Psychisch bedingte Schmerzen: Ursachen und Behandlung

Psychische Belastungen können sich negativ auf den Bewegungs- und Stützapparat auswirken. Es ist ein Teufelskreis: Psychische Belastungen bewirken, dass sich die Muskulatur verspannt, was zu Beschwerden insbesondere im Bereich von Nacken, Schultern und Rücken führt. Länger anhaltende psychische Belastung ohne ausreichende Entspannungsphasen hat einen sich selbst verstärkenden Effekt: Die verspannte Muskulatur beginnt zu schmerzen, woraufhin man eine Schonhaltung einnimmt.

Muskel-Skelett-Erkrankungen entstehen oft durch ein Zusammenwirken von physischen, psychischen und individuellen Faktoren. Schwierige Lebensumstände, die beispielsweise mit Stress, Angst oder Depressionen verbunden sind, können zu unterschiedlichen körperlichen Reaktionen führen. Muskeln verkrampfen sich, der Schlaf ist gestört, der Stoffwechsel ändert sich, etc. Die Beschwerden sind sehr unterschiedlich.

Ursachen psychisch bedingter Schmerzen

Im Merkblatt „Arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen“ wird zwischen drei Gruppen von Faktoren unterschieden, die zur Entstehung arbeitsbedingter MSE beitragen. Bei den physischen Faktoren handelt es sich um körperlich belastende Arbeitsbedingungen und -anforderungen, bei den organisatorischen und psychosozialen Faktoren um Belastungen, die sich aus der Art der Arbeitsorganisation bzw. den Anforderungen an die Psyche ergeben oder die in Verbindung mit sozialen Bedürfnissen stehen. Die individuellen und soziostrukturellen Faktoren umfassen Vorerkrankungen, Lebensstil, physische Leistungsfähigkeit und den Zugang zur Gesundheitsversorgung.

Physische Faktoren wirken direkt auf den Bewegungs- und Stützapparat ein, organisatorische und psychosoziale Faktoren indirekt, daher werden letztere oft nicht als Ursachen für Beschwerden erkannt. Laut epidemiologischen Studien besteht ein Zusammenhang zwischen psychosozialen Faktoren insbesondere mit MSE im Schulterbereich.

Stress als Auslöser

Stress-Situationen rufen körperliche Reaktionen hervor: Atem- und Herzfrequenz steigen, die Muskelspannung erhöht sich, Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet, mehr Energie ist verfügbar. Unsere frühen Vorfahren profitierten von diesem Mechanismus, da er sich in körperlich extrem fordernden Situationen wie Kampf oder Flucht als funktional erwies. War die Gefahr vorbei, setzte Entspannung ein. Heute haben wir es weniger mit wilden Tieren zu tun und doch rufen aktuelle Stress-Situationen dieselben Reaktionen hervor.

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Zu den häufigsten Stress auslösenden organisatorischen Faktoren gehören ein hohes Arbeitspensum, eine ungünstige Arbeitszeitgestaltung, ein geringer Handlungsspielraum und die fehlende Möglichkeit, die Arbeitshaltung zu verändern. Von Zeitdruck sind bestimmte Branchen wie Baugewerbe, Gastronomie, aber auch mobile Pflege besonders betroffen. Starre Arbeitszeiten erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Psychosoziale Faktoren, die Stress verursachen, sind häufig auf destruktive oder fehlende Kommunikation zurückzuführen, z. B. auf mangelnde Rückmeldungen von Vorgesetzten. Auch zu wenig Unterstützung und Wertschätzung durch Führungskräfte oder Kollegen:Kolleginnen sowie ungelöste Konflikte am Arbeitsplatz belasten psychisch. In personenbezogenen Dienstleistungsberufen wie in der Pflege, im Handel oder im Kundendienst sind Beschäftigte in der Ausführung ihrer Tätigkeit emotional sehr gefordert.

Psychosomatische Erkrankungen

Psyche und Körper bilden eine Einheit, die nicht getrennt werden kann. Körperliche Beschwerden haben eine Auswirkung auf die Psyche und umgekehrt. Unser Denken beeinflusst unsere Psyche, unsere Zellen und Organe unseres Körpers. Wenn es der Seele gut geht, ist der Körper gesünder. Geht es der Seele schlecht, hat dies auch Einfluss auf den Körper. Bei psychosomatischen Erkrankungen liegt zumindest ein Teil der Ursachen im psychischen Bereich.

Psychosomatische Erkrankungen äußern sich durch verschiedene Symptomatiken, wie zum Beispiel:

  • Kopfschmerzen - Migräne
  • Reizdarm
  • Herz - Angst - Neurose
  • Tinnitus (Ohrengeräusche)
  • Schmerzerkrankungen
  • Schwankschwindel
  • Essstörungen

Wichtig für das Verständnis von psychosomatischen Erkrankungen ist, dass die Beschwerden nicht eingebildet, sondern tatsächlich vorhanden und mitunter sehr belastend sind. Dass keine körperlichen Ursachen gefunden werden können, verunsichert die Betroffenen oftmals noch stärker.

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Unter dem Begriff Psychosomatik ist ein Teilgebiet der Medizin zu verstehen, welches sich mit den Wechselwirkungen zwischen psychologischen, biologischen und auch sozialen Bedingungen von Erkrankungen beschäftigt. In der Psychosomatik werden sogenannte “somatoforme Störungen” behandelt. Das sind Beschwerden, für die Ärzte/-innen keine eindeutigen körperlichen Ursachen finden können. In vielen Fällen wirken bei solchen zunächst unklaren gesundheitlichen Problemen körperliche, psychische und soziale Faktoren zusammen. Psychosomatische Erkrankungen können fast alle Organe und Körperteile betreffen und sich sehr unterschiedlich äußern.

Zu den wohl bekanntesten psychosomatischen Erkrankungen zählen Herz-Angst-Neurose, Tinnitus, Schwankschwindel, ISG Blockade, Hörsturz sowie Frozen Shoulder. Unter der ISG Blockade ist eine schmerzhafte und beweglichkeitseinschränkende Blockade des Iliosakralgelenks (ISG) im Becken zu verstehen. Über das Zwischenhirn besteht eine nachweislich wirksame Beziehung zwischen ISG-Blockaden und depressiven Verstimmungen. Zudem ist die erste Reaktion des Bewegungsapparates auf Stress häufig eine asymmetrische Verspannung in der Nähe der Rücken- und Hüftmuskulatur. Bei anhaltendem Stress kommt es darüber hinaus zu Verschlackungen des Bindegewebes und Verdickungen der Faszien (dünne, sehnenartige Muskelhaut) im unteren Rückenbereich. Wenn der psychisch belastende Zustand länger anhält, kann der Rücken anfälliger für Verspannungen sein.

Fachärzte/-innen vermuten zunehmend Zusammenhänge zwischen der Hörsturz-Erkrankung und der Psychosomatik. So würden Hörsturzpatienten/-innen sensibler als andere Menschen auf Stress reagieren. Betroffene empfinden tendenziell Ohnmacht, Wut oder Schuld. Es ist möglich, dass diese Gefühle eine psychosomatische Reaktion auslösen. Diese kann sich in einer Frozen Shoulder äußern. Eine psychosomatische Reha ist für Menschen geeignet, die an Depressionen, Burnout, Essstörungen oder anderen psychischen bzw. seelischen Krankheiten leiden.

Chronifizierung von Schmerzen

Schmerzen, die länger als 3 Monate andauern bzw. immer wiederkehren, sind als chronisch zu bezeichnen. Die Beschwerden sind multifaktoriell bedingt, wobei neben degenerativen Veränderungen psychische Belastungen, etwa durch private oder berufliche Konflikte, die einen anhaltenden Stressfaktor darstellen, eine wichtige Rolle spielen.

Wie intensiv wir Schmerzen empfinden, wie sehr sie uns Angst machen, hängt nicht nur vom reinen Nervensignal ab, sondern ist ein Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren, zu denen auch unsere familiären und kulturellen Erfahrungen im Umgang mit Schmerz zählen. Deshalb sprechen Experten auch von „bio-psycho-sozialem Schmerz“, den jeder Mensch anders empfindet.

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Die Länge des Krankenstands ist ein entscheidender Faktor bei der Chronifizierung von Schmerzen: Je länger dieser dauert, umso ungünstiger ist die Prognose. Die Empfehlung für Schmerzpatienten:-patientinnen lautet daher, möglichst rasch wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren und im Rahmen des Möglichen körperlich aktiv zu bleiben, um den Teufelskreis des sozialen und beruflichen Rückzugs zu durchbrechen.

Bio-psycho-soziales Schmerzmodell

Schmerz wird somit als bio-psycho-soziales Gesamtphänomen aufgefasst, an dessen Entstehung und Aufrechterhaltung neben der biologisch-physiologischen (sensorischen) Ebene auch emotionale, motivationale und kognitive Faktoren beteiligt sind. Ausgehend von diesem ganzheitlichen Krankheitsverständnis ist die Frage, ob Schmerzen „somatogen“ bzw. „psychogen“ bedingt seien, heute nicht mehr als sinnvoll anzusehen.

Nach dem bio-psycho-sozialen Schmerzverständnis steht also nicht mehr die Frage nach einer „somatischen“ oder „psychischen“ Ursache im Vordergrund, sondern die Frage, in welchem Umfang biologische und psychosoziale Faktoren im Einzelfall für die Schmerzentstehung und -verarbeitung wirksam sind. Die Schmerzverarbeitung mit ihren kompetitiven aszendierenden und deszendierenden Modulationsmechanismen bis hin zur bewussten Wahrnehmung ist kein „Alles oder nichts“-Vorgang - es handelt sich vielmehr um ein komplexes Geschehen, in das auch steuernd eingegriffen werden kann.

Behandlung psychisch bedingter Schmerzen

Nach einer genauen medizinischen Abklärung, bietet sich für die Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen eine Psychotherapie an. Im Mittelpunkt steht das psychotherapeutische Gespräch, das dazu dient, die Belastungen des Betroffenen zu erkennen und zu vermindern. Gemeinsam wird daran gearbeitet, vom Kampf gegen das Symptom zur Kooperation zwischen Psyche und Körper zu gelangen. Es werden Lösungen erarbeitet, wie die Belastungssituationen reduziert oder besser verarbeitet werden können. Das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte und die Selbstregulation von Psyche und Körper wird bestärkt.

Vor dem Hintergrund eines komplexen bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses zählt heute die multimodale Schmerztherapie, d. h. die gleichzeitige Anwendung komplementär aufeinander bezogener Interventionen, zum Goldstandard in der Behandlung chronischer Schmerzen. Fixer Bestandteil dabei sind schmerzpsychotherapeutische Verfahren. Diese umfassen direkt symptombezogene Interventionen (sog. „Schmerz-bewältigungsverfahren“) zur Förderung von Eigenaktivität und Selbstkompetenz der Patient:innen im Umgang mit den Schmerzen und deren Folgen.

Großen Stellenwert besitzen hier auch jene Interventionen, die auf psychophysiologischer Ebene ansetzen, wie z. B. Entspannungsverfahren und Biofeedback-Verfahren, teils kombiniert mit Imaginations- und Suggestionstechniken bzw. Hypnose zur Aufmerksamkeitslenkung. Neben den direkt symptombezogenen Techniken existieren auch symptomübergreifende (konfliktzentrierte, erlebnisorientierte, interaktionelle und biographische) Interventionsmaßnahmen.

Die Behandlung chronischer Schmerzen mit dem vorrangigen Ziel der Schmerzlinderung erfordert - im Sinne eines multimodalen Therapiekonzeptes - in der Regel auch psychopharmakologische und psychotherapeutische Interventionsmaßnahmen. Im Hinblick auf eine therapeutische, neurobiologische Behandlung ist zu beachten, dass in den absteigenden, antinozizeptiven (schmerzhemmenden) Bahnen Serotonin und Noradrenalin die wichtigsten Botenstoffe sind.

Medikamentöse Therapie

Dementsprechend kommen in der Schmerztherapie vor allem folgende Substanzgruppen zum Einsatz:

  • Nicht-Opioid-Analgetika
  • Opioid-Analgetika
  • Antikonvulsiva
  • Antidepressiva

Bereits zwischen 1989 und 1997 veröffentlichte Metaanalysen und Review-Arbeiten dokumentieren eine analgetische Wirkung von Antidepressiva. Auch neuere Metaanalysen, die zwischen 2000 und 2010 veröffentlicht wurden, ergeben zu einem überwiegenden Teil eine signifikant positive Wirkung von Antidepressiva bei verschiedenen Schmerzsyndromen wie chronischem Kopfschmerz oder peripheren Neuralgien.

Als Mittel erster Wahl dienen Gabapentinoide, trizyklische Antidepressiva und bei diabetischer Neuropathie Duloxetin. Bei lokal begrenzten/umschriebenen neuropathischen Schmerzen der Haut (dermatombezogene Schmerzen) kann ein Lidocain-Pflaster angewendet werden.

Weitere Therapieansätze

Neben der medikamentösen Therapie sind weitere wesentliche Eckpfeiler im Sinne einer multimodalen Herangehensweise in der Schmerzbehandlung zu berücksichtigen. Als eines der zentralen Elemente im gesamten diagnostischen und therapeutischen Prozess erweist sich dabei die ärztliche Gesprächsführung. Im Kontext von Schmerzerkrankungen liegt der Fokus in der Arzt-Patient-Kommunikation vor allem auf der Schmerz-Edukation, der Informationsvermittlung zu diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten sowie der Anleitung zur Reflexion der Patienten-eigenen Schmerzmodelle im Sinne eines Heranführens an das bio-psycho-soziale Schmerzmodell.

Körperliche Aktivität ist die Basis der nicht-medikamentösen Schmerztherapie. Die Wichtigkeit von Bewegung sollte - so schwierig und unangenehm sie für die Patient:innen auch ist - wenn immer möglich betont werden. Denn: Zwei Drittel aller chronisch Schmerzerkrankten empfinden eine Besserung ihrer Schmerzen, wenn sie ihr Bewegungsverhalten steigern. Bei der Wahl der Aktivität ist es wichtig, dass sie Freude macht und dauerhaft in den Alltag integriert werden kann. Wearables und Apps können dabei eine Unterstützung sein. Darüber hinaus sind Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation und Achtsamkeitsübungen, die Anwendung von Wärme/Kälte und Hausmitteln (Topfenwickel) empfehlenswert. Auch Physio- und Ergotherapie können helfen.

Soziale Aktivitäten wie das Engagement in Vereinen oder die Teilnahme an Sport- oder Selbsthilfegruppen können dabei helfen, den Teufelskreis aus Schmerz, gedrückter Stimmung und sozialer Isolation zu unterbrechen.

Prävention

Um psychosomatischen oder seelischen Erkrankungen vorzubeugen, ist vor allem das Umfeld sowie die Lebenssituation von Bedeutung. Bestenfalls sollten Betroffene Probleme offen mit einer Vertrauensperson kommunizieren. Das kann dazu beitragen, Erlebnisse zu verarbeiten. Darüber hinaus können körperliche Betätigung wie Sport (in der Gruppe) und Spaziergänge in der Natur positive Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden haben. Auch das Schulen der Achtsamkeit für die eigene Psyche, etwa durch Yoga, Meditation, Tagebuchführen oder Gespräche über Probleme und Gefühle, trägt in der Regel präventiv zu psychosomatischen Krankheiten bei. Auch eine gesunde Ernährung und eine gute Schlafqualität sind für die Psyche des Menschen bedeutsam.

Der:die Arbeitgeber:in sollte darauf achten, dass sich die Beschäftigten ihre Tätigkeit so einteilen können, wie es für sie passt. Das heißt, dass sie flexible Arbeitszeiten, Mobile Office und Homeoffice in Anspruch nehmen und die Pausengestaltung selbst bestimmen können, wenn das möglich ist. Als belastend werden auch unklare bzw. widersprüchliche Aufträge empfunden, etwa wenn abteilungsinterne Vorgaben nicht mit den Prioritäten einer anderen Abteilung übereinstimmen.

Psychische Belastungen zu reduzieren gelingt jenen Führungskräften am besten, die sich sozialkommunikative Kompetenz angeeignet haben. Diese hilft, in Gesprächen mit Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen zu erkennen, wie es ihnen geht, in welchen Bereichen sie ihre Stärken einbringen können und ob sie sich weiterqualifizieren wollen.

Anlaufstellen für Betroffene

Manchmal ist der Leidensdruck für von psychischen Krankheiten Betroffene so groß, dass diese nicht auf einen Behandlungstermin oder Reha-Platz warten können. Dann ist Soforthilfe gefragt. Menschen, die unter psychosomatischen Störungen, Depressionen oder Suizidgedanken leiden, können Hilfe von der Telefonseelsorge erhalten. Unter 01/504 8000 wird Menschen in Österreich mit psychischen Erkrankungen aller Art anonym und kostenlos geholfen.

Schmerzambulanzen in Wien

  • Klinik Floridsdorf
  • Klinik Landstraße
  • Klinik Donaustadt
  • Klinik Ottakring
  • Klinik Hietzing
  • Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Franziskus-Spital Margareten
  • AKH Wien

Sowie:

  • ÖGK Mein Gesundheitszentrum für Physikalische Medizin Neubau, Andreasgasse 3, 1070 Wien

Auch niedergelassene Ärzt:innen mit dem ÖÄK-Diplom „Spezielle Schmerztherapie“ sind passende Ansprechpartner:innen. Über die Homepage der Ärztekammern können Sie in der erweiterten Suche nach Ärzt:innen mit dieser Zusatzausbildung filtern.

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