Peter Wittkamp ist ein vielseitiger Mensch. Er schreibt Gags für deutsche Comedy-Formate, konzipiert witzige Imagekampagnen und berät Unternehmen und Agenturen in kreativen, humorvollen oder digitalen Projekten. Doch hinter der Fassade des erfolgreichen Autors und Gag-Schreibers verbirgt sich ein jahrelanger Kampf mit Zwangsstörungen.
Wittkamp, Jahrgang 1981, ist Betroffener von Zwangsstörungen (Grübelzwang, Zwangshandlungen, magisches Denken) und spricht offen über sein Leben mit den Zwängen und seinem Umgang mit denselbigen. Darüber hat er ein Buch geschrieben, in dem er auf humorvolle, aber auch berührende Art und Weise berichtet, welche Komplexe und Zwänge ihn plagen.
Der Beginn eines Waschzwangs
Wittkamps erster Zwang tauchte auf, als er 16 Jahre alt war. Er hatte Angst, sich selbst oder andere mit Bakterien, Viren oder Ähnlichem anzustecken. Als Gegenmaßnahme fing er an, seine Hände zu waschen und zu desinfizieren - ziemlich oft.
Ein solcher Waschzwang nimmt bei vielen Betroffenen ein ganz ähnliches Schema an und verläuft folgendermaßen: Der Zwangskranke hat Angst, sich selbst oder andere mit Bakterien, Viren oder Ähnlichem anzustecken oder gar Schlimmeres. Praktischerweise schlägt der Zwang direkt eine passende Gegenmaßnahme vor: Waschen und Desinfizieren. Möglichst oft.
Denn ein Waschzwang ist für Zwangskranke so etwas wie ein Rückenleiden für Möbelpacker: Ziemlich verbreitet. Gehört quasi zum Beruf. Und ebenso, wie sich ein Rückenleiden bei Menschen, die viel schleppen, leicht erklären lässt, ist auch der Waschzwang einer der Zwänge, der für Außenstehende noch einigermaßen nachvollziehbar ist. Denn sehr viele ganz »normale« Menschen haben Angst vor Keimen und Ähnlichem und waschen sich lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.
Lesen Sie auch: Hilfe bei Zwangsstörungen: Ein Überblick
Im Extremfall stehen Menschen mit einem Waschzwang stundenlang am Waschbecken. Bei Wittkamp selbst waren es „nur“ 40 Waschgänge täglich. Immer noch extrem genug, dass sich körperliche Folgen einstellten. Denn wenn Hände sehr oft mit Seife in Kontakt kommen, werden sie rau und rissig.
Besonders schlimm wurde es, wenn es draußen kalt war, oder bei starker Belastung der Hände. Ich hatte damals häufig Volleyball gespielt und musste ansehen, wie die Haut meiner durch das viele Waschen trocken gewordenen Hände regelmäßig einriss und immer wieder ein wenig Blut zum Vorschein kam, wenn ich einen Ball annahm“, schreibt Wittkamp.
Ich war vielleicht 16 oder 17 Jahre alt und begann aus irgendeinem Grund, die Angst zu entwickeln, ich könnte mich selbst oder jemand anderen mit irgendetwas anstecken, wenn ich mir nicht oft genug die Hände wasche. Was das denn konkret sein könnte, war mir damals wie heute nicht so ganz klar, aber dem Zwang war das relativ egal. Da draußen gibt es sicher Hunderte oder Tausende gefährlicher Viren und Bakterien - wird schon was Passendes dabei sein ... Ich erinnere mich noch gut daran, dass es besonders schlimm war, wenn ich mit Blut in Kontakt kam.
Denn obwohl ich aus dem Biounterricht wusste, dass der HI-Virus gar nicht so einfach übertragen wird, schwang die Angst vor AIDS mit. Was ist, wenn an meinen Händen ein bisschen Blut von jemandem mit HIV ist? Und ich jemand anderen anfasse, der eine kleine Wunde an der Hand hat? Und dann stecke ich den an ... und so weiter. Kram, den Zwangskranke gerne denken.
Die Angst vor HIV und AIDS war damals, wie ich später lernte, bei Zwangskranken sehr verbreitet. Sie ist es heute noch - aber vor zwanzig Jahren war die Immunkrankheit noch deutlich mysteriöser, weniger erforscht und auch schlechter zu behandeln. Ich war mit meiner Furcht also nicht alleine, vielen anderen Menschen ging es ganz ähnlich wie mir - nur wusste ich das leider nicht. Ich war ein wenig isoliert. Ich lebte auf dem Dorf, im Internet stand noch nicht so viel drin wie heute, und außerdem begriff ich gar nicht so richtig, dass ich nicht gesund war. Selbst wenn, mit wem sollte ich darüber reden?
Lesen Sie auch: Behandlung von Zwangsstörungen
Zu dieser Zeit entwickelte ich auch eine Abneigung gegen Münzen aller Art. Groschen, 50-Pfennig-, Markstücke - wer weiß, in wessen Händen die schon überall gewesen waren und welche schrecklichen Keime und Krankheiten auf ihnen lauerten? Aber ich hatte ja bereits die Lösung für meine Ängste: Händewaschen. Und nach dem Händewaschen lieber noch mal Händewaschen, falls sie beim ersten Mal nicht richtig sauber wurden. Das große Misstrauen gegen sich selbst, das ganz bezeichnend für viele Zwangskranke ist, hat sich schon damals gezeigt.
Der lange Weg zur Therapie
Lange Zeit versuchte er seine Zwänge vor anderen zu verbergen. Doch er wollte sich auch nicht vollkommen von seinem Zwang unterjochen lassen: „Ich war jung, voller Energie … Ich wollte verstehen, viel sehen, erfahren, bewahren“, so Wittkamp. Allmählich lernte er wieder, dass überhaupt nichts passiert, wenn er für ein paar Stunden auf seine übertriebenen Reinigungen verzichtete. Mit 18 Jahren hatte er seinen Waschzwang halbwegs im Griff.
Aber dabei blieb es nicht. Die Zwänge kamen mit der Zeit wieder. Nicht sofort und unmittelbar, eher schleichend. Und sie wurden in den vergangenen 20 Jahren immer stärker und vergrößerten ihr Einflussgebiet auf nahezu alle Bereiche von Wittkamps Leben. „Kaum etwas in meinem Alltag ist heute zwanglos“, schreibt der Autor.
Dennoch hat er gelernt, mit seinen Zwängen umzugehen. Gelungen ist ihm das mit Hilfe eines Therapeuten, den er „viel zu spät, aber immerhin - vor einigen Jahren dann auch endlich aufsuchte“.
In seinem Buch erzählt Wittkamp, wie er gemeinsam mit seinem Therapeuten Ordnung in das Dickicht seiner Neurosen zu bringen versucht.
Lesen Sie auch: Zwangsstörungen mit EMDR behandeln
Tipps und Strategien für Betroffene und Angehörige
Wittkamps Buch ist erfrischend, mal witzig (der Autor verdient sein Leben u. a. mit Gag-Schreiben für’s deutsche Fernsehen), mal tragisch-traurig und auf alle Fälle aufschlussreich für alle Beteiligten: Betroffene von Zwangsstörungen oder OCD - wie es im Englischen heißt (obsessive compulsive disorder) - und deren Mitmenschen.
Als ob es so einfach wäre, nicht mehr den Herd zu kontrollieren, ob er denn ja abgedreht ist, oder das übertriebene Händewaschen einfach sein zu lassen. Hier einige Tipps aus seinem Buch:
- Sprechen Sie laut aus, was der Zwang von Ihnen will. Es hilft, zu erkennen, wie sinnlos und übertrieben der Zwang ist, z. B. "Ich kann erst Feierabend machen, wenn ich die Haustür fünf Mal und den Herd sieben Mal kontrolliert habe. Dabei darf ich nicht an den Tod oder etwas Trauriges denken, sonst beginnt der Kontrollgang von vorne." Denn, wie der Autor schreibt: „Im Kopf führen diese Gedanken relativ ungestört ein Eigenleben. Genau das sollte man unterbinden. „Der Gedanke muss an die frische Luft“, würde Hape Kerkeling sagen.“ (S. 287)
- Sprechen Sie den kompletten Zwang mit allen Befürchtungen aus, z. B. "Der Zwang möchte, dass ich die Kleidung nicht anziehe, die ich beim letzten Besuch in der Ambulanz anhatte. Der Arzt war nämlich dunkelhäutig. Möglicherweise hat er mich mit HIV infiziert. Diese Krankheit kommt ja aus Afrika. So könnte es tatsächlich sein." Verrückt, was der Zwang Ihnen so alles einredet!
- Machen Sie ruhig auch mal Scherze über Ihren Zwang. Auch das kann helfen, den Zwängen ein bisschen die Kraft zu nehmen. Erinnern Sie sich daran, wie oft nichts passiert ist. Der Zwang ist eine Drama Queen, die man keinesfalls immer ernst nehmen soll.
- Zählen Sie mit. Notieren Sie (z. b. am Handy), wie oft pro Tag Sie Ihren Zwängen nachgeben. So lässt sich statistisch gut beobachten, wie es um die eigene Psyche steht.
- Verschieben Sie den Zwang: Merken Sie, dass Sie gerne Ihrem Zwang nachgeben würden, verschieben Sie ihn für 10 Minuten, eine Stunde, morgen, das soll bei leichten Zwängen möglich sein.
- Packen Sie den Zwang bei der Wurzel: Statt: Wie könnte ich meine Hände seltener waschen, Lieber so: Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn da noch ein paar Baktierien auf meinen Händen sind?
- Bleiben Sie nicht allein! Nicht einigeln, das liebt der Zwang.
- Reden Sie mit anderen Zwangskranken/über Ihre Zwangsgedanken …Es ist nur ein Kobold in Ihrem Kopf, der Ihnen das alles nur einflüstert. Es sind seine Gedanken, nicht Ihre! „Es ist zwar ärgerlich, dass ich sein Vermieter bin und ihn, trotz dringenden Eigenbedarfs, nicht aus seiner Wohnung da oben schmeißen kann - auch wenn der kleine Troll noch nie seine Miete bezahlt hat. Aber mir auch noch anhören, was er den ganzen Tag da oben vor sich hin plappert, das muss nun wirklich nicht sein.“
- Suchen sie einen Therapeuten/eine Therapeutin auf, wenn sie merken, dass Sie Handlungen vollbringen MÜSSEN, die Ihnen Ihren Alltag erschweren oder sogar boykottieren. Zwänge sind wahre Zeiträuber und machen den normalen Alltag sehr anstrengend. Zwänge chronifizieren eher. Von selber werden sie nicht weniger. Ein früher Behandlungsstart ist wesentlich. Zwänge treten oft schon bei jungen Menschen während der Pubertät auf.
Ein Bild, dass ich als sehr nützlich empfinde, behandelt die Folgen, die entstehen, gibt man einem seiner kleinen Zwänge nach. (Mitzählen!): „Stellen Sie sich vor, Sie haben fünf dreijährige Kleinkinder und einen offenen Eimer blauer Wandfarbe in einem Zimmer. Sie erlauben einem der Kinder ausnahmsweise, vorsichtig ein wenig mit der Farbe zu spielen, verbieten es aber den anderen vier. Dann verlassen Sie das Zimmer und kehren nach einer Stunde zurück. - Ungefähr so, wie der Raum dann aussieht, sieht es in mir aus, wenn ich bei einem Zwang nachlässig werde. Die anderen Zwänge bemerken meine Schwäche sofort und nutzen sie aus. Die Dinge gerate außer Kontrolle. Die Zwänge werden mehr und mehr (S. Sie wissen was zu tun ist: Just don’t do it.
Hilfreiche Tipps für Angehörige bei Zwangsstörung
Wenn ein geliebter Mensch an einer Zwangsstörung leidet, stehen Angehörige oft vor der Frage, wie sie sinnvoll unterstützen können, ohne den Zwang unbewusst zu verstärken. Dieser Beitrag gibt dir praxisnahe Tipps, um mit Mitgefühl und klaren Grenzen zu helfen - und dabei sowohl die eigene Belastung als auch die Symptome der betroffenen Person zu verringern.
Typische Formen der Einbindung:
- Delegierte Zwangshandlungen: Hier übernimmt eine andere Person die Handlung, die der Zwang vorgibt. Beispiel: Jemand mit starkem Waschzwang bittet den Partner, alle Türklinken zu desinfizieren oder Seifenspender zu bedienen. Kurzfristig sinkt die Anspannung, langfristig verstärkt sich jedoch der Zwang.
- Vom Zwang auferlegte Regeln: Zwangsregeln können den Alltag aller Beteiligten stark einschränken. Beispiel: Die Familie darf keine bestimmten Lebensmittel einkaufen oder Kleidung darf nur auf eine festgelegte Weise gewaschen werden.
- Rückversicherungen: Das ist die häufigste Form der Einbindung. Die betroffene Person sucht immer wieder Bestätigung: „Habe ich die Tür abgeschlossen?“ - „Bin ich sicher, dass ich niemandem geschadet habe?“ Diese Fragen scheinen harmlos, doch jede beantwortete Rückversicherung füttert den Zwang.
Rückversicherungen: So reagierst du hilfreich (statt zu verstärken):
Rückversicherungen („Habe ich die Tür wirklich abgeschlossen?“) geben nur kurz Ruhe, nähren aber langfristig Unsicherheit und Zwang. Nicht jede Frage sofort beantworten - kurz innehalten, wahrnehmen, freundlich bleiben.
Mögliche Antworten für Angehörige:
- „Ich bin für dich da - und ich glaube, es hilft dir mehr, wenn du es selbst prüfst.“
- „Kann sein, aber ich bin mir nicht sicher - vielleicht findest du es selbst heraus.“
- „Fragst du mich gerade um Sicherheit zu bekommen?“
- „Ich weiß es nicht genau - und das ist okay.“
Ziel: Die Person lernt, Unsicherheit auszuhalten, ohne sie sofort zu neutralisieren.
Voraussetzungen, damit Unterstützung wirklich hilft:
- Gemeinsam verstehen: Betroffene und Angehörige wissen, wie Zwang funktioniert - besonders, dass Mithilfe den Teufelskreis verstärkt.
- Gefühle aushalten lernen: Die betroffene Person hat in Therapie oder alltagsnah bereits geübt, mit Unsicherheit/Anspannung umzugehen (z. B. Atem, Körperwahrnehmung, ACT/ERP-Elemente).
- Absprachen treffen: In einem gemeinsamen Gespräch wird festgelegt, wo, wie und in welchem Tempo die Mithilfe reduziert wird.
- Rückhalt statt Kontrolle: Angehörige unterstützen beim Aushalten von Unsicherheit, nicht beim „Wegmachen“ der Zweifel.
Wichtige Grundsätze für Angehörige:
- Informiert euch gemeinsam über die Zwangsstörung und den „Teufelskreis“ von Mithilfe.
- Vereinbart klare Schritte, wie Unterstützung reduziert werden kann.
- Sprecht offen über Grenzen - niemand kann 24/7 verfügbar sein.
- Holt euch selbst Unterstützung, z. B. in Angehörigengruppen oder durch Beratung.
Schrittweise weniger Mithilfe: Ein alltagsnaher Plan:
- Bestandsaufnahme: Liste zusammen, wo Angehörige aktuell mithelfen (z. B. Türen öffnen, Seifenspender bedienen, Fragen beantworten, Einhalten von Zwangsregeln).
- Reihenfolge festlegen: Beginnt mit 1-2 kleinen Veränderungen (niedrige bis mittlere Anspannung). Beispiel: Partner*in bedient den Seifenspender nicht mehr - die betroffene Person übernimmt wieder selbst.
- Konkrete Absprachen: Was wird verändert? Wie lange wird Unsicherheit ausgehalten (z. B. 5-10 Min.)? Was hilft beim Aushalten? (Atem, Bodenkontakt, kurze Körperwahrnehmung)
- Rückfallfreundlich bleiben: Es ist normal, dass es Tage gibt, an denen es schwerer fällt. Kurz pausieren, nicht aufgeben, beim nächsten Mal erneut probieren.
Wittkamps offener Umgang mit seiner Erkrankung und seine humorvolle Art, darüber zu sprechen, machen sein Buch zu einer wertvollen Ressource für Betroffene und Angehörige. Es zeigt, dass man mit Zwangsstörungen leben kann und dass es Wege gibt, den Zwängen die Macht zu nehmen.
tags: #Peter #Wittkamp #Zwangsstörungen