Politiker wie Christoph Lauer und Prominente wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Eckart Hirschhausen oder Paris Hilton haben ihre ADHS-Diagnose öffentlich gemacht. Lange hielt Paris Hilton ihre Diagnose geheim. Heute ist die Reality-TV-Ikone froh über die Besonderheiten, die ADHS, die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, in ihrem Leben mit sich bringt.
In einem Essay für „Teen Vogue“ schreibt Paris: „Anfangs fühlte sich meine Diagnose wie ein Etikett an - etwas, das mich einengte und mich anhand der Dinge, die ich nicht tun konnte, die mich anders machten, definierte. Ich hielt es lange Zeit geheim und machte mir Sorgen darüber, wie es wahrgenommen werden könnte.“
Ihre größte Sorge: „Würden die Leute denken, dass ich zu zerstreut bin, zu unfokussiert oder unfähig Erfolg zu haben? Aber diese Herausforderungen sind nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite zeigt etwas Schönes: Kreativität, Leidenschaft, Widerstandsfähigkeit und einen Kopf, der auf mutige, unerwartete Weise denkt.“ Ihrer ADHS-Diagnose kann Paris daher auch viele positive Dinge abgewinnen.
„ADHS ist keine Einschränkung“, stellt sie in ihrem Text weiter klar. „Es ist eine Superkraft. Es ist meine Geheimwaffe in einer Welt, die uns häufig sagt, dass wir auf Sicherheit spielen sollten. Mein Gehirn folgt keiner klaren Linie - es geht im Zickzack und erkundet unerforschte Gebiete, es erlaubt mir Grenzen zu überschreiten und den anderen voraus zu sein.
Was ist ADHS?
Unaufmerksamkeit, schnelle Ablenkbarkeit, innere Unruhe, Getriebensein und Ungeduld sind typische Symptome dieser neuropsychiatrischen „Diagnose“. Diese bedeutet jedoch noch nicht, auch krank zu sein. Eine Krankheit wird nur dann daraus, wenn das Funktionsmuster nicht erkannt und ADHS als solches nicht diagnostiziert wird wird und es keine effektiven und adäquaten Angebote des Umfeldes (Familie, Kindergarten, Schule und Arbeitsplatz) gibt.
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„Viele häufig gleichzeitig wahrgenommene und gleich wichtig erscheinende Details bzw. Sinneseindrücke, können bei Menschen mit ADHS zu einer Überforderung der Verarbeitung führen,“ erklärt die Psychiaterin Lucia Gruber-Cichocki. „Die Hyperaktivität, also das Bewegungsbedürfnis und die Impulsivität können sich in unterschiedlichem Maße zeigen: Etwa wippen mit den Füßen, spielen mit den Händen, Schwierigkeiten beim Stillsitzen, schnell und viel sprechen, den anderen ins Wort fallen oder Schwierigkeiten zu warten. Es gibt aber auch die ruhigen Träumer.“
Hinzu kommen oft desorganisiertes Verhalten und Probleme beim Umgang mit Zeit. „Dies kann zu Schwierigkeiten beim Einhalten von Aufgaben und Aktivitäten führen. ADHSler sind oft Planungsmeister, können das Vorgenommene aber nicht in gewünschter Form umsetzen. Es erscheint nicht immer logisch, was gelingt und was nicht. Deshalb sind die Betroffenen und ihr Umfeld oft irritiert“, so die Expertin.
Wichtig ist ihr aber zu betonen: „Ein Aufmerksamkeitsdefizit ist nicht mit einem Intelligenzmangel gleichzusetzen!“ Im Gegenteil: Viele Menschen mit ADHS sind hochkreativ, intelligent, sehr herzlich, liebevoll, offen, bunt, hilfsbereit, lustig und sehr erfolgreich, sie verfügen oft über eine erstaunliche, ja immense Vorstellungskraft, eine hohe mentale und emotionale Empathie.
Von Mozart, Gustav Mahler oder Albert Einstein sagt man, dass sie höchstwahrscheinlich ADHS hatten. „ADHS ist Fluch und Segen zugleich.“ Wenn den ADHSler etwas neugierig macht (was wahrscheinlich in die Richtung der jeweiligen Begabung deutet), entwickelt er oft einen sogenannten „Hyperfokus“ und kann sich ganz intensiv und stundenlang mit einer Materie auseinandersetzen.
„Betroffene können in erstaunlicher Weise Höchstleistungen erbringen. Bei passender Lebensführung kann der Segen sogar deutlich überwiegen,“ so Gruber-Cichocki. „Leider sieht der Alltag jedoch oft anders aus.“
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ADHS als Modediagnose?
Ist ADHS eine Modediagnose? Ist es chic geworden, neurodivergent zu sein? Ist normal das neue spießig? „Es ist richtig, dass ADHS in der Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit erhält. Das finde ich sehr positiv, denn vermehrtes Wissen führt zu besserem Verständnis. Halbwissen führt hingegen zu Stigmatisierung,“ sagt die Psychiaterin.
„Durch das vermehrte Interesse gibt es eine scheinbare Zunahme an Menschen mit ADHS. In Wahrheit wird es nur öfter erkannt, man muss dahingehend auch die damit einhergehenden falsch positiven Diagnosen bedenken. Ein Vorhandensein eines ADHS, kann, muss jedoch zu keinen Problemen führen.“
Vielmehr führten Phänomene unserer Zeit, wie Nachrichtenfluten, Wissensexplosionen und soziale Medien, zu einem Gefühl der Beschleunigung, leichter Ablenkbarkeit und innere Unruhe. „Auch diese Symptome sind ernst zu nehmen, und es ist wichtig, den geeigneten Umgang damit zu finden“, sagt die Ärztin.
Folgen fehlender Diagnose
Wird ADHS nicht diagnostiziert, können Angsterkrankungen, Depressionen und Suchterkrankungen die Folge sein. „Viele wissen leider nicht um ihr Potenzial. Sie haben starke Selbstzweifel und stoßen auf Unverständnis und Ablehnung. Oft setzen Menschen mit ADHS sich auch unrealistisch hohe Ziele und werden zu überkompensierten Perfektionisten. Wenn gewisse Leistungen dann nicht mehr erbracht werden können, führt das zu Frustrationen und Schamgefühlen,“ sagt Gruber-Cichocki.
Die Bedeutung der "Gebrauchsanweisung"
Je frühzeitiger ein Mensch sich selbst versteht, seine „Gebrauchsanweisung“ kennen lernt, desto leichter kann er und die Umgebung reagieren, die Folgen reduzieren und das geeignete Umfeld mitgestalten. Das gilt umso mehr für Kinder, die in der Schule schnell anecken: Sie träumen im Unterricht, brauchen ewig für Aufgaben, sind oft schlampig, lassen sich von tratschenden Klassenkollegen oder einem Vogel am Fensterbrett ablenken.
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Sie vergessen Dinge zu Hause (Taschenrechner, Jause, Hausübung etc), schaukeln gerne mit ihrem Stuhl oder unterbrechen die Lehrerin, wenn ihnen etwas einfällt. Ist das ADHS diagnostiziert, sollten Eltern das Gespräch mit der Schule suchen.
Bei der Bildungsdirektion Wien kann ein Nachteilsausgleich für Schüler mit ADHS angefordert werden - diese Kinder werden schulisch nach anderen Kriterien beurteilt. Die Bildungsdirektion Steiermark hat in einem Erlass Richtlinien für den positiven Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS erstellt.
Darin finden sich Maßnahmen wie:
- Klare und knappe Anweisungen geben
- Routinen etablieren
- Körperkontakt zur Fokussierung der Konzentration (z.B. Hand auf die Schulter legen)
- Sitzplatz vorne, nicht in der Nähe des Fensters und neben einer ruhigen Mitschülerin oder einem ruhigen Mitschüler
- Wenige, aber sorgfältig überlegte Regeln aufstellen und auf die Einhaltung konsequent bestehen
- Leistung vom Kind einfordern, dabei aber nicht überfordern
- Häufiges positives Verstärken des Kindes.
Manche Schulen haben Stehpulte, wenn das Kind nicht so lange sitzen kann, oder sogar Fahrrad-Ergometer im Klassenzimmer. Auch eine medikamentöse Therapie kann hilfreich sein: Etwa wenn durch die ADHS-Symptome erhebliche Probleme in der Schule oder in der Familie auftreten, welche die weitere Entwicklung des Kindes stark gefährden oder wenn sich die ADHS-Symptome durch andere Maßnahmen und Therapieformen nicht hinreichend vermindern ließen.
Neurodiversität als Bereicherung
Seit einigen Jahren steigen die Autismus- und ADHS-Diagnosen bei Frauen. Die Neurodiversitäts-Bewegung kämpft bereits seit Jahrzehnten dafür, neurodivergente Menschen nicht zu pathologisieren. „Menschen unterscheiden sich darin, wie sie Reize verarbeiten. Es gibt neurologisch betrachtet eine Vielfalt“, sagt Michaela Hartl. „Der Neurodiversitäts-Begriff repräsentiert das. Es ist relativ neu, dass er im deutschen Sprachraum stärker verwendet wird.“ Laut aktuellen Studien sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung neurodivergent.
Der Begriff kommt aus der Community: Die mehrfach neurodivergente Neurodiversitäts-Aktivistin Kassiane Asasumasu hat ihn im Jahr 2000 geprägt. Er soll alle Menschen inkludieren, die neurologisch nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, also nicht neurotypisch sind. Darunter fallen beispielsweise Autist*innen, Menschen mit ADHS, Dyslexie, Tourette, Epilepsie, Parkinson oder psychischen Erkrankungen.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf Barrieren stoßen in einer neurotypischen Welt, die mit ihren Anforderungen, Erwartungshaltungen und Sinneseindrücken für neurodivergente Menschen oft sehr herausfordernd ist.
Mittlerweile sind neurodivergente Personen sichtbarer geworden: in den Medien ebenso wie in der Forschung. Promis wie Paris Hilton oder Hannah Gadsby haben sich als neurodivergent geoutet.
Sexismus in der Diagnose
Seit einigen Jahren steigen die Autismus- und ADHS-Diagnosen insbesondere bei Frauen. Ging man in der geschlechtlich binären Forschung bislang von einer Geschlechtsverteilung von 4:1 aus, so ist mittlerweile klar: Autismus und ADHS waren bei Mädchen/Frauen unterdiagnostiziert, und das lange vorherrschende weiße, männliche Bild von ADHS und Autismus - „der Zappelphilipp“, „der empathielose Autist“ - hat die Realität noch nie adäquat beschrieben.
„Gerade bei Frauen ist es wichtig, genau hinzuschauen“, sagt Hartl. „Es gibt immer noch viele Fachleute, die auf neurodivergente Menschen spezialisiert sind, aber bei bestimmten Charakteristiken ADHS oder Autismus ausschließen.“
Jahrzehntelang hatte die Autismus- und ADHS-Forschung vorwiegend Männer im Blick, wodurch auch die Diagnosekriterien einen Bias haben. Laut Studien zeigt sich ADHS bei Mädchen bzw. Frauen oft ohne die klassisch nach außen gerichtete Hyperaktivität, wodurch sie weniger auffallen.
Umgang mit ADHS
Viele ihrer Klient*innen hätten durch die Anstrengung, im System zu funktionieren, und durch das oft jahrzehntelange Maskieren ein autistisches oder ADHS-Burnout. Ihr Rat: „Es geht nicht darum, einen Menschen zum Beispiel mit allen anderen Autist*innen in eine Autismus-Schublade zu stecken.
Bei einer guten Behandlung und Kompensation können Menschen mit ADHS aber auch wertvolle Fähigkeiten in Beziehungen einbringen. Die Behandlungsmöglichkeiten umfassen sowohl medikamentöse als auch nicht medikamentöse Maßnahmen. Medikamente sind in bestimmten Fällen und Lebensphasen auch bei Erwachsenen unbedingt ratsam, da sie das Leben erleichtern können. Sie können die Kernsymptome von ADHS lindern.
Bei manchen Betroffenen helfen auch nicht medikamentöse Maßnahmen wie etwa Psychoedukation, Coaching oder Psychotherapie in Einzel- oder Kleingruppen. Diese Maßnahmen fördern das eigene Verständnis der Erkrankung und helfen Betroffenen dabei, einen besseren Umgang zu finden.