Die Behandlung von Patient:innen mit affektiven Störungen - ob unipolare Depression oder Depression im Rahmen einer bipolaren Störung - stellt Therapeut:innen immer wieder vor das Problem, dass selbst bei optimaler Therapie nicht alle Patient:innen Remission erreichen. Das Problem reicht von residuellen Symptomen über partielles Ansprechen bis hin zu komplett fehlendem Therapieansprechen. Bis zu 33% der Patient:innen mit einer schweren depressiven Symptomatik erreichen auch nach mehreren medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungsversuchen keine volle Remission.
Das stellt ein klinisch relevantes Problem dar, da diese Symptome mit erhöhter Suizidalität, erheblichen primären und sekundären Gesundheitskosten und für die betroffenen Personen mit erheblichen Funktionseinschränkungen und Leid einhergehen.
Therapieresistente Depression oder schwer zu behandelnde Depression?
Der Begriff der therapieresistenten Depression (TRD) wird bereits verwendet, wenn in der aktuellen depressiven Episode mindestens zwei verschiedene Antidepressiva in ausreichender Dosierung und Dauer angewendet wurden, ohne dass es zu einer Verbesserung der Symptome gekommen ist. Der Begriff TRD bezieht sich nur auf die akute Behandlungsphase und berücksichtigt nicht die persönlichen Faktoren der Patient:innen (wie zum Beispiel genetische Prädisposition, soziale Umstände etc.) und die Krankheitsfaktoren (unipolare Depression oder bipolare Depression, psychiatrische Nebendiagnosen wie zum Beispiel Abhängigkeitserkrankungen, somatische Nebendiagnosen etc.).
Diese Faktoren spielen jedoch eine wichtige Rolle für den Genesungsprozess. Der Begriff TRD wird der Komplexität des klinischen Alltags nicht gerecht und eignet sich nicht dafür, die für die Patient:innen optimalen therapeutischen Schritte einzuleiten. Auf Patient:innen wirkt der Begriff TRD häufig abschreckend und weckt Gefühle von Hoffnungslosigkeit, obwohl es sicherlich nach nur zwei Behandlungsversuchen noch etliche weitere Therapiemöglichkeiten gibt.
Der Begriff «difficult to treat depression» (DTD) berücksichtigt die oben genannten Faktoren und scheint besser geeignet, die komplexen klinischen Situationen zu erfassen.
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Die Rolle von Ketamin in der Antidepressivaforschung
Zwischen 1950 und 1990 wurden die heute gängigen Antidepressiva entdeckt. Die Wirkweise dieser Medikamente beruht auf der Monoaminhypothese. Diese postuliert als Ursache von Depressionen einen relativen Mangel an Monoaminen (z.B. Serotonin und Noradrenalin). Der Wirkeintritt dieser Antidepressiva kann mehrere Wochen dauern.
Mit der Arbeit von Trullas und Skolnick aus dem Jahre 1990 rückte zum ersten Mal die glutamaterge Transmission in den Fokus der Antidepressivaforschung, als diese in einer Tierstudie belegten, dass NMDA-Rezeptor-Antagonisten einen schnellen antidepressiven Effekt erzielen können. Ins Zentrum dieser Forschung rückte bald der bekannte NMDA-Rezeptor-Antagonist Ketamin und damit ein Medikament, das bereits 1962 synthetisiert worden war und mit dem eine jahrzehntelange klinische Erfahrung in der Anästhesiologie bestand.
Frühe Studien zur Wirksamkeit von Ketamin
Im Jahr 2000 wurde in einer Arbeit von Berman und Capiello zum ersten Mal der binnen weniger Stunden einsetzende antidepressive Effekt von i.v. appliziertem Ketamin in subanästhetischer Dosis gezeigt. In einer Studie von Murrough et al. aus dem Jahr 2013 wurde gezeigt, dass der antidepressive Effekt nach einer einmaligen Ketamininfusion bis zu sieben Tage anhalten kann. Wilkinson et al. belegten 2018 auch eine rasch einsetzende antisuizidale Wirkung von Ketamin.
Esketamin: Ein vielversprechender Kandidat
Auf der Suche nach einem NMDA-Rezeptor-Antagonisten mit schnellem antidepressivem Wirkungseintritt und möglichst wenigen Nebenwirkungen erschien Forschern das Enantiomer Esketamin als attraktiver Kandidat. In den Jahren 2018 und 2019 wurden mehrere grosse Phase-III-Studien zur nasalen Anwendung von Esketamin bei Patient:innen mit TRD veröffentlicht, was in den USA 2019 und in der Schweiz 2020 zur Zulassung von Esketaminnasenspray zur Behandlung von TRD führte.
Anwendungsbeschränkungen und Durchführung der Esketaminbehandlung
Seit mittlerweile vier Jahren besitzt nasales Esketamin in der Schweiz die Zulassung zur Therapie von schwer zu behandelnden Depressionen. Diese noch relativ neue Option hat sich in der Zwischenzeit bereits in vielen Behandlungseinrichtungen etabliert. Die Behandlungen solltenan spezialisierten Zentren erfolgen.
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Die aktuell geltende Anwendungsbeschränkung für Esketaminnasenspray gibt vor, dass eine mittel- bis schwergradige Depression bestehen muss, bereits die Gabe von zwei verschiedenen Antidepressiva in ausreichender Dauer und Dosis sowie ein Augmentationsversuch mit Lithium oder einem atypischen Antipsychotikum durchgeführt worden sein müssen. Auch muss eine deutliche Funktionseinschränkung aufgrund der Depression bestehen, mit einem CGI-S(Clinical Global Impression of Severity)-Wert von mindestens 5.
Ausserdem muss im Antrag auf Kostengutsprache dazu Stellung bezogen werden, warum evidenzbasierte interventionell-psychiatrische Verfahren wie die Elektrokonvulsionstherapie nicht angewendet werden können. Die Behandlung mit Esketaminnasenspray kann bislang in der Schweiz nur an vom BAG zugelassenen Zentren durchgeführt werden.
Eine erste Kostengutsprache wird bei erfüllter Limitatio in der Regel für vier Wochen gegeben, in denen die Patient:innen idealerweise acht Behandlungssitzungen erhalten. Eine Sitzung dauert mindestens zwei Stunden, da die Patient:innen nach Einnahme des Sprays gemäss Vorgaben mindestens für diese Zeit kardiopulmonal von medizinisch qualifiziertem Personal überwacht werden müssen. Nach den Behandlungen besteht für die Patient:innen erst am nächsten Tag wieder Fahrtauglichkeit.
Sollte sich in diesen ersten vier Behandlungswochen eine Response einstellen (der CGI-S-Wert muss mindestens in zwei Verlaufsmessungen um zwei Punkte gesunken sein), kann eine Verlängerung der Kostengutsprache beantragt werden. Dies ist sinnvoll, um bei Patient:innen, die einen signifikanten antidepressiven Effekt durch Esketaminnasenspray erleben, eine Erhaltungstherapie durchführen zu können, was nachweislich das Rückfallrisiko signifikant senken kann.
Wichtig ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass Esketaminbehandlungen bislang nicht als Langzeitbehandlungen von mehr als zehn Monaten angeboten werden können und mangels Datenlage auch nicht sollten. An den meisten Zentren werden in der Schweiz Behandlungszyklen von maximal zwei bis drei Monaten mit Esketamin durchgeführt. Bei den Patient:innen, die eine Verbesserung ihrer Symptome erleben, können diese Effekte über mehrere Monate oder manchmal auch noch länger stabil bleiben. Sollte es jedoch erneut ein Rezidiv geben, kann erneut ein Behandlungszyklus mit Esketaminspray sinnvoll sein.
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An diversen Zentren und auch in manchen Praxen wird statt mit Esketaminnasenspray auch mit nasalem Ketamin oder intravenösem Ketamin gearbeitet. Hierbei handelt es sich um Off-Label-Anwendungen.
Kontraindikationen und Nebenwirkungen
Eine Schwangerschaft, eine bekannte aneurysmatische Erkrankung, eine Hirnblutung in der Vorgeschichte oder ein kardiovaskuläres Ereignis in den letzten Wochen stellen Kontraindikationen für den Einsatz von (Es-)Ketamin dar. Ausserdem sollte die Anwendung bei Patient:innen mit aktuellen Substanzstörungen oder psychotischen Episoden in der Vergangenheit nur zurückhaltend erfolgen.
Insgesamt ist (Es-)Ketamin in der Behandlung von TRD bzw. DTD eine nebenwirkungsarme Behandlung, da das Medikament eine kurze Halbwertszeit besitzt und nach zwei Stunden die akuten Effekte bereits weitgehend abgeklungen sind. Zu den akuten (Neben-)Wirkungen von (Es-)Ketamin können dissoziatives Erleben, Schwindel, Kopfschmerzen, Anstieg von Blutdruck, Übelkeit und Erbrechen gehören, aber es muss auch davon ausgegangen werden, dass (Es-)Ketamin abhängig machen kann und - wie bei jedem neu begonnenen Antidepressivum - am Anfang der Behandlung Suizidalität neu auftreten oder verstärkt werden kann.
Insbesondere über diesen letzten Punkt müssen die Patient:innen vor Behandlungsbeginn aufgeklärt sein und die Überprüfung von Suizidalität muss am Ende jeder (Es-)Ketaminbehandlung erfolgen. Anhaltend psychotische Symptome sind in der Regel nicht zu erwarten.
Die meisten Patient:innen mit Depressionen empfinden die Behandlungssitzungen als angenehm und erleichternd. Manche Patient:innen - insbesondere solche mit einem hohen Kontrollbedürfnis - können auf die dissoziativen Effekte auch mit Angst oder Panik reagieren. Manche Patient:innen erleben die (Es-)Ketaminsitzungen als wichtige emotionale Erfahrung, können teils lange verdrängte oder vergessene Erinnerungen reaktivieren oder auch psychedelische oder mystische Erfahrungen machen.
Diese Erfahrungen drängen meist danach, in psychotherapeutischen Sitzungen verarbeitet zu werden. (Es-)Ketaminbehandlungen sollten immer in laufende Psychotherapien eingebettet sein. Neben diesen Aspekten ist auch zu berücksichtigen, dass (Es-)Ketamin die Neuroplastizität erhöht. Dies könnte bedeuten, dass Patient:innen während einer (Es-)Ketaminbehandlung besonders sensibel für psychotherapeutische Interventionen sind. Leider ist die Literatur bzgl. der zu favorisierenden Psychotherapietechnik sehr heterogen und es ist derzeit nicht möglich, hierzu evidenzbasierte Empfehlungen abzugeben.
Schlussfolgerung
(Es-)Ketamin ist eine relativ neue und zunehmend verbreitete Behandlungsoption für Patient:innen mit TRD/DTD. Etwa 30% dieser Patient:innen reagieren mit einer signifikanten Symptomreduktion auf eine (Es-)Ketamintherapie. Bei Einhaltung der notwendigen Vorsichtsmassnahmen und Kontraindikationen überwiegt der mögliche Nutzen gegenüber den Risiken und es ergibt sich eine wichtige Ergänzung der Behandlungsmöglichkeiten. Eine (Es-)Ketaminbehandlung kann bereits nach zwei medikamentösen Behandlungsversuchen in Erwägung gezogen werden.
(Es-)Ketamin wurde in verschiedenen Studien und Metaanalysen in den letzten Jahren mit anderen antidepressiven Behandlungsoptionen verglichen, was teils zu etwas plakativen Behauptungen bezüglich der Wirksamkeit geführt hat. Festzuhalten ist, dass (Es-)Ketamin eine sinnvolle Ergänzung zu den uns zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten ist, aber keine der bereits verfügbaren Therapien ersetzt hat.
Wie eine Metaanalyse von 2023 von Menon et al., veröffentlicht in JAMA Psychiatry, gezeigt hat, ist bei Patient:innen mit einer schweren depressiven Episode weiterhin insgesamt Elektrokonvulsionstherapie als wirkungsstärkere Therapie anzusehen. Daraus ist nicht abzuleiten, dass EKT per se die bessere Behandlung ist. In der klinischen Praxis erlebt man Fälle, die nicht auf EKT, aber sehr gut auf (Es-)Ketamin ansprechen und andersherum. Es bleibt «difficult (to treat)», aber eben doch meistens möglich, eine Verbesserung der psychischen Symptome der Patient:innen zu erreichen.
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