Wie wir unser Gegenüber sehen, so behandeln wir es auch - bewusst oder unbewusst, und das kann direkten Einfluss auf die Entwicklung und das Verhalten unseres Gegenübers haben. Dieser Effekt ist in der Psychologie als Rosenthal oder Pygmalion-Effekt bekannt. Dieser sogenannte Pygmalion-Effekt gilt es auch im Umgang mit Pferden zu beachten.
Definition und Ursprung
Der Pygmalion-Effekt geht auf eine bahnbrechende Studie in den 1960er Jahren zurück. Dabei wurde Lehrkräften mitgeteilt, dass einige Kinder in ihren Klassen besonderes Potenzial in ihrer intellektuellen Entwicklung hätten. Diese Kinder waren jedoch nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden. Dieses Prinzip wurde im Vorfeld schon mit Ratten getestet und es folgten viele Nachfolge-Studien.
Der Pygmalion-Effekt im schulischen Kontext
Robert K. Merton definierte die Self-Fulfilling Prophecy als eine zu Beginn falsche Definition einer Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, welches die ursprünglich falsche Sichtweise richtig werden lässt. Als eine Spezialform der Erwartungseffekte wird der Verlauf einer Entwicklung in Richtung der Erwartung geleitet, die so zu ihrer eigenen Verifikation führt. Erwartungseffekte lassen sich als zur Kategorie der Wahrnehmungsfehler zugehörig in die Theorie der Beobachtungs- bzw. Beurteilungsfehler einstufen. Auf Basis der Theorie Mertons erforschten Rosenthal und Jacobson die Self-Fulfilling Prophecy im schulischen Kontext. In ihrem Oak School-Experiment konnten sie beweisen, dass aus Lehrererwartungen sich selbst erfüllende Prophezeiungen werden können. Die Ergebnisse des Experiments führten zur Etablierung des Terminus "Pygmalion-Effekt".
Der Pygmalion-Effekt im Umgang mit Pferden
Die meisten Pferd-Mensch-Beziehungen sind emotional. Dazu gehören sowohl positive als auch negative Emotionen. In den Augen der Menschen gibt es da nicht nur „brave“, sondern auch „sture“, „dumme“, oder gar „A…loch-“ Pferde.
Einerseits halten wir - unbewusst - ständig Ausschau nach Verhaltensweisen, die unsere Zuschreibung untermauern und sehen über gegenteilige Indizien hinweg. Andererseits beeinflusst unsere Bewertung des Pferdes die Behandlung des Tieres: Behandeln wir unser Pferd als „sturen Gaul“, wird es ein solcher bleiben (oder eher werden!). Behandeln wir es als sensibles und intelligentes Lebewesen, wird es uns als solches begegnen.
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Zu Beginn meiner Trainertätigkeit wurde mir in meinen Horsemanship-Kursen die Relevanz des Pygmalion-Effekts im Umgang mit Pferden zum ersten Mal bewusst. So wurde ich erstmals für dieses Thema sensibilisiert, ohne es benennen zu können. Ich ließ mich von diesen scheinbaren Fakten beeinflussen und erwartete vierbeinige Gegner. Überraschenderweise traf ich später aber immer „nur“ auf Pferde. Behandelte ich dann die Pferde so, wie ich sie empfand, merkte ich in vielen Fällen nichts von den beschrieben negativen Tendenzen.
Ein Fallbeispiel: Normen, das "A...loch"-Pferd
Vor nicht allzu langer Zeit durfte ich mit Normen arbeiten. In seinem Stall galt Normen als „A…loch“. Der große Warmblüter zeigte sich alles andere als kooperativ. Er hatte gelernt, den Menschen anzusteigen, wenn ihm etwas gegen den Strich ging oder sich seines Reiters durch Steigen zu entledigen. Wurde mit ihm gearbeitet, versuchte man durch entsprechenden Druck, eine Eskalation zu verhindern. Dies hatte den Anschein zu funktionieren, denn wenn der Druck stark genug war, beugt sich ihm Normen. Allerdings geschah dies mit großem Widerwillen und hatte zur Folge, dass Normens Toleranzgrenze für jegliche Einwirkung auf ihn immer niedriger wurde.
Unbeteiligten Dritten fällt es in einem Fall wie diesem leichter, die Schuld nicht beim Pferd zu suchen - ganz anders sieht es aber aus, wenn man tatsächlich einem großen Kerl wie Normen gegenübersteht. Als Normen in meine Obhut kam, begann ich sukzessive daran zu arbeiten, ihm den Grund für seine Reaktion (zu viel Druck) zu nehmen.
Die Grenzen des Pygmalion-Effekts
Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass durch eine positive oder gar naive Sichtweise Probleme einfach verschwinden - dies zu glauben, könnte sehr gefährlich werden, denn selbstverständlich ist ein achtsamer Umgang mit unerwünschten Verhaltensweisen des Pferdes geboten. Dazu gehört, das Potential des Pferdes zu erkennen, aber auch nicht zu überschätzen. Jedes Pferd hat natürliche Grenzen.
Halte ich meinen leicht erregbaren Vollblüter für hysterisch, wird er wohl auch so sein und bleiben. Behandle ich ihn im Gegenteil gleich wie ein nervenstarkes Pferd, das weder Großvieh noch Mähdrescher fürchtet, kann es auch schnell mal gefährlich werden.
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Es ist ein tolles Gefühl, ein liebes, feines, sensibles oder gemütliches Pferd zu reiten. Meistens macht es mit bösen, sturen, unsensiblen oder faulen Gäulen nicht so viel Spaß. Das Pferd negativ abzustempeln, nimmt uns die Freude am Umgang mit ihm.
Weitere soziale und kognitive Effekte in Lern- und Lehrkontexten
Lernen und Lehren sind voller unbewusster sozialer und kognitiver Effekte, die unsere Wahrnehmung, Entscheidungen und Interaktionen beeinflussen. Diese Effekte können Lernprozesse erleichtern, aber auch verzerren. Derartige Mechanismen zu kennen, kann dabei helfen, Lernen und Lehren reflektierter zu gestalten.
Hier eine Übersicht über einige relevante Effekte:
- Matthäus-Effekt: Personen oder Gruppen mit anfänglichen Vorteilen profitieren überproportional von weiteren Chancen.
- Halo-Effekt: Eine einzelne positive Eigenschaft beeinflusst unsere gesamte Wahrnehmung einer Person.
- Pygmalion-Effekt: Hohe Erwartungen führen zu besseren Leistungen.
- Dunning-Kruger-Effekt: Inkompetente überschätzen sich, Experten unterschätzen sich.
- IKEA-Effekt: Selbst geschaffene Dinge werden höher bewertet.
- Zeigarnik-Effekt: Unvollendete Aufgaben bleiben besser im Gedächtnis.
- Spotlight-Effekt: Menschen überschätzen, wie sehr andere sie beobachten.
- Self-Handicapping: Menschen setzen sich selbst Hindernisse, um Misserfolge zu erklären.
- Range-Effekt: Die Bewertung einer Sache hängt davon ab, womit sie verglichen wird.
- Status-quo-Bias: Menschen bevorzugen den aktuellen Zustand und vermeiden Veränderungen.
- Mere-Exposure-Effekt: Je häufiger wir etwas sehen oder hören, desto glaubwürdiger erscheint es uns.
- Einstellungseffekt: Menschen halten an gewohnten Problemlösungen fest.
- Hindsight-Bias: Nachträglich erscheint uns alles vorhersehbarer.
- Default-Effekt: Menschen neigen dazu, die vorgegebene Option zu wählen.
- Framing-Effekt: Die Art und Weise, wie eine Information präsentiert wird, beeinflusst unsere Wahrnehmung.
- Confirmation Bias: Menschen neigen dazu, Informationen so zu interpretieren, dass sie ihre Erwartungen bestätigen.
- Escalation of Commitment: Menschen halten an einmal getroffenen Entscheidungen fest, selbst wenn diese nachteilig sind.
- Primacy-Effekt: Die zuerst wahrgenommenen Informationen haben einen überproportional großen Einfluss.
- Recency-Effekt: Die zuletzt präsentierten Informationen haben einen stärkeren Einfluss.
- Soziale Erwünschtheit: Menschen verhalten sich so, wie sie glauben, dass es sozial akzeptabel ist.
- Hawthorne-Effekt: Menschen ändern ihr Verhalten, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden.
- Dr.-Fox-Effekt: Die Art der Präsentation hat einen größeren Einfluss als der Inhalt.
- Imposter-Syndrom: Hochqualifizierte unterschätzen ihre Fähigkeiten und glauben, ihren Erfolg nicht verdient zu haben.
- Backfire-Effekt: Je bewusster man sich anstrengt, eine Reaktion zu erzeugen, desto schwieriger wird es.
- Proteus-Effekt: Menschen passen ihr Verhalten an digitale Identitäten an.
- Thomas-Theorem: Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real.
- Matilda-Effekt: Die systematische Unterschätzung oder Nichtanerkennung der wissenschaftlichen Beiträge von Frauen im Vergleich zu Männern.
- Asch-Effekt: Menschen passen ihre Meinung an eine Gruppenmehrheit an, selbst wenn diese falsch ist.
Quellen
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