Ein harmloses Missverständnis geht in ein Wortgefecht über und schon steckt man mittendrin: Wenn Konflikte eskalieren, kochen die Emotionen über. Wenn Konflikte offen und emotional werden, brodelt auch in uns das Feuer - wohlwissentlich, dass hitzige Wortgefechte im Business-Kontext nichts zu suchen haben. Also wälzt man die Ereignisse im Kopf hin- und her, analysiert die Situation und das Verhalten der Beteiligten. Wie gelingt es also, in solchen Situationen aus der Gedankenspirale auszusteigen?
Viele Menschen haben Schwierigkeiten damit, Nein zu sagen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen oder klar zu kommunizieren - aus Angst, andere zu verletzen, abgelehnt zu werden oder egoistisch zu wirken. Doch das ständige Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse führt langfristig zu innerem Stress und Unzufriedenheit.
Als Lebens- und Sozialberaterin unterstütze ich Klient:innen dabei, sich selbst wieder ernst zu nehmen - und dazu gehört vor allem das Setzen gesunder Grenzen. Grenzen setzen bedeutet nicht, andere auszuschließen - sondern sich selbst einzuschließen.
Warum fällt es uns so schwer, Grenzen zu setzen?
Viele von uns haben früh gelernt, dass Anpassung „nett“ ist - und Ablehnung weh tut. Daraus entsteht oft eine tiefsitzende Angst, andere zu enttäuschen oder die Harmonie zu stören. Doch wer sich ständig selbst zurücknimmt, riskiert innere Unzufriedenheit, Erschöpfung und das Gefühl, nicht gesehen zu werden.
Die Bedeutung von Selbstreflexion und klaren Grenzen
Ein zentraler Aspekt für eine erfolgreiche Abgrenzung ist die Selbstfürsorge. Mangelnde Selbstfürsorge und mangelnde Abgrenzungsfähigkeit sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig in einer Art Kreislauf. Wenn du dich nicht um dich selbst kümmerst, fällt es dir schwer, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen, weil du dir selbst keine Priorität einräumst. Dies beeinträchtigt dein Wohlbefinden und verstärkt deine Unfähigkeit, klare Grenzen zu ziehen.
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Selbstreflexion: Nimm dir Zeit, um deine eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu erkennen. Frage dich, was für dich in bestimmten Situationen akzeptabel ist und was nicht. Klarheit schaffen: Formuliere klare, spezifische Grenzen für verschiedene Bereiche deines Lebens (z.B. Arbeit, Familie, Freundschaften) und schreibe diese nieder.
Tipps und Strategien zur emotionalen Abgrenzung
Im Folgenden habe ich für dich einige Ansätze zusammengestellt, die du nutzen kannst, um deine Abgrenzungsfähigkeit zu stärken.
- Erkennen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse. Fragen Sie sich regelmäßig: Was tut mir gut? Wo fühle ich mich überfordert oder ausgenutzt?
- Kommunizieren Sie klar und wertschätzend. Grenzen lassen sich liebevoll und deutlich formulieren.
- Akzeptieren Sie, dass Sie nicht allen Erwartungen entsprechen müssen. Sie sind nicht dafür da, es allen recht zu machen. Menschen, die Ihre Grenzen respektieren, wertschätzen Sie wirklich.
- Fangen Sie mit kleinen Schritten an. Sie müssen nicht Ihr ganzes Leben umkrempeln. Beginnen Sie im Kleinen: Sagen Sie Nein, wenn kurzfristig etwas verlangt wird und Sie bereits ausgelastet sind. Lehnen Sie Einladungen oder Aufgaben ab, die Sie nur aus Pflichtgefühl annehmen würden.
Tipp zum Schluss: Versuchen Sie das Aschenputtel-Prinzip erst bei Menschen, mit denen sie ein gutes Verhältnis haben, bevor sie es in einer bereits festgefahrenen Situation anwenden. Üben Sie zwei, dreimal, formulieren Sie Ihre eigenen Sätze und danach wagen Sie sich an Ihre KonfliktpartnerInnen.
Konkrete Schritte zur Stärkung der Abgrenzungsfähigkeit
Spüren: Nimm deine Grenzen ganz bewusst im Körper wahr. Spüre wie es sich anfühlt, wenn du emotional oder körperlich überfordert bist. Rufe dir eine Situation ins Gedächtnis, in der du überfordert warst. Wo spürst du die Überforderung im Körper? Wie fühlt sich die Überforderung an? Was empfindest du? Welche Gefühle kommen noch hoch?
Kommunikation üben: Lerne, deine Grenzen klar und respektvoll zu kommunizieren. Übe, Nein zu sagen, ohne dich dafür zu entschuldigen. Stelle dich dazu vor einen Spiegel oder trainiere es mit Personen, bei denen du dich sicher fühlst. Gesunde Routinen etablieren: Integriere Praktiken wie Meditation und Achtsamkeit in deinen Alltag, um dein emotionales Wohlbefinden zu fördern.
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Unterstützung suchen: Tausche dich mit anderen aus, die ähnliche Herausforderungen haben, oder ziehe in Betracht, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Kleine Schritte machen: Beginne mit kleinen, überschaubaren Situationen, in denen du deine Grenzen setzen kannst. So baust du Selbstvertrauen auf.
Etabliere neue Regeln: Erinnere dich an alle Grenzüberschreitungen der Vergangenheit - sowohl an die, die du anderen erlaubt hast, als auch an deine eigenen.
Mögliche Beispiele:
- Hör auf. Ich lasse mich von dir nicht mehr herablassend behandeln.
- Das ist keine Entscheidung gegen dich, sondern eine bewusste Entscheidung für mich.
- Danke, aber ich will diese Entscheidung selbst treffen.
- Danke, dass du mir deine Hilfe anbietest, aber diesmal schaffe ich es allein.
- Ich respektiere deine Meinung. Ich bitte dich, meine auch zu respektieren.
- Bitte schrei mich nicht an. Sprich ruhig mit mir, denn ich lasse mich nicht mehr anschreien.
- Ich werde mich nicht mehr überfordern. Es ist an der Zeit, dass ich mich um mich selbst kümmere.
- Danke, aber ich lasse mir keine Meinung mehr aufzwingen.
Emotionale Abgrenzung in Beziehungen
Besonders empathische und hochsensible Menschen tendieren dazu, die Stimmung anderer Menschen - allen voran derjenigen, die ihnen besonders nahestehen - zu übernehmen. Eventuell bist du dann auch der Typ, der sich für die Stimmung des anderen verantwortlich fühlt und daher versucht, den Partner mit Worten und Taten aufzumuntern. Diese Intention ist gut, aber meist führt sie dazu, dass du dir von deinem Partner jede Menge Unfreundlichkeiten gefallen lässt, bloß um die Harmonie zu wahren.
Mach dir daher bewusst, dass es völlig in Ordnung ist, dass du dich auch emotional von deinem Partner abgrenzt. Mitgefühl ja, aber mitleiden musst du dennoch nicht. Kurzum: Wenn dein Partner seine miese Laune an dir auslässt, zeige ihm Grenzen auf. In etwa so: Ich verstehe deinen Frust und bin gerne für dich da, aber ich akzeptiere nicht mehr, dass du deine Laune an mir auslässt. Kommt dein Partner deinem Appell nicht nach, ziehe Konsequenzen.
Klar ist es wichtig, dass wir auch in der Partnerschaft das Prinzip „Leben und leben lassen“ nicht vergessen. Sich in Toleranz üben und loslassen, was nicht wirklich wichtig ist, ist meines Erachtens ein wichtiger Lernprozess für jede Beziehung.
Grenzen setzen in verschiedenen Situationen
Hier findest du ein paar Beispiele, wie gesunde Grenzen aussehen können. Versuch dich in diese Situationen hinein zu versetzen und frag dich ganz ehrlich, wie du reagiert hättest. Achte dabei auch darauf, welche Gefühle hochkommen, wenn du dir das vorstellst. Vielleicht sind es unangenehme Gefühle, wie Trauer, Schuldgefühle oder Unwohlsein? Vielleicht sogar etwas Angst, wenn du daran denkst, wie es dir dabei ergehen würde.
Beispielhafte Szenarien:
Situation 1: Freundschaft
Person A: Wie konntest du mich nur vor dem Chef so blosstellen, ich dachte wir wären Freunde!
Person B: Ja, natürlich sind wir das, aber in deinen Daten war ein Fehler und ich musste darauf aufmerksam machen.
Person A: Aber du musst mir immer den Rücken decken und du kannst mir nicht einfach vor allen widersprechen!
Person B: Ich schätze dich sehr als Freund, aber ich muss meinen Job machen und du deinen, ganz einfach.
Person A: Ich mache meinen Job eh!
Person B: Gut, dann sollte es eh keine Rolle spielen, was ich sage.
Situation 2: Familie
Mutter: Ich bin so traurig und einsam, weil du mich so selten besuchen kommst.
Tochter: Warum unternimmst du nicht mehr mit Freunden? Lerne neue Menschen kennen!
Mutter: Habe ich doch versucht, aber niemand mag eine alte Frau wie mich. Du bist meine Tochter, du musst dich um mich kümmern.
Tochter: Das mache ich doch, Mama!
Mutter: Nein, tust du nicht! Du reist ohne mich herum und verbringst ständig Zeit alleine. Du weißt nicht, wie schwer es manchmal für mich ist!
Tochter: Doch, das verstehe ich. Ich liebe dich und ich werde immer für dich da sein, aber es nicht mein Job dich ständig zu unterhalten. Du bist immer noch selbst verantwortlich für dein Leben, ob du einsam bist oder nicht.
Situation 3: Partnerschaft
Person A: Ich habe deine Bewerbung und deinen Lebenslauf meinen Chef gegeben, vielleicht stellt er dich an.
Person B: Aber ich will doch gar nicht in deiner Firma arbeiten.
Person A: Aber ich möchte, dass du erfolgreich und glücklich bist! Ich habe auch nach einer gemeinsamen Wohnung geschaut, damit wir nicht so viel Miete zahlen müssen.
Person B: Aber ich sagte doch, dass ich nicht bereit dazu bin!
Person A: Ja, aber es ist das Sinnvollste! Außerdem werden wir nicht jünger!
Person B: Zuerst sagst du mir, was ich anziehen soll, dann entscheidest du wo ich arbeiten soll und nun sollen wir zusammenziehen obwohl ich das nicht will?
Person A: Ja, aber ich liebe dich, ich will doch nur das Beste für dich!
Person B: Ich dich auch, aber ich möchte die Dinge auf meine Weise tun und ich möchte, dass meine Wünsche respektiert werden. Du kannst nicht solche Entscheidungen für mich treffen und mein Leben kontrollieren.
Person A: Du bist so egoistisch! Ich tue alles für dich und jetzt gibst du mir auch noch die Schuld!
Person B: Wenn du mich wirklich liebst, dann hör auf, mein Leben zu bestimmen und respektier meine Wünsche bitte auch!
Der Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl und Grenzen setzen
Probleme mit dem Thema haben meist etwas mit einem schlechten Selbstwertgefühl zu tun. Man redet sich ein, dass man es vielleicht nicht anders verdient hat, oder denkt, dass es ja normal ist. Aus diesem Kreislauf gilt es auszubrechen, indem man sich selbst mit viel Empathie begegnet. Anstatt sich selbst oder Teile des Selbst ständig abzuwerten und sich seine Fehler immer wieder vor Augen zu führen, ist es sinnvoller zu verstehen, dass jeder Mensch seine Fehler hat und auf gewissen Ebenen versagt.
Akzeptiere, dass das normal ist und arbeite dann an deinen Zielen, erfahre was Selbstdiziplin heißt, triff Entscheidungen, die dir gut tun und steigere so auch dein Selbstvertrauen. Mit einem immer positiveren Selbstbild und Selbstwertgefühl, gelingt es dir auch leichter Grenzen zu setzen, da du sofort spürst, wenn dich jemand respektlos behandelt. Spüren ist ein wichtiger Teil dieses Prozesses. Lerne wieder zu spüren und lass auch Wut und Enttäuschung zu.
Praktische Tipps für den Alltag
- "Keep it simple"! Du brauchst deine Grenze nicht zu begründen, es ist dein menschliches Grundrecht etwas nicht zu wollen und „Nein“ zu sagen. Dieses Recht steht auch dir zu und jede überkomplizierte Rechtfertigung bietet nur Angriffsfläche und macht dich unglaubwürdiger.
- Kommuniziere deine Grenzen klar und deutlich. Je selbstbewusster dein Auftreten ist, desto weniger Widerstand wird kommen. Fokussiere dich dabei auf dich selbst und verfasse „Ich“-Botschaften.
- Kommuniziere glaubhafte Konsequenzen, die du dir im Vorhinein überlegt hast. Falls deine kommunizierte Grenze nicht respektiert wird, musst du diese Konsequenzen dann auch ziehen, anders wirst du nie respektiert werden. Je konsequenter du das schaffst, desto einfach wird es. Je öfter du nachgibst und doch „einbrichst“, desto schwerer wird es beim nächsten Mal, denn dann hast du deinen Mitmenschen gezeigt, dass du umzustimmen bist. Sie haben gelernt, dass dein „Nein“ gar nicht zählt und es nicht mal Konsequenzen für das Überschreiten deiner Grenzen gibt.
Umgang mit Kritik als hochsensible Person
Kritisiert zu werden ist nicht schön. Für hochsensible Menschen kann es sich manchmal richtig schlimm anfühlen. Denn hochsensible Persönlichkeiten (HSP) fühlen in der Regel alles viel stärker und intensiver, und wollen andere Menschen nicht enttäuschen. Sie nehmen Kritik oft deshalb so stark wahr, weil sie davon ausgehen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt werden. Dazu gehört zum Beispiel, nicht gut genug zu sein.
Sechs Wege für hochsensible Menschen, besser mit Kritik umzugehen:
- Mache einen Realitätscheck: Was sind die Fakten? Wer hat was gesagt? Betrifft es mich überhaupt?
- Frage dich, warum dich die Kritik trifft: Liegt es an der Botschaft oder am Empfänger? Oder an beidem?
- Nutze deine Feinfühligkeit zu deinem Vorteil: Versetze dich in die Lage des anderen und frage dich: Was braucht diese Person? Was könnte gerade in ihr vorgehen?
- Wie kann ich die Kritik als Antrieb für mich nutzen? Unser Gehirn nimmt die Kritik, die nonverbalen Hinweise des Kritikers und den Kontext auf, um die Situation klarer zu verstehen.
- Übe deine Fähigkeit zur Selbstregulation: Bleibe ruhig, damit wir klar denken und auf unsere Empathie zugreifen können.
- Achte darauf, dass du deine Grenzen kennst und nicht zulässt, dass Kritik deine Gefühle und dein Selbstwertgefühl beeinträchtigt.
Die Bedeutung des „Bei-sich-selbst-Seins“
Wenn du dir dein Körper-Zuhause vertrauter machst, kannst du natürliche Grenzen bilden. Vielleicht ist es so ähnlich: Ich spüre meine Füße, meinen Atem, mein Herz, meinen ganzen Körper, mein Innenleben, merke meine Gedanken, fühle meine Gefühle, spüre mein Selbst in meinem Körper und die Ausdehnung darüber hinaus. Ich habe meine Wahrnehmung ganz bei mir selbst UND kann dennoch auch das Außen, mein Umfeld wahrnehmen. Das ist ein sehr gegenwärtiger Prozess.