Sigmund Freud und die Religion: Eine kritische Auseinandersetzung

Religion und Wissenschaft gelten oft als konträre Gebiete: Wahrheitssuche auf der einen Seite, Glaube auf der anderen. Dabei müssen sich die beiden nicht unbedingt ausschließen, sondern können bei der Suche nach Erkenntnis einander durchaus Anregungen liefern. Im Bereich der Psychologie und insbesondere beim Blick auf die psychische Gesundheit ist die Zusammenschau der Sichtweisen von Religion und Wissenschaft besonders ergiebig.

Den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Glaube betonte auch der Psychoanalytiker H. Shmuel Erlich, Professor emeritus des Sigmund-Freud-Lehrstuhls der Hebräischen Universität Jerusalem. Er beleuchtete in seiner Keynote Lecture das Verhältnis von Religion und Psychoanalyse. Deren Gemeinsamkeit bestünde in dem „tiefen Interesse für das menschliche Befinden, seinen Geist, sein Gemüt und sein Wohlbefinden“.

Trotzdem, so Erlich, werfe die Begegnung der beiden Gebiete mehr Fragen auf, als sie Antworten böte. Erlich machte dies am Beispiel Sigmund Freuds deutlich, indem er die vielfältige, lebenslange Auseinandersetzung des Begründers der Psychoanalyse mit dem Problem der Religion darstellte: von frühen Versuchen bis zu den Spätschriften, in denen Religion als Illusion entlarvt und als eine Sichtweise verstanden wird, die überwunden werden soll.

Freuds Religionsverständnis

Freuds negativer Befund in Sachen Religion ist allerdings heute, auch das machte Erlich deutlich, nicht mehr Konsens in der Psychoanalyse. Längst werden Phänomene wie das von Freud kritisierte „ozeanische“ Gefühl (Romain Rolland) oder das „Urvertrauen“ (Erik Erikson) berücksichtigt. Denn für die psychische Gesundheit des Menschen sei es unerlässlich, so Erlich, sich als Teil eines größeren Ganzen zu erleben und in dieses einzuordnen zu können. So unterschiedlich die Sichtweisen von Religion und Psychoanalyse sein mögen, in diesem Punkt berühren sie einander wieder.

Für den Vater der Psychoanalyse ist Religion nicht ein Produkt von Erfahrung oder Resultat eines Denkprozesses. Sigmund Freud entwickelt seinen Atheismus im Rahmen seiner psychoanalytischen Geschichtstheorie. Deren philosophischer Hintergrund ist das Drei-Stadien-Gesetz von Auguste Comte. Nach Comte entfaltet sich die menschliche Kulturgeschichte in drei Entwicklungsschritten: Am Anfang steht das theologisch-fiktive, danach das philosophisch-abstrakte und am Ende das positiv-reale Stadium.

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Sigmund Freud bestimmte den Menschen so, dass sein Wesen in der Triebbefriedigung besteht. Der Mensch strebt nach einem Maximum an Lustgewinn. Das friedliche Zusammenleben mit anderen Menschen erfordert laut Freud nun vom Bewusstsein eine mühsame Aufgabe: Das Ich muss die eigenen biologischen Triebansprüche und Bedürfnisse mit den sozialen Forderungen und moralischen Normen der Außenwelt in Balance bringen.

Die Zukunft einer Illusion

Die Zukunft einer Illusion (1927) ist das wichtigste kulturanalytische Werk von Sigmund Freud. Es ist sein Hauptwerk über die Religion und Religionskritik. In zehn Kapitel stellt er die Aspekte der Kulturabhängigkeit dar, die gleichzeitig für das Zusammenleben der Menschen verantwortlich, aber auch mit schädlichen Triebverzichten verbunden ist. Ausgangspunkt für die Religion ist die Erkenntnis der menschlichen Hilflosigkeit und die Sehnsucht nach einem schützenden Vater.

Das Unbehagen in der Kultur

Das 1930 erschienene Werk von Sigmund Freud, Das Unbehagen mit der Kultur, zählt zu den bedeutendsten kulturanalytischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Das Zentralthema des Buches ist der Gegensatz zwischen den Triebforderungen und den von der Gesellschaft auferlegten Einschränkungen. Ziel der Kultur ist die Bildung größerer Gemeinschaften von Menschen, wogegen sie durch sexuelle und aggressive Triebe eingeschränkt wird. Ein Teil der Aggression wird in Schuldgefühle umgewandelt, wodurch die Kultur wieder ständig Leiden erzeugt. Dieses Leiden ist der Grund für ein wachsendes Unbehagen mit der Kultur. Das Schuldgefühl ist für Freud überhaupt das größte Problem der Kulturentwicklung, weil daraus der Destruktionstrieb entsteht.

Totem und Tabu

Vier Aufsätze, die 1912 und 1913 entstanden sind, fasst Freud in dem Buch Totem und Tabu zusammen. Er befasst sich darin mit Fragen der Sozialanthropologie im Zusammenhang mit der Psychoanalyse und stellt fest, dass primitive Gesellschaften mit der psychischen Entwicklung des Kindes gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Das wichtigste Verbot im Totemismus, das Inzestverbot, wird in Verbindung mit dem Seelenleben des Neurotikers gebracht. Die Haupttabus der primitiven Gesellschaften sind das Mordverbot und das Inzestverbot, welche die Grundlage der Tabus sind. Ein weiteres Thema ist der Animismus, der für Freud die Basis für der religiösen Weltanschauung darstellt.

Freuds Auseinandersetzung mit dem Judentum

Im Vorwort, welches Sigmund Freud 1930 - 74-jährig - für die hebräische Übersetzung seines Werkes „Totem und Tabu“ schrieb, fasste er seine Gefühle so zusammen: „Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion - wie jeder anderen - völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht.“

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Freud fährt dann jedoch mit einer Feststellung fort, die viele, vor allem auch Psychoanalytiker, auf der Suche nach einer Definition für jüdische Identität bis heute sehr beschäftigt: „Fragt man ihn: ,Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?‘, so würde er antworten: ,Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.‘ Aber dieses Wesentliche könne er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein.“

Tatsächlich stammte Freud - väterlicherseits - aus einer sehr orthodoxen jüdischen Familie Galiziens. Sein Vater Jakob gab wohl schon die Orthodoxie auf und wurde zu einem Anhänger der Haskala. Diese Bewegung war jedoch keine agnostische oder gar atheistische, assimilatorische, sondern lehnte vielmehr lediglich religiösen Fanatismus, chassidischen Aberglauben und kulturelle Hermetik ab, nicht jedoch das Judentum an sich.

Kritik an Freuds Religionsverständnis

Sigmund Freud hat also eine Bedürfnis-Religion vor Augen. Derzufolge haben die einen Sehnsucht nach einem höheren Wesen, das ihnen die Welträtsel erklärt, das Schutz gibt, Sinn verleiht und für ausgleichende Gerechtigkeit bürgt. Aber die reifen Persönlichkeiten brauchen nach Freuds Überlegungen das nicht mehr und haben gelernt, sich mit den Frustrationen des Lebens realistisch auszusöhnen.

Bei der Aufklärung von pathologischen Formen des Religiösen leistet Sigmund Freud als Religionskritiker dennoch einen unverzichtbaren Dienst. Religion kann nach seinen Thesen infantile Illusion, Ausdruck einer Neurose und psychischen Unreife sein. Freud ging es darum, dass die Wahrheit des Menschen ans Licht kommt. Sein Wesen muss aus dem Realitätsbezug verstanden werden.

"Der Mann Moses und die monotheistische Religion"

"Der Mann Moses und die monotheistische Religion" ist Sigmund Freuds letzte, aus drei Abhandlungen zusammengesetzte Schrift, die in seinem Todesjahr 1939 in Amsterdam erschienen ist. Der erste Entwurf zu dem Text stammt aus dem Jahr 1934: Sigmund Freud konzipiert unter dem Titel "Der Mann Moses“ einen historischen Roman.

Sigmund Freud suchte in seinen Reflexionen zum Judentum nach einer Antwort auf die Frage, wie der Jude geworden sei, und "warum er sich diesen unsterblichen Hass zugezogen“ habe, wie er in einem Brief an Arnold Zweig vom 30. September 1934 ausführte. Aus seinem "Moses“-Text lässt sich allerdings schließen, dass er mit dem "Fortschritt in der Geistigkeit“, worin Freud einen Kernpunkt der kulturellen Errungenschaft durch das Judentum sieht, zusammen hängt.

Für seine Theorie, die in einem Brief aus dem Jahr 1935 an Lou Andreas Salomé enthalten sind, entwickelte Freud eine historische Konstruktion: Moses war ein Ägypter hoher Abkunft zur Zeit des Ketzerkönigs Echnathon. Dieser hat dem ägyptischen Mehrgottglauben abgeschworen und hing für kurze Zeit einer monotheistischen Religion an. Moses beschloss daraufhin, "sich ein neues Volk zu schaffen, das er in der großartigen Religion seines Meisters erziehen wollte“. Dies war der semitische Stamm, der noch in Ägypten verweilte. Moses führte die Israeliten in die Freiheit und erschuf mit dem "Geschenk der neuen Religion“ den Juden.

Das Interesse an Sigmund Freuds Studie über "Moses und die monotheistische Religion" ist erst seit den 1990er Jahren gewachsen.

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