Die zeitgeschichtliche Forschung hat in den letzten Jahren die Rolle der Psychiatrie bei der Tötung behinderter und psychisch kranker Menschen thematisiert, wie im Fall des Heimes "Am Spiegelgrund". Die interdisziplinäre Publikation "Verfolgte Kindheit" versucht aufzuzeigen, dass das System der "Vernichtungspsychiatrie" nur im Kontext des gesamten Fürsorgewesens des NS-Systems zu verstehen ist.
Barbara Prammer stellte den von Ernst Berger herausgegebenen Sammelband "Verfolgte Kindheit" vor, der das Schicksal von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheimen, psychiatrischen Anstalten und Fürsorgeeinrichtungen vor, während und nach der NS-Zeit beleuchtet. Die Publikation zeigt, dass sich das System der "Vernichtungspsychiatrie" auf ein weitverzweigtes Netz stützte, welches das gesamte Fürsorgewesen umfasste und in der "schwarzen Pädagogik" der NS-Zeit wurzelte.
Ernst Berger skizzierte die Entstehungsgeschichte des Buches, dessen Vorarbeiten bereits im Jahr 2000 begonnen haben. Es wurde klar, dass die Ereignisse am Spiegelgrund nur die Spitze des Eisberges darstellten und dass hinter der Ermordung von behinderten und psychisch kranken Menschen ein System stand, das seinen Ausgang im Fürsorgewesen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts nahm und personell und strukturell noch lange bis nach dem Ende des NS-Regimes weiterwirkte.
Im Laufe der Jahre entstand ein Netzwerk der Aussonderung und Vernichtung, bei dem es allen beteiligten gesellschaftlichen Institutionen darum ging, eine Trennung zwischen "brauchbaren und unbrauchbaren" Menschen vorzunehmen. Man müsse Abschied nehmen von der Vorstellung, dass der Nationalsozialismus nur ein Betriebsunfall war, der im Jahr 1945 abgeschlossen wurde. Es sei wichtig, darauf zu achten, dass diese Trennung zwischen brauchbarem und unbrauchbarem Leben nicht wieder Platz greife, unterstrich Berger.
Gerhard Botz befasste sich mit der Unrechtstruktur im Nationalsozialismus und dem fehlenden Unrechtsbewusstsein vieler Menschen zu jener Zeit. Elisabeth Brainin berichtete von Gesprächen mit Überlebenden der Opfer vom Spiegelgrund und von den verschiedenen Blickwinkeln, die aus diesem Gesprächsmaterial gewonnen wurden. Sie betonte die bis heute anhaltenden Qualen der Überlebenden und hob die Bedeutung ihrer Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus hervor.
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Herwig Czech thematisierte die gerichtliche Aufarbeitung der NS-Zeit in den Nachkriegsjahren und setzte sich vor allem mit dem am Steinhof tätigen Arzt Heinrich Gross auseinander, der trotz seiner Beteiligung an der Ermordung vieler Kinder nach dem Krieg seine gesellschaftliche Karriere fortsetzen konnte.
Die Entwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge
Die dort praktizierte "schwarze Pädagogik" hat ihre Wurzeln in eugenischen und utilitaristischen Diskursen, welche die Entwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert begleiteten. Eine zentrale Stellung nahmen dabei Methoden der Intelligenzmessung ein, durch die das Entwicklungspotenzial von Kindern und Jugendlichen quantifizierbar gemacht werden sollte. Ursprünglich verfolgte die Intelligenzmessung sozialreformerische Absichten.
Entwicklungsstörungen, welche Kinder aus Gründen sozialer Benachteiligung aufwiesen, sollten von "angeborenen" Defiziten unterschieden werden. Das System der Fürsorge diente damit aber auch erklärtermaßen utilitaristische Zwecke, da man verhindern wollte, dass die Gesellschaft die Folgekosten von Verwahrlosung (Kriminalität, verminderte Arbeitsfähigkeit) zu tragen habe.
Die NS-Fürsorge trieb diese Vorgaben auf die Spitze, indem sie Menschen mit körperlichen und psychischen Defiziten ausschließlich als "Belastung" des Gemeinwesens definierte und sie als "lebensunwert" der Vernichtung preisgab.
Die Arbeiten des Sammelbandes behandeln die theoretischen Grundlagen der Kinder- und Jugendfürsorge, insbesondere die Entwicklung der Methoden zur "Intelligenzmessung", die Entwicklung des Fürsorgesystems der Gemeinde Wien ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, den institutionellen Ausbau während der Zwischenkriegszeit und die Eingliederung der Institutionen in das System der NS-Fürsorge nach 1938. Das Schicksal der Opfer und die Probleme der Überlebenden dieses Systems nach 1945 wird anhand von zahlreichen Fallgeschichten illustriert.
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Mädchengewalt und Antisoziale Neigungen
Junge Menschen, die Gewalt gegen andere ausüben, sehen diese häufig als Mittel zum Selbstschutz. Mädchen agieren seltener offen körperlich gewalttätig als Jungen bzw. Männer, weil sie für dieses Verhalten sozial weniger verstärkt werden. Während Burschen bis heute zugestanden wird, sich zu raufen, und dies oft als Teil ihrer normalen Entwicklung verstanden wird, wird das gleiche Verhalten bei Mädchen seltener toleriert und früher sanktioniert. So lernen Mädchen oft schon früh, Aggressionen indirekter oder auch verdeckter auszudrücken als Jungen.
Gewalttätige Kinder und Jugendliche, auch Mädchen, weisen deutliche Defizite in ihrer Persönlichkeits-, emotionalen und sozialen Entwicklung auf. Hiervon betroffen sind u. a. die Entwicklung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit, Mitgefühl und Moral sowie die Verhaltenssteuerung. Kinder, die komplexen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko dafür, gewalttätig zu werden. Das Risiko für Kinder, unabhängig vom Geschlecht, steigt also, wenn sie schon früh im Leben körperlicher oder sexueller Gewalt oder emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt sind oder Zeugen von Partnerschaftsgewalt der Eltern werden.
Das durch diese Entwicklungsdefizite bedingte schwache Selbstwert- und Selbstwirksamkeitserleben begünstigt, dass diese Kinder und Jugendlichen sich sehr schnell durch vermeintliche Kleinigkeiten in ihrem Selbstwert bedroht sehen. Diese Bedrohung können sie als so existenzielle Kränkung erleben, dass ihnen jedes Mittel recht ist, um sie zu beenden. Gewalt erscheint ihnen oft als die einzige Möglichkeit, Kontrolle herzustellen und Gefahren für sich abzuwenden - in der Regel haben sie es selbst so erlebt.
Neben der körperlichen und geistigen Entwicklung sollte der Fokus auch auf die Persönlichkeits-, emotionale und soziale Entwicklung gelegt werden. Zeigen sich hier altersuntypische Auffälligkeiten, müssen die Zusammenhänge und Hintergründe eruiert werden, um die Kinder angemessen zu unterstützen und zu fördern. Sehr häufig bedeutet Gewaltprävention die Prävention bzw. Beendigung von Gewalt - auch Partnerschaftsgewalt der Eltern, Missbrauch und Vernachlässigung.
Grundsätzlich ist es aber auch so, dass sich antisoziale Neigungen schon im Kindes- und Jugendalter in der Persönlichkeit zeigen und mitursächlich für derart brutale Taten sein können.
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Reue und Empathie
Echte Reue empfinden gewaltausübende Kinder und Jugendliche in aller Regel nach ihren Taten nicht. Das hängt mit den oben beschriebenen Entwicklungsdefiziten zusammen. Typischerweise können diese Kinder und Jugendlichen nur ihre eigene Perspektive sehen und nicht die anderer Menschen. Die eigene Tat erscheint ihnen gerechtfertigt und legitim. Nicht selten erwarten sie auch von ihrem Umfeld Verständnis für ihr Handeln, welches ihnen oft alternativlos erscheint.
Durch gesellschaftliche Reaktionen kommt es dann aber oft zu einem großen Erschrecken und unter Umständen auch zu einem Bedauern der Taten. Dabei handelt es sich aber eher nicht um ein echtes Erfassen der Tat in ihrem gesamten schrecklichen Ausmaß oder gar Empathie mit den Opfern, sondern um die Realisation, dass die Tat nun negative Konsequenzen für die Täterin selbst hat. Hinzu kommt die zusätzliche Kränkung, nicht wie erwartet für die Tatausübung verstanden zu werden, sondern vielmehr abgelehnt und sanktioniert zu werden. Die emotionalen Reaktionen darauf und das Bedauern der Tat daraufhin können auf den ersten Blick nach echter Reue aussehen.
Cybermobbing und Hass im Netz
Die Thematik Cybermobbing sei aktueller denn je. Als Beispiel wurde der Fall der ermordeten Luise in Deutschland genannt, die zuvor wochenlang gemobbt worden sein soll. In sozialen Netzwerken wurden von teils anonymen Nutzern zahlreiche Spekulationen und auch Drohungen und Hass gegen die beiden mutmaßlichen Täterinnen veröffentlicht.
Die Behörden haben dafür gesorgt, dass Seiten der beiden tatverdächtigen Mädchen in sozialen Netzwerken nicht mehr auffindbar sind. Polizei und Staatsanwaltschaft sehen sich auch veranlasst, gegen Falschmeldungen in die Offensive zu gehen.
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