionsarbeit“ bezeichnen.
Küchehoff (2017) betont, dass „das depressive Erleben mit der Angst vor dem Beziehungsverlust“ (S. 25) verbunden ist. Böker (2017) nennt als psychodynamische Konstellation des depressiven Grundkonflikts die emotionale Unerträglichkeit einer Beziehungserfahrung von Verlassenwerden und aus Objektbedürftigkeit und Objektenttäuschung, einschließlich der Bemühungen, das Objekt zurückzugewinnen und/oder das zu vermeiden, was die Beziehung gefährden könnte bzw.
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Man könnte vermuten, dass die Erfahrung des Verlassen-Seins traumatisierend ist und viel psychologischen Stress erzeugen kann, was, unter anderem, in Depression resultieren kann.
Generationenübergreifende Traumata
Zum Verständnis generationsübergreifend weitergegebener Traumata wird eine kurze Analyse der diesbezüglichen Schriften, besonders den Holocaust betreffend, vorgestellt. Die Autorin bespricht die Auswirkungen und Mechanismen von generationenübergreifend weitergegebenen Traumata, wie sie in den einflussreichen Schriften von Laub, Salberg, Bromberg, Faimberg und anderen behandelt werden.
Wir lernen durch den Holocaust viel über generationsübergreifend weitergegebene Traumata. Überlebende massiver historischer Traumata sind durch das Chronische ihres Zustandes in ihren Fähigkeiten Symbole zu verwenden, frei zu assoziieren, zu reflektieren und verbalisieren massiv beschädigt (Salberg und Grand 2017, S. 19). Dieses Thema verursacht sogar einen „Generationenwechsel“ in der Psychoanalyse, die Forderung an das analytische Paar, über eine Generation hinauszugehen.
Eine andere signifikante Erweiterung betrifft die Reaktion auf markante oder überwältigende Ereignisse, so ist Reis (2005) darum bemüht, das analytische Verständnis der Geschichte einer Patientin/eines Patienten um Kultur und kulturell bedeutsame Ereignisse zu erweitern. Derselben Logik folgt Vaughans (2015) „kulturelle Interjektion“, bei der fremde Anschauungen, Motive etc.
Der Fall von Frau T. ist lediglich ein Beispiel für das reichhaltige Material, mit dem PsychoanalytikerInnen täglich konfrontiert sind. Frau T. sucht psychotherapeutische Hilfe wegen ihrer wiederkehrenden depressiven Symptome: Selbstzweifel, sexuelle Empfindungslosigkeit, Erschöpfungssyndrom, Apathie, Gefühle von Schuld und Inadäquatheit, Selbstentwertung, Affekthemmung, Hemmung der Denkprozesse, Mattheit und schließlich Schlafstörungen, bei denen eine bestimmte Art von Albtraum ihre Träume dominiert. Sie berichtet oft davon, vom Krieg zu träumen, davon, in Gefahr zu sein, Soldaten zu sehen, Panzer, von der Dringlichkeit zu fliehen und sich zu verstecken. Frau T. ist in ihren 20ern, also warum würde ein Mensch, der beinah 50 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren worden ist, solche Träume haben?
Dies ist nur ein Beispielfall, in dem wir, um die depressiven Symptome der Patientin zu verstehen, über die Fragen nach einer symbiotischen Dyade mit der Mutter, einer ödipalen Situation mit dem Vater oder einer möglichen lateralen Konkurrenz zu einem Bruder oder einer Schwester hinausgehen müssen. Wir müssen alles mit dem Fernrohr über die Generationen hinweg betrachten („to telescope of generations“) wie Faimberg (2005) es so treffend formuliert. Und hierbei sollten wir gezielt auf das Thema Trauma fokussieren.
Die Geschichte der Menschheit könnte als Geschichte einander traumatisierender Gruppierungen neu geschrieben werden. Neben den beiden Weltkriegen überschatten unsere Geschichte auch militärische, ethnische und religiöse Konflikte und Grausamkeiten von mehr lokalem Charakter - wobei sich in Zeiten der Globalisierung die Frage stellt, was „lokal“ heute bedeutet. Um nur einige zu nennen: der Genozid an den Armeniern, die Pogrome in Osteuropa, der Holodomor (das planmäßige Töten durch Entzug sämtlicher Nahrungsreserven der Bevölkerung unter Stalin in den Jahren 1932-1933) in der Ukraine, die ein Jahrtausend währenden Periode des araboislamischen Sklavenhandels in Afrika, die Gräuel von Srebrenica, und viele andere.
Auswirkungen und Mechanismen
Wie funktioniert generationsübergreifend weitergegebenes Trauma? Eine relationale Sichtweise legt nahe: Kinder beobachten ständig die Gesten und Affekte ihrer Eltern und absorbieren das Bewusste und das Unbewusste ihrer Eltern. In einem Artikel (2006) schreibt Harris, dass dort, wo Trauer nicht hat stattfinden können, geisterhafte Phänomene auftreten.
Faimberg (2005) untersucht eine Geschichte von Identifikationen, die sie als „mit dem Fernrohr durch die Generationen schauen“ bezeichnet. Wardi (1992) hat das Phänomen der „Gedenkkerzen“ entdeckt und beschrieben, das mit der Namensgebung bei Kindern von ermordeten Verwandten zu tun hat.
Aus psychoanalytischer Sicht kann der Holocaust (wie jede historische traumatisierende Gräueltat) als eine externe Realität verstanden werden, die in ihrer extremen Gewalt so unwirklich ist, dass es für einen Menschen, der einer solchen Realität ausgesetzt ist, schwer wird, zu unterscheiden, ob er eine schreckliche Fantasie durchlebt oder eine tatsächliche Realität (Bodenstab 2017, S. 42).
Die Wunde, die Leere, der ewige Schmerz, das Gefühl von Leere, das so oft von depressiven Patientinnen/Patienten beschrieben wird, ähnelt „lacunae“, einem von Giorgio Agamben geprägten Begriff, der im Mittelpunkt der Holocausterfahrung steht (Laub in Salberg und Grand 2017, S. 31). Dori Laub kommentiert die Psychodynamik von generationsübergreifend weitergegebenem Trauma folgendermaßen: „Ich, der ich zum Aufbewahrungsort der Gefühle von Entsetzen geworden war, die meine Mutter ablehnen konnte, um weiterhin handlungsfähig (zum Überleben) zu sein“ …, er beschreibt „ein von Angst überflutetes Innenleben“ (Salberg und Grand 2017, S. 32).
Laub hat den eindringlichen Begriff „leerer Kreis“ geprägt (1998, S. 83), was „die Abwesenheit von Repräsentation, die Auslöschung von Erinnerung, das Gefühl der Leere, die das Kernvermächtnis eines massiven psychischen Traumas sind“ bedeutet.
Was passiert mit einem Kind, das einen Elternteil als abwesend, depressiv, unzulänglich erlebt? André Green (1972) beschreibt dieses Phänomen als das der „toten Mutter“, die für das Kind schrecklich ist - und gleichzeitig ist eine solche Mutter unvermeidlich das Objekt der Identifikation.
Bion formuliert so treffend zum Thema Traumaarbeit: „Es braucht zwei Köpfe (minds) um die allerverstörendsten Gedanken zu denken“ (Ogden 2008, S. 20), und in der therapeutischen Beziehung sind das PatientIn und TherapeutIn. Allerdings suchen oder erhalten bei weitem nicht alle Überlebenden eines Traumas psychotherapeutische Unterstützung. In diesem Fall hätte Bions Gedanke ein anderes Anwendungsfeld - genau, die Familie. Sein Satz könnte diesfalls so weitergehen: … den Kopf einer/s Überlebenden und den ihres/seines Kindes, oder vielleicht sogar Enkels.
Zu Trauma existiert auch im medizinischen Bereich Forschung, so lassen sich im Feld der Epigenetik unterstützende Argumente für das oben Aufgeführte finden. Das Thema ist für eine Darstellung hier allerdings zu komplex, um im Detail beleuchtet werden zu können. An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass einiges dafür spricht, dass stressige, traumatische Erfahrungen in der Kindheit tatsächlich die Art, wie ein Gen sich auswirkt, verändern, so Dietz et al. (2011); Malan-Muller et al. (2014); Skelton et al. (2012); van der Knapp et al. Yehuda et al.
Unter Berücksichtigung all dessen können wir mit ziemlich großer Sicherheit feststellen, dass generationsübergreifend weitergegebene Traumata tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung eines depressiven Geisteszustandes haben.
Anders betrachtet: jeder von uns ist Mitglied einer Gruppenmatrix, und diese Gruppe kann auch durch Traumata früherer Generationen beeinträchtigt sein. Nun, da wir über Depression und ihre Verbindungen mit generationsübergreifend weitergegebenem Trauma auf individueller Ebene nachgedacht haben, soll noch das Problem auf gesellschaftlicher Ebene angesprochen werden. Zu diesem Thema fordert das Buch des britischen Psychoanalytikers Christopher Bollas (2018) „Bedeutung und Melancholie: Leben im Zeitalter der Verwirrung“ zum Nachdenken heraus und inspiriert.
Es könnte angenommen werden, dass jeder von uns zur traumatisierten Gruppe gehört, die ein Echo von Schuld, Scham oder Verleugnung in sich hat. Wir alle tragen unbenannte und unverdaute Teile von „kulturellen und historischen Introjekten“, die depressive Gemütszustände füttern könnten. Psychologische Diagnostik ist ein Produkt des Zeitgeistes, ebenso wie Depression.
Bollas argumentiert, dass „gerade so wie ein einzelner Mensch nicht weiß, dass er...
Kosten von Depression in Europa
| Kostenfaktor | Betrag (Millionen €) |
|---|---|
| Gesamtkosten psychischer Erkrankungen | ca. 276 |
| Kosten verursacht durch Depressionen | 92 |
| Anteil der Depressionskosten an Gesamtkosten | ca. 1/3 |
In Bezug auf Gruppenlevel wird Depression als Konsequenz von Verlusten und Traumatisierung besprochen denen jeder von uns als Teil der Gesellschaft ausgesetzt ist. Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.