Die Autismus-Spektrum-Störung (ASD) ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv erforscht wird. Autismus ist ein Sammelbegriff für verschiedene tiefgreifende Entwicklungsstörungen - die genaue Bezeichnung lautet Autismus-Spektrum-Störungen (ASS).
Laut offiziellen Leitlinien wird, unter Berücksichtigung des Großteils aller weltweiten Studien seit dem Jahr 2000, insgesamt von einer Häufigkeit der ASS von etwa einem Prozent in der Bevölkerung ausgegangen.
Was ist Autismus?
Autismus ist ein Sammelbegriff für verschiedene tiefgreifende Entwicklungsstörungen. Diese tritt in der Regel vor dem dritten Lebensjahr auf und kann sich in einem oder mehreren der folgenden Bereiche zeigen:
- Probleme beim wechselseitigen sozialen Umgang und Austausch (etwa beim Verständnis und Aufbau von Beziehungen)
- Auffälligkeiten bei der sprachlichen und nonverbalen Kommunikation (etwa bei Blickkontakt und Körpersprache)
- eingeschränkte Interessen mit sich wiederholenden, stereotyp ablaufenden Verhaltensweisen
Betroffene Individuen werden als Autisten oder als autistisch bezeichnet. Aufgrund ihrer Einschränkungen benötigen viele autistische Menschen manchmal lebenslang Hilfe und Unterstützung. Autismus ist unabhängig von der Intelligenzentwicklung, jedoch gehört Intelligenzminderung zu den häufigen zusätzlichen Einschränkungen. Trotz umfangreicher Forschungsanstrengungen gibt es derzeit keine allgemein anerkannte Erklärung der Ursachen autistischer Störungen.
Die Entwicklung des Autismus-Begriffs
Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler prägte den Begriff Autismus um 1911 im Rahmen seiner Forschungen zur Schizophrenie. Er bezog ihn ursprünglich zunächst nur auf diese Erkrankung und wollte damit eines ihrer Grundsymptome beschreiben die Zurückgezogenheit in eine innere Gedankenwelt. Bleuler verstand unter Autismus die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens. (Originalzitat)
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Sigmund Freud übernahm die Begriffe Autismus und autistisch von Bleuler und setzte sie annähernd mit Narzissmus bzw. narzisstisch gleich5 als Gegensatz zu sozial. Die Begriffsbedeutung wandelte sich mit der Zeit von dem Leben in einer eigenen Gedanken- und Vorstellungswelt hin zu Selbstbezogenheit in einem allgemeinen Sinne.
Hans Asperger und Leo Kanner nahmen den Autismus-Begriff dann auf (siehe historische Literatur), möglicherweise unabhängig voneinander. Sie sahen in ihm aber nicht mehr nur ein einzelnes Symptom (wie Bleuler), sondern versuchten damit gleich ein ganzes Störungsbild eigener Art zu erfassen. Sie unterschieden dabei Menschen mit Schizophrenie, die sich aktiv in ihr Inneres zurückziehen, von jenen, die von Geburt an in einem Zustand der inneren Zurückgezogenheit leben. Letzteres definierte nunmehr den Begriff Autismus.
Kanner fasste den Begriff Autismus eng, was im Wesentlichen dem heute sogenannten frühkindlichen Autismus entsprach (daher: Kanner-Syndrom). Seine Sichtweise erreichte internationale Anerkennung und wurde zur Grundlage der weiteren Autismusforschung. Die Veröffentlichungen Aspergers hingegen beschrieben Autismus etwas anders und wurden zunächst international kaum wahrgenommen. Dies lag zum einen an der zeitlichen Überlagerung mit dem Zweiten Weltkrieg und zum anderen daran, dass Asperger auf Deutsch publizierte und man seine Texte jahrzehntelang nicht ins Englische übersetzte. Hans Asperger selbst nannte das von ihm beschriebene Syndrom Autistische Psychopathie.
Formen von Autismus
Im derzeit gültigen Klassifikationssystem ICD-10 wird zwischen verschiedenen Autismusformen unterschieden (etwa frühkindlicher, atypischer Autismus und Asperger-Syndrom). Das DSM-5 und die ICD-11 (gültig ab 2022) hingegen enthalten keine Subtypen mehr und sprechen nur noch von einer allgemeinen Autismus-Spektrum-Störung (ASS; englisch autism spectrum disorder, kurz ASD). Grund für diese Änderung war die zunehmende Erkenntnis in der Wissenschaft, dass eine klare Abgrenzung von Subtypen (noch) nicht möglich ist und man stattdessen von einem fließenden Übergang zwischen milden und stärkeren Autismusformen ausgehen sollte.
Im deutschsprachigen Raum sind drei Diagnosearten des Autismus gebräuchlich:
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- Der frühkindliche Autismus (auch Kanner-Syndrom genannt).
- Der atypische Autismus erfüllt nicht alle Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus oder zeigt sich erst nach dem dritten Lebensjahr.
- Das Asperger-Syndrom veraltet auch autistische Psychopathie oder schizoide Psychopathien im Kindesalter (1926) unterscheidet sich von anderen Subtypen vor allem durch eine vom Zeitpunkt her altersgerechte Sprachentwicklung und einen unter formalen Gesichtspunkten korrekten Sprachgebrauch.
Im DSM-5 (2013) und ICD-11 (2018) wurden alle Einzelkategorien unter die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) (autism spectrum disorders) zusammengefasst.6 Die Begründung hierfür lautete, die Forscher gingen heute davon aus, dass es sich weniger um qualitativ unterschiedliche Erkrankungen handele als um ein Kontinuum von sehr milden bis schweren Verlaufsformen einer Entwicklungsstörung, die bereits in der frühen Kindheit beginne.
Bei den Symptomen wird unterschieden zwischen Defiziten in zwei Kategorien: Gestört ist erstens die soziale Interaktion und Kommunikation (zum Beispiel Blickkontakte, Fähigkeit zur Konversation oder Aufbau von Beziehungen sind schwach ausgeprägt). Zweitens sind repetitive Verhaltensweisen und fixierte Interessen und Verhaltensweisen Merkmale autistischer Störungen.
Frühkindlicher Autismus
Die drei wichtigsten bei frühkindlichem Autismus betroffenen Bereiche sind:
- Soziale Interaktion
- Kommunikation
- Repetitive und stereotype Verhaltensmuster
Etwa jedes zweite Kind mit frühkindlichem Autismus entwickelt keine Lautsprache. Bei den anderen verzögert sich die Sprachentwicklung. Die Entwicklung der Lautsprache erfolgt oft über eine lange Phase der Echolalie, manche der betroffenen Personen kommen über diese Phase nicht hinaus.
Veränderungen ihrer Umwelt (wie zum Beispiel umgestellte Möbel oder ein anderer Schulweg) beunruhigen und verunsichern manche autistische Menschen. Manchmal geraten Betroffene auch in Panik, wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewöhnlichen Platz oder in einer bestimmten Anordnung befinden, oder es bringt sie ein unangekündigter Besuch oder spontaner Ortswechsel völlig aus der Fassung.
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Hochfunktionaler Autismus
Treten alle Symptome des frühkindlichen Autismus zusammen mit normaler Intelligenz (einem IQ von mehr als 70) auf, so spricht man vom hochfunktionalen Autismus (high-functioning autism, HFA). Diagnostisch wichtig ist hier insbesondere die verzögerte Sprachentwicklung. Gegenüber dem Asperger-Syndrom sind die motorischen Fähigkeiten meist deutlich besser.
Atypischer Autismus
Atypischer Autismus unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch, dass Kinder nach dem dritten Lebensjahr autistisches Verhalten zeigen (atypisches Erkrankungsalter) oder nicht alle Symptome aufweisen (atypische Symptomatik).
Autistische Kinder mit atypischem Erkrankungsalter zeigen bei den Symptomen das Vollbild des frühkindlichen Autismus, der sich bei ihnen aber erst nach dem dritten Lebensjahr manifestiert.
Autistische Kinder mit atypischer Symptomatik legen Auffälligkeiten an den Tag, die für den frühkindlichen Autismus typisch sind, jedoch die Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus nicht vollständig erfüllen. Dabei können sich die Symptome sowohl vor als auch nach dem dritten Lebensjahr manifestieren.
Autismus: Verlauf und Prognose
Wie sich eine autistische Störung im Einzelfall entwickelt, lässt sich nicht vorhersagen. Der Verlauf hängt unter anderem von der Form des Autismus sowie eventuellen Begleiterkrankungen (wie Depressionen) ab.
Beispielsweise bleiben beim Frühkindlichen Autismus die typischen Symptome ein Leben lang bestehen, also etwa die Probleme bei der sozialen Interaktion und beim Aufbau von Beziehungen sowie die Sprachbeeinträchtigungen. In der Kindheit sind die Symptome meist am stärksten ausgeprägt.
Bei manchen Betroffenen verbessert sich das Verhalten dann im Jugend- und frühen Erwachsenenalter. Es gibt aber auch Menschen, bei denen die autistische Störung bis ins Erwachsenenalter unverändert bleibt oder bei denen nach anfänglicher Verbesserung die Symptome wieder zunehmen.
Der Großteil der Autisten weist eine geistige Behinderung auf, die die Intelligenz einschränkt. Manche leiden zudem unter Schlafstörungen, Ängsten oder teilweise aggressivem Verhalten.
Rund 75 Prozent der Autisten sind ein Leben lang auf Hilfe angewiesen. Die meisten autistischen Jugendlichen wachsen heute in ihren Familien auf. Sie erhalten Fördermaßnahmen und werden intensiv betreut.
Neue Forschungsansätze
Studien legen nahe, dass ASD eng mit der Genetik verbunden ist. Kinder, die mit einer seltenen genetischen Mutation geboren werden - mit einem Gen namens BCKDK - entwickeln beispielsweise mit größerer Wahrscheinlichkeit Beeinträchtigungen, die unbehandelt wahrscheinlich zu lebenslangem Autismus führen können.
Das betreffende fehlerhafte Gen stört die Art und Weise, wie das Gehirn essentielle Nährstoffe, die so genannten „verzweigtkettigen Aminosäuren“, verarbeiten kann und schafft die Bedingungen für eine verzögerte neurologische Entwicklung.
Novarinos Team, ansässig am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in der Nähe von Wien, führte im Rahmen des fünfjährigen europäischen Forschungsprojekts REVERSEAUTISM, das im September 2022 endete, Experimente an Mäusen durch, um Antworten zu finden. Das Team fand heraus, dass Nagetiere mit dieser Mutation nach der Geburt sowohl motorische als auch soziale Schwierigkeiten entwickelten. REVERSEAUTISM ging dann noch einen Schritt weiter und untersuchte, ob durch die Injektion der fehlenden Aminosäuren direkt in die Gehirne der betroffenen Mäuse deren autismusähnliche Symptome rückgängig gemacht werden könnten. „Die Antwort lautete: ja“, sagte Novarino.
Die Ergebnisse von REVERSEAUTISM faszinierte Dr. Angeles García-Cazorla aus Spanien so sehr, dass sie beschloss, zu untersuchen, ob sich die Symptome bei Kindern mit einem BCKDK-Mangel verbesserten, wenn sie die fehlenden Aminosäuren als Nahrungsergänzungsmittel in Verbindung mit einer proteinreichen Ernährung einnahmen. Die Studie basierte auf 21 Patienten im Alter zwischen acht und 16 Monaten, die aus Zentren in der ganzen Welt rekrutiert wurden. „Im Allgemeinen verbesserten sich alle Patienten, insbesondere hinsichtlich des Wachstums ihres Kopfes, was darauf hindeutet, dass es zu einer Vermehrung der Neuronen kam“, sagt García-Cazorla. „Sie zeigten auch eine verbesserte motorische Funktion. Je früher die Behandlung begonnen wurde, desto besser waren die Ergebnisse.
Wenn künftige Studien mit einer größeren Kohorte von Kleinkindern mit BCKDK-Mangel die Ergebnisse der MetabERN-Untersuchung bestätigen, hoffen García-Cazorla und Novarino, dass die nationale Gesundheitspolitik dahingehend geändert wird, dass alle Säuglinge bei der Geburt auf BCKDK-Mangel getestet werden müssen.
Sie und ihr Team verfolgen diese Forschungsrichtung in einem europäischen Projekt namens SecretAutism, das im Dezember 2022 begann und bis November 2027 laufen wird. Durch die Untersuchung dieser „Organoide“ erhoffen sich die Forscher weitere Erkenntnisse darüber, was genau die vielen verschiedenen Gene, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden, im Körper tun, in welchen Stadien sich Probleme entwickeln und wie man den Prozess unterbrechen kann.
| Merkmal | Frühkindlicher Autismus | Asperger-Syndrom | Atypischer Autismus |
|---|---|---|---|
| Sprachentwicklung | Oft verzögert oder fehlend | Altersgerecht | Atypisch |
| Intelligenz | Variabel, oft Intelligenzminderung | Normal bis überdurchschnittlich | Variabel |
| Soziale Interaktion | Deutlich beeinträchtigt | Beeinträchtigt | Atypisch |
| Motorische Fähigkeiten | Beeinträchtigungen möglich | Oft ungeschickt | Nicht immer beeinträchtigt |
| Beginn | Vor dem 3. Lebensjahr | Nach dem 3. Lebensjahr bemerkbar | Nach dem 3. Lebensjahr oder atypische Symptome |
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