Über Generationen hinweg gibt es eine Tendenz, Beziehungsmuster, Erlebens- und Verhaltensweisen zu wiederholen. Schweren seelischen Störungen scheinen oft Traumatisierungen oder psychischen Erkrankungen im Familiensystem vorauszugehen. Bereits vor einigen Jahren wurden intensive Diskussionen rund um die Frage geführt, ob unsere Gene und/oder diverse Umwelteinflüsse die Ursache für psychische Störungen sind.
Genetische Grundlagen und Vererbung
Mit Hilfe von Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien sowie molekularbiologischen Laborverfahren versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rund um den Globus, die Gene für psychische Störungen wie Schizophrenie, bipolare Störungen, Depression, Demenz, Angsterkrankungen oder Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung [ADHS] zu identifizieren. Dabei hat sich gezeigt, dass es nicht nur jeweils ein Gen gibt, sondern viele Gene, die zur Krankheitsentstehung beitragen. Bei Schizophrenie ist Heritabilität, also die Vererbbarkeit dieser psychischen Erkrankung, beispielsweise besonders groß, bei Depression immerhin mittelgroß. Aber auch bei Störungen wie Alkoholabhängigkeit oder Traumata spielen genetische Faktoren eine nicht unbedeutende Rolle.
Volkskrankheiten und ihre Ursachen
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass Schizophrenie, Traumata oder Depressionen längst als Volkskrankheiten gelten. In Deutschland beispielsweise durchlebt mehr als jede•r vierte Erwachsene innerhalb eines Jahres eine psychische Störung. Mittlerweile sind sie der dritthäufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit.
Das biopsychosoziale Modell
Es gibt viele Gründe, warum die psychische Gesundheit von Menschen leiden kann und sich zu einer Erkrankung entwickelt. Jeder Mensch ist von einem biopsychosozialen Modell umgeben, deren Bezeichnung auf drei Lebensbereiche verweist:
- bio - Körper
- psycho - Verhaltensmuster, Denkprozesse, Bewältigungsstrategien
- sozial - Familie, Schule, Wohnort, Freund:innen, Umfeld
Genetische Überschneidungen
Bei manchen psychischen Erkrankungen gibt es tatsächlich genetische Überschneidungen: So können beispielsweise Depressionen, bipolare Störungen, ADHS - Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung - oder Schizophrenie vererbt werden. Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, bei denen ein Elternteil mit einer psychischen Erkrankung lebt, hat ein höheres Risiko.
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Sensibilität und soziale Faktoren
Wenn man sehr sensibel ist, ist man verletzlicher - in der Fachsprache wird das als Vulnerabilität bezeichnet. Entsteht eine psychische Herausforderung in nur einem Bereich, kann man diese meist noch bewältigen. Doch bei Belastungen in mehreren Bereichen - zum Beispiel schulische Probleme und Scheidung der Eltern - geraten Menschen oft aus der Balance.
Depressionen im Kindes- und Jugendalter
Oft gar nicht oder zu spät entdeckt und gesellschaftlich weitgehend unbeachtet: Über Depressionen im Kindes- oder Jugendalter wird nicht gern gesprochen. Dabei würden die Betroffenen genau davon profitieren. Denn die Krankheit kann schon im frühesten Kindesalter auftreten, selbst Säuglinge können depressive Stimmung haben. Es handelt sich dabei nach Angststörungen um die am zweithäufigsten auftretende psychische Erkrankung von Kindern und Jugendlichen.
Getarnte Symptome
Im Kindesalter versteckt sich die Krankheit jedoch oft hinter Symptomen, die man nicht automatisch mit einer Depression verbinden würde - das Krankheitsbild ist ein ganz anderes als bei Erwachsenen. Je früher eine Depression auftritt, desto körperlicher äußert sich diese. So können die Symptome bei kleinen Kindern Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen sein. Auch Schlaf- und Essstörungen, aggressives Verhalten, ein Mangel, sich zu freuen, und Spielunlust könnten Hinweise auf die Krankheit sein. Dementsprechend schwierig ist die Krankheit im Kindesalter zu diagnostizieren - zumal sie in Phasen verläuft. Die Symptome können kommen und gehen, es kann immer wieder auch symptomfreie Intervalle geben.
Ursachen im Kindes- und Jugendalter
Ähnlich vielfältig wie die Symptome sind die Ursachen, die dazu führen, dass schon kleine Kinder und Jugendliche an Depressionen erkranken. Es können familiäre Gründe sein wie Vernachlässigung, psychische Erkrankung der Eltern, Armut oder Bindungsdefizite. Auch einschneidende Erlebnisse wie Trennung, Missbrauch, Krankheit, Trauma oder Mobbing sind als Ursachen möglich. Die Depression kann aber auch vererbt sein oder biologische Gründe haben, indem etwa eine Neurotransmitterstörung vorliegt, also ein Ungleichgewicht bei Botenstoffen im Gehirn.
Häufigkeit und Heilbarkeit
Auch wenn Kinder bereits im frühesten Alter Depressionen entwickeln können, ist es erst ab dem mittleren Erwachsenenalter ein wirklich großes Thema. So erkranken etwa drei Prozent der Kinder an Depressionen, bei etwa gleicher Verteilung auf Mädchen und Burschen. Die Zahl nimmt dann mit dem Alter zu, und auch die Verteilung ändert sich - Depression ist dann eine Frauenkrankheit. Im Jugendalter tritt sie bereits bei bis zu 6,4 Prozent der Menschen auf - in überwiegender Zahl bei Mädchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine erwachsene Frau irgendwann in ihrem Leben an einer Depression erkrankt (Lebenszeitprävalenz), liegt dann bereits bei zehn bis 20 Prozent, bei Männern „nur“ zwischen fünf und zwölf Prozent. Die Annahme, dass ein Kind mit depressiven Neigungen automatisch auch im Erwachsenenalter mit Depressionen zu kämpfen hat, stimmt allerdings nicht. Im Unterschied etwa zu ADHS seien Depressionen „absolut heilbar“.
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Behandlungsmöglichkeiten
Mittel erster Wahl sei die Psychotherapie, im Fall von Kindern werden dabei meist auch die Eltern intensiv miteinbezogen. Schwere Depressionen machten jedoch oft auch eine medikamentöse Behandlung nötig. Gerade wenn es massive Selbstmordgedanken oder sogar -versuche gibt, müsse man außerdem auch über einen stationären Aufenthalt nachdenken.
Medikamentöse Behandlung
Grundsätzlich sei man in Österreich bei der Antidepressivaverschreibung aber „sehr auf der sicheren Seite“. Mit anderen Ländern verglichen sei Österreich mit Frankreich das Land mit dem geringsten Psychopharmakaverbrauch. Gerade die Kinder- und Jugendpsychiatrie sei „sehr wenig“ von Pharmaunternehmen unterminiert.
Bipolare Störungen
Hin und wieder nicht gut drauf zu sein oder Stimmungsschwankungen zu haben, gehört zum täglichen Leben - auch bei Kindern und Jugendlichen. Zudem kommt es im Lauf des Erwachsenwerdens immer wieder zu Phasen, in denen die Stimmung sich verändert. Ist die Stimmung jedoch stark und länger getrübt oder wechselt sie zwischen Extremen, könnte eine Depression bzw. bipolare Störung die Ursache dafür sein. Mädchen sind häufiger davon betroffen als Jungen.
Symptome bei Depressionen
Bei einer Depression kommt es vor allem zu Phasen mit niedergedrückter Stimmung, Interesselosigkeit und vermindertem Antrieb. Diese Phasen werden auch als depressive Episoden bezeichnet. Bei Kindern und Jugendlichen dauern diese meistens länger als bei Depressionen im Erwachsenenalter. Zu den wichtigsten Symptomen einer Depression zählen durchgängige Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit sowie Verlust von Interessen, die früher Freude gemacht haben (z.B. Freundinnen und Freunde treffen, Hobbys). In jedem Alter sind auch körperliche Symptome möglich, zum Beispiel Bauchschmerzen. Ebenso können in jedem Alter Schlafstörungen und Essstörungen auftreten.
Symptome bei bipolaren Störungen
Die ersten Symptome einer bipolaren Störung treten häufig bereits im Jugendalter oder jungen Erwachsenenalter auf. Eine bipolare Störung vor dem zehnten Lebensjahr ist sehr selten. Bei Jugendlichen mit einer bipolaren Störung wechseln sich die Stimmungen häufiger ab als bei Erwachsenen. Zudem kommt es öfter zu Psychosen. Die gehobene Stimmung bei manischen Episoden ist schwieriger als bei Erwachsenen zu erkennen. Sehr riskantes Verhalten, z.B. Die depressiven Episoden äußern sich wie bei einer Depression.
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Diagnose und Behandlung
Die Ärztin oder der Arzt erhebt in einem Gespräch die bisherige Krankengeschichte (Anamnese). Dabei werden auch Eltern bzw. erziehungsberechtigte Personen miteinbezogen. Es erfolgt zudem eine körperliche Untersuchung. Bei der Diagnose nimmt die Ärztin oder der Arzt auch Rücksicht auf mögliche Probleme aufgrund der Entwicklung. Zum Beispiel auf die Besonderheiten in der Pubertät. Ein Fragebogen kann helfen, die für Depression oder bipolare Störungen typischen Symptome zu erheben. Eine möglichst frühe Diagnosestellung und Behandlung wirkt sich vorteilhaft auf den weiteren Verlauf einer Depression oder bipolaren Störung aus. Die Behandlung richtet sich nach der jeweiligen Diagnose und dem Schweregrad der Symptome. Regelmäßige ärztliche Kontrollen ermöglichen es, die Behandlung möglichst optimal zu gestalten und Rückfällen vorzubeugen.
Medikamente bei Depressionen und bipolaren Störungen
Sind die Symptome einer Depression stärker ausgeprägt, kann die Ärztin oder der Arzt Medikamente verschreiben. Dabei kommt ab acht Jahren der Wirkstoff Fluoxetin zum Einsatz. Bei der Behandlung von depressiven Episoden einer bipolaren Störung mit Medikamenten achtet die Ärztin bzw. der Arzt neben der Behandlung der Symptome einer Depression auch besonders auf die nachhaltige Stabilisierung der Stimmung. Dabei kommen Antipsychotika zum Einsatz. Es können auch sogenannte SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) zur Anwendung kommen - allerdings gemeinsam mit einem Antipsychotikum.
Psychotherapie
In der Psychotherapie lernen betroffene Kinder und Jugendliche, mit der Erkrankung besser zurechtzukommen. Sie können zudem in vertrauensvollem Rahmen über ihre Probleme sprechen. Bei Kindern und Jugendlichen kommen auch spielerische Elemente bei einer Psychotherapie zum Einsatz. Die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut stimmt die Arbeitsweise auf das jeweilige Alter ab. Eine Psychotherapie ist auch in der Gruppe möglich.
Gesellschaftliche und individuelle Faktoren
Studien haben gezeigt, welche psychosozialen Belastungen als Risikofaktoren betrachtet werden müssen. Gleichzeitig kann anderen Faktoren protektive Wirkung zugesprochen werden. Neben individuellen Bedingungen müssen auch Entwicklungen auf gesellschaftspolitischer Ebene im Hinblick auf eine wesentliche Rolle in der Pathogenese psychischer Alterationen in Betracht gezogen werden. So wurde beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Armut und Depression gefunden.
Risikofaktoren
Besondere Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen sind ein niedriger sozioökonomischer Status, schlechte Schulbildung der Eltern, schlechte Wohnverhältnisse, psychische Erkrankungen innerhalb der Familie (hier nicht im Sinne der genetischen Weitergabe, sondern im Sinne des Miterlebens der Erkrankung der Eltern), aber auch schwerwiegende körperliche Erkrankungen der Eltern spielen eine wesentliche Rolle. Pathogene Kommunikationsstrukturen mit ausgeprägten emotionalen Spannungen, die oft über lange Zeit (oft über Jahre und Jahrzehnte) bestehen, können hier wesentlich mit bedingend sein und natürlich auch Verluste von wichtigen Bezugspersonen. Als besonderer Risikofaktor in diesem Zusammenhang hat sich auch die Rolle der allein erziehenden Mutter ohne soziale Einbettung herausgestellt. Es finden sich aber auch Hinweise, dass der geringe Altersunterschied zwischen Geschwistern, wenn dieser weniger als 1 ½ Jahre ist, ungünstig wirkt.
Gesellschaftliche Entwicklungen
Eine ganz wesentliche, psychisch belastende, soziale Entwicklung dürfte darin liegen, dass sich die familiären Strukturen in unserer Gesellschaft völlig verändern. Die Entwicklung geht eindeutig hin zu immer weniger Kindern in den Familien. Der Anteil an Familien mit 3 und mehr Kindern liegt bereits deutlich unter 10%, Ehepaare ohne Kinder machen bereits fast 40% aus. Oben wurde ausgeführt, dass aus Studien bekannt ist, dass die Rolle der allein erziehenden Mutter ohne soziales Netz tatsächlich ein Belastungsfaktor für die Entwicklung psychischer Erkrankungen darstellt, sowohl bei der Mutter als auch bei den Kindern.
Weitere gesellschaftspolitische Faktoren
Neben diesen individuellen Bedingungen, die natürlich auch gesellschaftspolitisch mit bedingt sind, gibt es zahlreiche gesellschaftspolitische Entwicklungen und Faktoren, die wesentlich zur Entwicklung psychischer Störungen beitragen. Dazu gehören, und dies sei hier nur schlagwortartig aufgelistet, vor allem die Reizüberflutung durch Medien und die Sexualisierung der Gesellschaft.
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass immer mehr, und dafür gibt es Zahlen, Menschen die Diagnose einer psychischen Erkrankung erhalten und auch die Gesundheitssysteme zur Behandlung eben dieser Erkrankungen in Anspruch nehmen. Das kann damit zu tun haben, dass diese Krankheiten tatsächlich häufiger auftreten, aber auch damit, dass sie einfach häufiger erkannt und häufiger behandelt werden. Es wird möglicherweise, dies ist nur eine Vermutung, eine Mischung aus beidem sein.
Veränderungen im Laufe der Zeit
Völlig außer Zweifel steht die Zunahme an Erkrankungen aus dem Demenzkreis. Durch die Überalterung der Bevölkerung in den zivilisierten Staaten nehmen Alterserkrankungen generell zu und hier natürlich im Speziellen die Demenzen. So nimmt die Alzheimererkrankung dramatisch zu. Wenn man so will, ist auch diese Entwicklung eine gesellschaftlich bedingte, weil es durch die sozialen Rahmenfaktoren zu einer Zunahme der Lebenszeit gekommen ist und damit auch zur Entwicklung dementieller Erkrankungen. Dies ist aber ein negativer Aspekt aus einer prinzipiell positiven Entwicklung, nämlich einer Zunahme des Lebensalters.
Handlungsbedarf
Ganz wesentlich ist es natürlich im Primärbereich, das heißt niederschwellig bei praktischen Ärzten, bei psychosozialen Einrichtungen entsprechend professionelle Hilfe anzubieten. Es ist wichtig, dass weltweit ein Zugang zu Psychopharmaka besteht, dass auch in Ländern der Dritten Welt alle modernen Präparate zur Verfügung stehen. Es geht darum gemeindenah Hilfe anzubieten. Dazu bedarf es aber auch entsprechend geschulten Personals, um dies zu bewerkstelligen. Dies kann wieder nur in die Wege geleitet werden, wenn es einen entsprechenden politischen Willen gibt, sich damit auseinanderzusetzen und auch Schwerpunkte zu setzen.
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