Nähe und Distanz in der Psychiatrie

Die besondere Bedeutung von Nähe und Distanz in der Begegnung mit Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu definieren und dies auf Basis der Reflexion der eigenen persönlichen Identität in der professionellen Beziehungsarbeit mit ihnen zu berücksichtigen, ist ein wichtiger Aspekt in der Psychiatrie.

Empathie und die psychoanalytische Haltung

In der Psychotherapie versteht man unter Empathie die Fähigkeit, „mit den Augen eines anderen zu sehen und mit dem Herzen eines anderen zu fühlen“ (Alfred Adler). Dies ist nur zu erreichen, wenn der Analytiker für einige Zeit auf einen Teil seiner eigenen Identität verzichtet.

Der Analytiker muss in der psychoanalytischen Situation echt und natürlich sein, und sich deren „Künstlichkeit" und Professionalität bewusst bleiben. Der Analytiker muss dem Patienten gegenüber offen, echt und natürlich, und gleichzeitig distanziert und neutral sein.

Auf den ersten Blick mag die psychoanalytische Haltung als die Quadratur des Kreises erscheinen. Aber so befremdlich und ohne Vorbild ist sie bei genauerem Hinsehen nicht. Was echt und natürlich ist, ist nicht absolut, sondern hängt von der individuellen Beziehung und der jeweiligen Situation ab. Was einmal echt ist, mag ein andermal ein Affront sein. In der psychoanalytischen Situation ist es natürlich und echt, die Beziehung selbst zu hinterfragen und zu deuten. „Es ist anmaßend, in einer gesellschaftlichen oder familiären Situation unaufgefordert als Analytiker aufzutreten.

Übertragung und Gegenübertragung

Die Studierenden analysieren die Bedeutung der Ressourcenorientierung als Grundhaltung in der Begegnung mit Menschen mit psychischen Erkrankungen, beziehen persönliche und soziale Ressourcen (u. a. Familie, Berufsfeld, Peer Group, Selbsthilfegruppen) in den Pflege- und Behandlungsprozess mit ein und passen die Unterstützung bei Selbstpflege/Alltagskompetenzen krankheits-, alters-, entwicklungsentsprechend sowie Individuums- und situationsbezogen an (z. B. Zulassen von Eigenheiten unter Abwägen des ethischen Dilemmas von Fürsorge vs. Autonomie).

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Die Studierenden erläutern exemplarisch die Auswirkung unterschiedlicher kultureller, spiritueller und sozialer Aspekte auf das Selbstkonzept des Betroffenen sowie den Prozess der Beziehungsgestaltung in der Begegnung mit Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Die Studierenden erkennen situations- und entwicklungsspezifische Kommunikationseinschränkungen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, wählen bedarfsangepasst geeignete Kommunikationsformen und -hilfsmittel aus und setzen diese zielgerichtet ein. Die Studierenden erheben Unterstützungsbedarfe in der Beziehungsgestaltung, erkennen deren Auswirkung auf die Lebens- und Alltagswelt sowie Vorlieben, Kompetenzen des Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen; planen unter Berücksichtigung der eigenen Gefühls- und Bedürfnislage und der Reflexion des eigenen Anteils in der Begegnung entsprechende Interventionen im Sinne der gewaltfreien Kommunikation und setzen diese um.

Die Studierenden reflektieren im Beziehungsprozess die Werte, Realitäten, Gefühle und Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialem Leiden und analysieren diese und sprechen sie wertfrei an; sie erläutern exemplarisch anhand des Modells von Peplau den Prozess der Beziehungsgestaltung in der Begegnung mit Menschen mit psychischen Erkrankungen, vertreten anwaltschaftliches Handeln im Rahmen des Behandlungs-, Pflege- und Betreuungsprozesses auf Basis einer ethischen Reflexion und Verstehens psychischer Erkrankung, und wahren die Interessen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen.

Die Rolle der Medikation

In der Gesamtbehandlungsplanung nimmt die Medikation unter spezifischen Gesichtspunkten eine spezielle Bedeutung ein. Psychopharmaka gehören zu den spezifischsten und wirksamsten therapeutischen Mitteln der modernen Psychiatrie. Der/die Ärzt:in als zentrale/r Therapeut:in ist für die Durchführung der medikamentösen Therapie als Teil der Gesamtbehandlung zuständig.

Konkret bedeutet dies, dass sich der/die Verantwortliche mit der Bedeutung der Psychopharmakabehandlung für das tägliche Leben des/r Patient:in und dessen bzw. deren privaten, beruflichen und sozialen Beziehungen befassen muss. Dazu ist es weiters auch wesentlich, sich mit den jeweils anderen Therapiekonzepten bzw. ihrer kombinierten Anwendung auseinanderzusetzen, und Neuroplastizität, Neuroprotektion sowie Auswirkungen auf Lernprozesse entlang beispielsweise des episodischen und/oder semantischen Gedächtnisses mitzudenken.

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Die Bedeutung von Pharmaka für die therapeutische Beziehung haben Psychoanalytiker:innen ebenfalls lange Zeit nicht näher behandelt. Im deutschsprachigen Raum kam Danckwardt unter dem Aspekt objektbeziehungstheoretischer Annahmen zum Schluss, dass die biologische Wirkung des Psychopharmakons wesentlich davon abhängt, welche Bedeutung das Medikament in der therapeutischen Beziehung gewonnen hat.

Die Verschreibung eines spezifisch wirksamen Psychopharmakons bedeutet eine spezifische Intervention der/s Therapeut:in, ein Handeln mit bestimmten bewussten und unbewussten Motiven, und wird dementsprechend vom Patienten/von der Patientin erlebt und bewusst bzw. unbewusst verarbeitet. Das Handeln der/s Medikamentenverschreibenden ist in psychotherapeutischer Konzeption der Behandlungssituation als Intervention im Rahmen eines „Handlungsdialoges“ zu sehen; es ist als Äußerung der Gegenübertragung eine spezifische Antwort auf „projektive Manipulationen“ der/s Patient:in, der/die damit unbewusst individuelle intrapsychische Konflikte szenisch aktualisiert und externalisiert.

Meist ist es leichter, über ein Medikament zu sprechen, als über stark emotionale Inhalte, wie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit oder Ärger, die sich primär nicht auf das Medikament beziehen. In Zeiten der Regression findet häufig eine Externalisierung von Gefühlen unter Bezugnahme auf Medikamente statt.

Immer wieder werden anhand von Medikamentenbesprechungen ganz bestimmte Konflikte transparent. Als häufiges Thema tritt der Konflikt der Nähe-Distanz-Regulation auf und wird über die Besprechung der jeweiligen medikamentösen Therapie transportiert. Damit zeigt sich ein typischer Grundkonflikt der Schizophrenie, wie etwa auch von Searles 1974 und Racamier 1982 (zit.

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