Sigmund Freud und die Frage des freien Willens im Zeitalter der Hirnforschung

Die Frage nach dem freien Willen des Menschen ist ein Thema, das Philosophen, Theologen und Psychologen seit jeher intensiv beschäftigt. Kaum ein anderes weltanschauliches Konzept wird von ihnen so kontrovers diskutiert wie die Fähigkeit des Menschen zur freien Willensentscheidung. Eine Frage, deren Beantwortung keinesfalls nur von theoretischem Interesse, vielmehr für Ethiker sowie Juristen von tatsächlich praktischer Relevanz und aktueller Bedeutung ist.

Folgt man Sigmund Freud, an dessen 75. Todestag derzeit erinnert wird, wurde die Menschheit immer wieder mit narzisstischen Kränkungen konfrontiert: Da war zunächst Kopernikus, der feststellte, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist. Dann kam Darwin, der die evolutionäre Herkunft des Menschen aus dem Tierreich beschrieb. Und schließlich Freud selbst, dessen Menschenbild darauf hinausläuft, dass das Ich, gebeutelt vom Triebleben und den Prozessen des Unbewussten, "nicht Herr sei in seinem eigenen Haus."

Die Menschheit, so scheint es, hat die Erschütterungen ihres Selbstverständnisses ganz gut weggesteckt. Heute aber steht eine vierte Kränkung im Raum, und die rüttelt wieder einmal kräftig an einem Fundament des Mensch-Seins - zumindest wenn man sich die verwegenen Aussagen einiger Hirnforscher seit den "Dekaden des Gehirns" diesseits und jenseits des Atlantiks zu Herzen nimmt. Von einem "synaptischen Selbst" sprach etwa der amerikanische Neurowissenschaftler Joseph LeDoux, und das sollte schlicht bedeuten: "Wir sind unsere Synapsen". Oder zum Beispiel Wolf Singer, früher Direktor am Max Planck Institut für Hirnforschung in Frankfurt: "Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden."

Das Selbstbild des "homo sapiens" erscheint somit wieder einmal bedroht: Verflüchtigt sich der freie Wille im Feuern der Nervenzellen, das jeder bewussten Entscheidung vorangeht? Ist der Mensch (nicht mehr als) sein Gehirn, die Summe seiner Verschaltungen? Kann unser geistiges Erleben und das, was unsere Persönlichkeit im Innersten ausmacht, auf biologische Vorgänge reduziert werden? Diese heiß diskutierten Fragen erinnern an den Materialismus-Streit im 19. Jahrhundert: Bereits damals erklärte der Naturforscher Carl Vogt, dass die Gedanken im selben Verhältnis zum Gehirn stehen, "wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren".

Die Debatte um die Willensfreiheit

Die Debatte um die Willensfreiheit und die Natur des Geistes erfolgt heute jedenfalls wieder mit einer Vehemenz, wie man sie im wissenschaftlichen Diskurs sonst kaum kennt. Dass manche Meldungen dabei fast schon ausfällig wurden, verrät, was hier am Spiel steht: nicht nur unser freier Wille, sondern überhaupt unser personales Wesen, die "Seele", kurzum die bedeutungsschweren Schichten unserer Existenz und Kultur.

Lesen Sie auch: Verdrängung nach Freud

Gegen den neuen biologischen Fundamentalismus verwehrt sich etwa Peter Strasser, Professor für Philosophie und Rechtsphilosophie an der Universität Graz, der nun mit seinem jüngsten Buch eine Streitschrift gegen die "Zerebrokratie", die "Diktatur des Gehirns" verfasst hat. Und seine weit schweifende Kritik gleich mit einer gehörigen Portion Kulturpessimismus verbindet: Denn der Autor entlarvt nicht nur die Ausgeburten jener Tendenz, die heute als neurowissenschaftlicher Reduktionismus gekennzeichnet wird, sondern diagnostiziert generell eine "Selbstabtötung des Geistes", den "Niedergang durch Intelligenzoptimierung" sowie die Anzeichen einer um sich greifenden "Verblödung".

In der EU und in den USA werden derzeit Milliarden-schwere Forschungsprojekte verfolgt, um durch Computer-Simulationen ein neues Verständnis des Gehirns zu entwickeln. Für Strasser liegt diesen ambitionierten Projektbeschreibungen eine Horrorvision zugrunde, in der das Subjekt der abendländischen Geistesgeschichte auf verlorenem Posten zu stehen kommt: "Keine Zerebrokratie ohne Cyberstaat. Mensch und Maschine sollen zu einer Chimäre verschmelzen (...). Der Zerebralfundamentalismus hätte sein ideales Modell in der Geistlosigkeit des Superhirns." Das digitale Superhirn und das ihm möglicherweise zugeschriebene Cyberbewusstsein wären dann am anderen Ende dessen, was Strassers Appell mit "Vergeistigung" meint: ohne Anschauungsvermögen, ohne die Möglichkeiten des Bedeutungsverstehens, somit ein Weltzugang, "welcher, in naturwissenschaftliche Begriffe übersetzt, aus der Welt verschwindet."

Kampf der Weltanschauungen

Gewissermaßen von der anderen Seite kommt ein weiteres Buch zur Hirnforschung, das dieser Tage erschienen ist - und mit dem Titel "Wie das Gehirn die Seele macht" Öl ins Feuer der lodernden Weltanschauungskämpfe zu gießen scheint. Das neue Werk des deutschen Hirnforschers Gerhard Roth (mit Nicole Strüber) entpuppt sich jedoch vor allem als differenzierte und gut lesbare Einführung zum weitaus komplexesten menschlichen Organ: Die Kommunikation der Nervenzellen, die Entwicklung des Gehirns, die neurobiologischen Grundlagen der Persönlichkeit, die Erscheinungsformen des Unbewussten, psychische Erkrankungen sowie die Wirkungsweise von Psychotherapie aus Sicht der Neurowissenschaften werden hier dargelegt.

All das geschieht nicht ohne Einführung in die Kulturgeschichte der "Seele" - und nicht, ohne die weltanschauliche Position der Autoren offen zu legen: Diese sehen den Geist als einen Naturprozess und folgen der Vorstellung von der "Einheit der Natur", wonach in der belebten und unbelebten Natur dieselben Prinzipien wirksam sind. Aber auch dualistische Sichtweisen von Gehirn und Geist werden vorgestellt und in Betracht gezogen: Für die Wissenschaft sei die Suche nach dem Sitz des Seelischen insofern beendet, "als dass das Gehirn unbezweifelbar entweder der Produzent des Seelisch-Geistig-Psychischen ist (...), oder zumindest das Organ, mit dem ein unsterblicher und immaterieller Geist in der natürlichen Welt wirksam wird, wie es der nach wie vor populäre Dualismus begreift."

Der Begriff des Seelischen steht hier für die Gesamtheit der Vorgänge, die sich in unserem Fühlen, Denken und Wollen ausdrücken, sei es nun bewusst, unbewusst oder intuitiv-vorbewusst. Religiöse Vorstellungen von "Seele" werden von Roth und Strüber bewusst ausgeklammert. Bei Strasser hingegen impliziert "Vergeistigung" auch eine religiöse Dimension, denn "dieses unser Bewusstsein ist Medium und Realisationsfeld der intimen Transzendenz, die uns am Absoluten, 'Göttlichen' (mit oder ohne Anführungszeichen) teilhaben lässt (...)".

Lesen Sie auch: Kritische Auseinandersetzung mit Freud

Wer bei Roth aufgrund des provokanten Titels einen antireligiösen "Seelentöter-Komplex" oder andere kulturkämpferische Spitzen erwartet, wird enttäuscht. Totalitär (im Sinne eines allumfassenden Geltungsanspruchs) ist hier nur das Verständnis psychischer Erkrankungen, die allesamt auf Störungen im Gehirn zurückgeführt werden. Oder die Forderung an die Psychotherapien, ihre Wirksamkeit immer auch neurobiologisch unter Beweis zu stellen.

Jüdische Perspektive auf den freien Willen

Wenngleich es aus jüdischer Sicht seit jeher keinen Zweifel darüber gibt, dass jeder Mensch die prinzipielle Fähigkeit besitzt, freien Willen zumindest dort einzusetzen und das eigene Verhalten zu bestimmen, wo er sich eines Konflikts zwischen den religiösen, ethischen oder gesellschaftlichen Prinzipien und Wertvorstellungen auf der einen Seite und seinen menschlichen Schwächen auf der anderen Seite bewusst ist, und somit für sein Tun und Handeln moralisch und ethisch tatsächlich selbst verantwortlich ist, konzentriert sich die rabbinische Literatur seit der Antike in diesem Zusammenhang vor allem auf das scheinbare Paradox, welches sich aus dem freien Willen des Menschen in einer Welt der g-ttlichen Vorsehung ergibt.

Eine einfache Erklärung löst diesen Konflikt zumindest teilweise, wenn wir uns daran erinnern, dass Hashem ausserhalb des Systems Zeit existiert und somit irdische Begriffe wie Vergangenheit und Zukunft für Ihn keinerlei Relevanz haben. Die dem jüdischen Weltbild jedoch integral zu eigene Überzeugung, dass G-tt in das weltliche Geschehen nicht nur theoretisch eingreifen könnte, sondern dies auch praktisch permanent tut, scheint aber dennoch mit dem freien Willen und der daraus resultierenden moralischen Eigenverantwortung des Menschen für sein Tun und Handeln unvereinbar zu sein.

In der Tora sowie den Büchern der Propheten und Schriften (Tanach) finden wir eine Reihe von Begebenheiten, wo es zumindest so scheint, als hätte G-tt einzelnen Individuen, beziehungsweise auch grösseren Gruppen, die Fähigkeit zur freien Willensentscheidung entzogen. Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl der ägyptische Paroh, von dem uns die Tora ganz unmissverständlich sagt, dass G-tt in dessen Hadern um die Gewährung der Bitte, die Kinder Israels ziehen zu lassen, eingriff, indem er „sein Herz verhärtete" - und nichtsdestotrotz wird Paroh für seine Unnachgiebigkeit in dieser Sache persönlich verantwortlich gemacht und bestraft, was wiederum die Grundannahme der Gerechtigkeit G-ttes in Frage stellt!

Eine von vielen verschiedenen Erklärungen zu diesem philosophischen Dilemma bietet Rabbenu Mosche Ben Maimon (RaMBaM), bekannt als Maimonides, indem er darlegt, dass der uns allen gegebene freie Wille als Geschenk zu verstehen ist, welches uns jedoch auch wieder genommen werden kann, wenn wir es auf extreme Weise missbrauchen. Ohne freien Willen wäre dem Menschen verantwortliches Handeln und somit Verantwortung für sein Handeln prinzipiell unmöglich.

Lesen Sie auch: Die Freudschen Phasen

Wenngleich jedem Menschen die Fähigkeit gegeben ist, freie Willensentscheidungen zu treffen, kann er dies nur dann auch uneingeschränkt tun, wenn er frei ist und sein Recht auf persönliche Selbstbestimmung nicht durch physisch unüberwindbare gesellschaftliche Zwänge begrenzt ist. Im modernen westlichen Verständnis werden Begriffe wie Freiheit und Liberalismus häufig gleichgesetzt mit der Idee, dass jeder tun und lassen kann, was er will, wobei die Grenze des eigenen Tuns und Handelns lediglich dort beginnt, wo die Freiheit eines anderen verletzt wird.

Wie so viele unserer jüdischen Ideale und Vorstellungen, so steht auch unser traditionelles Verständnis von Freiheit der zeitgenössisch praktizierten Auffassung von Liberalismus diametral entgegen. Das jüdische Ideal von Freiheit bedeutet keineswegs, dass man tun und lassen kann, was man will, so, wie es einem gefällt, oder man es, unter der menschlichen Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse, für sich als richtiges Handeln rationalisiert - das ist nicht Freiheit (Cherut), sondern Willkür (Chofesch). Unter Freiheit verstehen wir genau das Gegenteil, nämlich die Fähigkeit, frei zu entscheiden, freien Willen (Bechira) zu üben und das zu tun, was wir tun möchten, wonach wir uns fühlen, oder eben das, was wir tun wollen, weil es unseren Überzeugungen und Wertvorstellungen nach das Richtige ist. Nicht, das zu tun, was unsere natürlichen, sozialen, wirtschaftlichen, biologischen oder egoistischen Bedürfnisse befriedigen würde, sondern genau diese zu überwinden und das zu tun, was unseren übergeordneten Werten und Idealen entspricht, das ist wahre Freiheit, das ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Tiere sind in ihren Entscheidungen unfrei und vollständig ihren biologischen Trieben unterworfen.

Im nicht-jüdischen Verständnis von Freiheit erscheint selbstverständlich alles, was irgendein menschliches Benehmen, Handeln und Tun als „falsch" oder „schlecht" einordnet, als Behinderung oder Limitierung von „Freiheit". Eine ablehnende oder gar antagonistische Haltung moralischen Wertsystemen gegenüber, insbesondere, wenn diese für sich eine transzendente Wahrheit beanspruchen, ist eine natürliche und psychologisch nachvollziehbare Reaktion - wenngleich sie in logischer Konsequenz zu Ende gedacht die Sinnlosigkeit unserer Existenz bedeuten würde.

Pessach, „das Fest unserer Freiheit", ist, scheinbar paradoxerweise, vom Anfang bis zum Ende von unzähligen, insbesondere unsere Ernährung regelnden, und noch viel mehr als sonst einschränkenden, Vorschriften und Verboten dominiert. Die primitiven Triebe nach Genuss und Macht, deren ständige Bekämpfung Sigmund Freud in seiner Triebtheorie für das unausweichliche Schicksal des Menschen hält, sind für Rabbi Elasar HaKappar natürliche Herausforderungen, derer sich der Mensch jedoch durchaus entledigen kann, da sie nicht Teil des Menschen, sondern lediglich ein Produkt seiner Jezer Hora sind - jenes Triebes, der es uns immer wieder erschweren möchte, das Richtige zu tun, wenn es nicht unseren eigenen egoistischen Bedürfnissen entspricht.

Und was können wir gegen die Jezer Hora unternehmen? „Schleppe ihn in das Beit HaMidrasch" (das jüdische Lehrhaus) (Sukkot 52b), denn „kein Mensch ist so frei, wie derjenige, der sich mit dem Lernen der Tora beschäftigt!" (Pirkei Avot 6:2). Rabbi Jehoschua ben Levi sagt uns, dass das Lernen von Tora die ideale Methode ist, jene menschlichen Triebe zu bändigen, die ansonsten unseren freien Willen limitieren und die Werte in unserem Leben von unserem Egoismus leiten lassen.

Möge das diesjährige Pessach uns allen ein wahrhaftiges Fest der Freiheit sein, damit wir als freie Menschen der Verantwortung und dem Sinn unseres Lebens gerecht werden, unserem individuellen Beitrag leisten können, und damit, hoffentlich ...

tags: #sigmund #freud #freier #wille