Michael Stehr: Empathie in der Sozialen Arbeit – Normalisierung mit Gefühl?

Empathie nimmt im Selbstverständnis der Sozialen Arbeit einen zentralen Platz ein.

So heißt es etwa unter Punkt 5.4. des internationalen Code of Ethics: "Social workers should act in relation to the people using their services with compassion, empathy and care".

Die deutsche Übersetzung dieser Forderung lautet: "Sozialarbeiter/-innen sollen die Menschen, welche ihre Dienste nutzen, mit Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit behandeln."

Der englische Begriff "empathy" wird hier also mit "Einfühlungsvermögen" ins Deutsche übersetzt und in den Kontext der Begriffe "Mitgefühl" und "Achtsamkeit" gestellt.

Dabei wird zunächst eines klar: Empathie ist ein Begriff, der in der Sozialen Arbeit positiv bewertet wird.

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Das Problem einer Definition des Begriffs ‚Empathie‘ wird auf diesem Weg für die Soziale Arbeit jedoch nicht gelöst: Die eindeutig positive Bewertung des Begriffs ‚empathy‘/‘Einfühlungsvermögen‘ steht vielmehr in einem deutlichen Kontrast zur traditionellen Vagheit seiner Bedeutung (vgl. Fontius 2001: 121).

Auffällig ist hier auch, dass in den zwei großen deutschsprachigen Standard-Handbüchern der Sozialen Arbeit der Begriff Empathie nicht mit einem expliziten Eintrag gewürdigt wird (vgl. Otto/Thiersch 2011, Thole 2010).

Die Leitfrage dieser Untersuchung orientiert sich dabei an der Foucaultschen Machtanalytik (vgl. Anhorn/Bettinger/Stehr 2007): Inwieweit kann Soziale Arbeit als eine Form der Machtausübung durch Einfühlung aufgefasst werden - als eine ‚Normalisierung mit Gefühl‘?

Aus machtanalytischer Perspektive ist nämlich auffällig, dass der Empathie-Begriff von der strukturellen Ambivalenz der Sozialen Arbeit, die traditionell im ‚Doppelten Mandat‘ zwischen Hilfe und Kontrolle (vgl. Bakic/Diebäcker/Hammer 2009: 3) gefasst wird, unberührt zu sein scheint.

So wird im gegenwärtigen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit, das in Staub-Bernasconis Formel von der Sozialen Arbeit als "Menschenrechtsprofession" (vgl. Staub-Bernasconi 1995) zum Ausdruck kommt, eines deutlich: "Hilfe als soziale Empathie" steht hier im eindeutigen Gegensatz zur "Macht als soziale Kontrolle über Güter, Menschen und Ideen" (ebd.: 61).

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Gerade diese Selbstverständlichkeit, mit der Empathie scheinbar eindeutig der ‚Hilfe‘- und nicht der ‚Kontrolle‘ - zugeordnet wird, soll infrage gestellt werden.

Denn: War die "helfende Beziehung" (vgl.

Diese Frage nach der ‚Normalisierung mit Gefühl‘ soll dabei in den Kontext übergeordneter Diskurse zum Thema Empathie gestellt werden.

Zentral ist hier ein politisch wirkmächtiger, vulgarisierter Empathie-Begriff, der sich nicht nur im Code of Ethics findet, sondern auch in der populären Technik der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg (vgl. Rosenberg 2010).

Dem normativen, idealisierenden Empathie-Begriff bei Rosenberg soll in kritischer Absicht der deskriptive, empirische Empathie-Begriff gegenübergestellt werden, der von der Psychologin Doris Bischof-Köhler (vgl. Bischof-Köhler 1989 bzw. 1991) erarbeitet wurde.

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Ausgehend von Foucaults Machtanalytik soll schließlich der Empathie-Begriff kritisch beleuchtet werden, den die Soziale Arbeit insbesondere für das Case Work aus der Personzentrierten Psychotherapie nach Carl R. Rogers übernommen hat (vgl. Duttweiler 2007: 265, Galuske/Müller 2010: 495, Müller 2009: 314f).

Bei Rogers - einem Lehrer Rosenbergs - findet Empathie in der Form des Aktiven Zuhörens auch eine konkrete und beobachtbare Operationalisierung - als Technik der Gesprächsführung (vgl. Rogers 1980: 76ff).

Hier soll gezeigt werden, dass Rogers‘ Empathie-Begriff die Machtausübung in der ‚helfenden Beziehung‘ konsequent ausblendet.

Daraus entsteht die Notwendigkeit, für die Soziale Arbeit einen eigenen Empathie-Begriff zu entwickeln, der sich von idealisierenden Traditionen löst und stattdessen konsequent deskriptiv und empirisch gefasst ist.

Die Karriere des Empathie-Begriffs

Der Begriff ‚Empathie‘ hat in jüngerer Zeit ausgehend von den USA internationale Karriere gemacht - auch im deutschsprachigen Raum.

Politisch zentral und für diese Untersuchung relevant ist hier, dass der amerikanische Begriff ‚empathy‘ im Inventar einer vulgarisierten Soziologie die schon thematisierte positive Konnotation des ‚Mitgefühls‘ (s.o.) stets beibehielt - und somit zu einer "Heilskategorie" (Fontius 2001: 122) für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung wurde.

"Das spezifisch menschliche Vermögen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Freude und Ängste, Schmerz und Hunger von anderen wie eigene Gefühle zu empfinden, wird dabei als entscheidendes Gegengewicht zum animalischen Hang des egozentrischen Verhaltens begriffen, das freilich nur partiell entwickelt sei und durch gezielte Maßnahmen gestärkt werden müsse.

Die Frage ist nun, ob nicht auch die Soziale Arbeit an diesen moralisierenden und politisch fragwürdigen Empathie-Begriff anknüpft - und ihn somit in eine schon bestehende Tradition der ,Nächstenliebe als Beruf‘ (Sachße 1986: 258) stellt.

Soziale Arbeit wäre dann eine Form der Normalisierung durch Einfühlung, die in der Selbstbeschreibung der Profession als ‚Mitgefühl‘ aufscheint.

Die eingangs angeführten Zitate aus dem Code of Ethics und bei Staub-Bernasconi geben einen ersten Hinweis auf eine einseitig positive Bewertung von Empathie in der Sozialen Arbeit - stets als ‚Hilfe‘ und nie als ‚Kontrolle‘ oder ‚Machtausübung‘.

Wie schon erwähnt, wird diese Verwendung des Begriffs ‚Empathie‘ gerade durch die Vagheit seiner Bedeutung bei gleichzeitig positiver und somit identitätsstiftender Konnotation ermöglicht.

Hinter dieser Konnotation steckt eine große Erzählung (vgl.

Folgt man/frau dieser idealisierenden Deutung, so hätte die Internationale Soziale Arbeit im Sinne ihres Code of Ethics eine - ebenfalls identitätsstiftende - globale Aufgabe, nämlich genau diesen vermeintlichen Zerfall einer als ursprünglich gesetzten Ordnung durch ‚Empathie‘ zu bekämpfen: "The survival of the human species now appears to depend upon a universal increase in functional empathy" (Clark 1980: 187, zit. in Fontius 2001: 122).

Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg

Um die Problematik des oben geschilderten Empathie-Begriffs sichtbar zu machen, soll hier exemplarisch auf Marshall B. Rosenbergs populäre Methode der "Gewaltfreien Kommunikation" eingegangen werden.

Die moralisierende und idealisierende Bedeutung des Begriffs Empathie als ‚Mitgefühl‘ ist in der "Gewaltfreien Kommunikation" allgegenwärtig.

So definiert der Rogers-Schüler Rosenberg Empathie normativ als "respektvolles Verstehen der Erfahrungen anderer Menschen" (Rosenberg 2010: 113).

Auffällig - und aus einer professionellen und politischen Sicht höchst fragwürdig - ist dabei Rosenbergs ausgeprägter Anti-Intellektualismus: Um das Ziel dieses "respektvollen Verstehens" zu erreichen, müsse man/frau zunächst den "Verstand leermachen und mit dem ganzen Wesen zuhören" (ebd.: 113), denn: "Intellektuelles Verstehen blockiert Empathie" (ebd.: 115).

Aus der eingangs schon skizzierten machtanalytischen Perspektive macht Rosenberg die Konzeption von Empathie im Kontext des Doppelten Mandats der Sozialen Arbeit unmöglich: Denn Empathie muss in der "Gewaltfreien Kommunikation" stets ‚Hilfe‘ sein - ‚Kontrolle‘ lässt sich nicht thematisieren.

Dies wird an den offensichtlichen Schwierigkeiten erkennbar, die Rosenbergs Empathie-Konzept mit Differenz hat.

Die Vorstellung, dass ein ‚Nein‘ - etwa des/der KlientIn - eine berechtigte ,Zurückweisung‘ sozialarbeiterischer ‚Hilfe‘, ein unbedingt zu akzeptierendes ,Ich-möchte-nicht‘ sozialarbeiterischer Interventionen sein könnte, wird hier unmöglich.

Empathie nach Rosenberg kann also den KlientInnen der Sozialen Arbeit nur helfen - und bedeutet für die Soziale Arbeit eine vollkommene Ausblendung der strukturellen Asymmetrie zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn.

Ein ‚Nein‘ muss bei Rosenberg zum Objekt der ‚Empathie‘ werden - einer Normalisierung durch Einfühlung, die als ‚Mitgefühl‘ eindeutig positiv definiert wird: "Die Macht der Empathie" (Rosenberg 2010: 133-145) besteht laut Rosenberg in der "Empathie, die heilt" (ebd.: 133).

"Gewaltfreie Kommunikation" bedeutet also für die Soziale Arbeit: Empathie ist ‚Nächstenliebe‘ (vgl. Sachße 1986: 258), die heilt - von abweichendem Verhalten.

Außerdem ist "Gewaltfreie Kommunikation" eingebettet in ein implizites Narrativ von der ursprünglichen Güte des Menschen und einem daraus resultierenden antimodernen Affekt, der im ‚Mangel an Empathie‘ und in der ,Auflösung traditioneller Wertbeziehungen# (s.o.) die Ursache allen gegenwärtigen Übels sieht und somit an die Anfänge der Sozialen Arbeit erinnert (vgl.

Deskriptiver Empathie-Begriff nach Bischof-Köhler

Im Kontrast zum vorhin dargelegten normativen Empathie-Begriff soll nun ein deskriptiver Empathie-Begriff vorgestellt werden, wie er etwa bei der Psychologin Bischof-Köhler (vgl. Bischof-Köhler 1989 bzw. 1991) zu finden ist.

Deskriptive Empathie-Begriffe, die auf Empirie beruhen und die Möglichkeit von Ambivalenz und Differenz beinhalten, werden in implizit idealisierenden Diskursen marginalisiert (vgl. Bischof-Köhler 1991: 259).

Auf die Dominanz eines normativen Empathie-Begriffes geht Bischof-Köhler selbst kritisch ein und unterscheidet strikt zwischen ,empathy‘ (,Einfühlung‘) einerseits und ,sympathy‘ bzw. ,compassion‘ (,Mitgefühl‘) andererseits - im Gegensatz zur Gewaltfreien Kommunikation.

Bischof-Köhler stellt sich also gegen eine prosoziale Interpretation der Empathie und stellt die Empathiegenese in denselben phylogenetischen Kontext wie Sadismus (vgl. Bischof-Köhler 1989: 81, Bischof-Köhler 1991: 259).

Bischof-Köhler bietet so mit ihrem empirischen und psychoanalytisch orientierten Ansatz eine Möglichkeit der Kritik an den Begrifflichkeiten des Code of Ethics, weil sie hier explizit die dort implizierte Nähe von ,empathy‘ (,Einfühlung‘) zu ,compassion‘ (,Mitgefühl‘) infrage stellt: Empathie mit einer belasteten Person könne auch zu Schadenfreude und Aggression dieser Person gegenüber führen - je nach Qualität der Beziehung.

Die Fähigkeit zur Einfühlung könne also auch zum Gegenteil von Mitgefühl führen (vgl. Bischof-Köhler 1991: 259).

"However, the motives based on empathy are by no means only prosocial.

Empathy can very well be focused on the other person and still result in just the opposite of sympathy.

Whether empathic observers feel compassion with a distressed person depends on the kind of relationship they hold to this person.

If the relationship is bad, the same situation may trigger malicious gloating.

In this emotional response the empathically shared distress of the other person is at the same time enjoyed.

Likewise, the connection of aggression with empathy may result in antisocial consequences.

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