Der Satz aus einem kürzlich gelesenen Artikel „eines der größten Übel der Menschheit ist das unerträgliche Bedürfnis, immer Recht zu haben“ hat nachdenklich gemacht.
Jeder Mensch hat seine eigene Wahrnehmung davon, wie die Welt ist, und geht davon aus, dass diese für alle Menschen gleich ist. Wie wir wissen, stimmt das natürlich nicht.
Ich möchte dazu einen ganz kurzen Moment in den radikalen Konstruktivismus eintauchen, der behauptet: Die Essenz dieser philosophischen Zugangsweise ist, dass die eigene Wahrnehmung kein Abziehbild der Realität ist, sondern dass diese Wirklichkeit für jeden von uns immer ein „Bauwerk“ aus unseren Sinnen und unserem Gedächtnis zeigt.
Ein wunderbares Beispiel, wie sich ein Gedankenkonstrukt zu meinem Nachteil wandelt, liefert Paul Watzlawick in seiner "Anleitung zum Unglücklichsein":
„Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und da bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er „Guten Tag“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!“
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Wenn wir mit dieser inneren Einstellung anderen begegnen, entstehen natürlich Konflikte und das harmonische Gleichgewicht in Beziehungen geht verloren.
Klarerweise ist es sehr reizvoll, recht zu haben. Doch geht dabei ein gewisses Maß an Empathie, an Mitgefühl verloren, wenn es mir nicht gelingt, den Blickwinkel meines Gegenübers zumindest zu akzeptieren, zu respektieren.
Wir haben ja auch immer wieder diesen Drang, alles verstehen zu müssen. Über eine lange Zeit war mein oberstes Ziel „ich muss alles verstehen und erklären können“. Was soll ich sagen. Ich bin formidabel gescheitert.
Inzwischen weiß ich, dass - wenn ich auf dem Recht-haben-Trip bleibe - auch eine gewisse Isolation in Kauf nehme. Oder magst du Menschen, die immer Recht haben wollen? Wir wenden uns ab, weil wir viel lieber mit fröhlichen Menschen in Verbindung treten und uns mit ihnen wohlfühlen wollen.
Wohin haben uns denn diese unerschütterlichen Überzeugungen geführt? Wir brauchen uns nur die kürzesten Ereignisse anschauen - sei es weltweit oder auch in Österreich.
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Unsere Welt, unsere Beziehungen sind nicht nur schwarz oder weiß, sondern bunt. Ist es nicht wunderbar, dass es so viele Facetten gibt?
Wir brauchen doch die anderen Menschen, um zu lernen und zu wachsen.
Psychologische Aspekte bei C.G. Jung und Paul Watzlawick
Der Tiefenpsychologe C.G. Jung hat uns auch im Bezug auf die Unterschiede zwischen der Kindheitsentwicklung und der Entwicklung des erwachsenen Menschen die Augen geöffnet.
Kinder betonen beim Lernen eindeutig die Differenzierung - es geht darum, ein Ding vom anderen zu trennen.
Jung hingegen hat darauf hingewiesen, dass Erwachsene mehr nach Integration suchen, danach, Gegensätze zu überbrücken.
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Erwachsene suchen nach der Verbindung zwischen Dingen, danach, wie die Dinge zusammenpassen, wie sie interagieren, wie sie zum Ganzen beitragen.
Wir wollen allem einen Sinn abringen, die Bedeutung finden, den Zweck des Ganzen.
Paul Watzlawick, Professor für Psychotherapie, hat über die Relativität der individuellen Wahrnehmung, Gesetzmäßigkeiten in der menschlichen Kommunikation oder über die Suche nach dem Glück geschrieben.
Mit scharfem Blick ortet er offene Fragen, um sie dann mit ausgeprägtem Forschersinn, Mut zum Unkonventionellen und dabei größter Genauigkeit anzugehen.
Er erwähnt an einigen Stellen illustrative Beispiele für eine konstruktivistische Sichtweise.
Zu Problemlösungen sagte Watzlawick in einem Interview: "Wir versuchen gewisse Regeln und Möglichkeiten abzuleiten, die wir dann anzuwenden versuchen. Für mich zum Beispiel ist die "Bisher-versuchte-Lösung" der Patienten ein wichtiger Ausgangspunkt. "Was haben sie bisher getan, um mit Ihrem Problem fertig zu werden?" Das muss ich einmal verstehen. Dann werde ich, beginnen zu begreifen, was dieses Problem nicht nur erzeugt hat, sondern auch weiter erhält. Das ist keine Erfindung von uns, sondern das ist etwas, dass die Biologen schon lange wissen: Eine Gattung, die eine optimale Anpassung an ihre Umwelt erreicht hat, wendet fortwährend diese Anpassung an, auch wenn die Umwelt sich dauernd ändert. Je weniger diese Anpassung passt, um so "mehr-des-Selben". Das sehen wir immer und immer wieder. Menschen tun mehr-des-Selben und erzeugen natürlich mehr derselben Schwierigkeiten.
Unter der Überschrift 'Mehr desselben beschreibt Watzlawick "eines der erfolgreichsten und wirkungsvollsten Katastrophenrezepte", auf das die Menschen gekommen seien.
Er hatte wohl kaum den modernen Unterricht im Auge, als er dies schrieb. Die Folge des Festhaltens an alten Rezepten (z.B. tradierte Lehrkonzepte, standardisierte, logische Erklärungen, usw.) sei, dass es zu nichts führe, ... außer zu mehr desselben.
Aus Gründen, die den Verhaltensforschern noch schleierhaft seien, neigten einige Menschen dazu, die einmal gelernten Reaktionen für die einzig möglichen zu halten.
Patentlösungen würden immer erfolgloser.
Watzlawick hat Heraklits Gedanken von der "Einheit in der Vielfalt" der Dinge aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass ein Zuviel des Guten stets ins Böse umschlage.
Das Gegenteil von schlecht muss nicht gut sein - es kann noch schlechter sein.
Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.
Wenn du immer wieder das tust, was Du immer schon getan hast, dann wirst Du immer wieder das bekommen, was Du immer schon bekommen hast. Wenn Du etwas anderes haben willst, musst Du etwas anderes tun!
Das Münchhausen-Syndrom als Extrembeispiel
Das Münchhausen-Syndrom ist eine schwere psychische Störung. Die Betroffenen täuschen körperliche oder psychiatrische Symptome sowie Behinderungen vor - oder rufen diese absichtlich hervor.
Ein solches Verhalten bezeichnet man auch als artifizielle Störung.
Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom scheuen weder Schmerzen noch bleibende körperliche Schäden noch Mühen, um glaubhaft zu vermitteln, krank zu sein.
Schmerzhafte Behandlungen oder gefährliche Eingriffe wie Operationen schrecken sie nicht ab.
Ihr Leben dreht sich vornehmlich darum, von einem Arzt zum anderen und von Klinik zu Klinik zu wandern.
Sie meiden allerdings den Aufenthalt in psychiatrischen oder psychosomatischen Einrichtungen.
Sie haben meist keine Krankheitseinsicht oder fürchten sich davor, ihr zwanghaftes Verhalten aufgeben zu müssen.
Benannt ist die Störung nach dem berühmten "Lügenbaron" Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen. Denn anders als andere Patienten mit einer artifiziellen Störung erfinden Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom oft spektakuläre Krankengeschichten und denken sich oft auch Erlebnisse aus, die andere Lebensbereiche betreffen.
Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom verletzen sich zwar selbst oder täuschen geschickt gesundheitliche Probleme vor. Sie haben aber keine finanziellen Interessen oder andere äußere Anreize für ihr Verhalten, sondern wollen einfach Aufmerksamkeit bekommen und medizinisch behandelt werden.
Daher zählen sie nicht zu den Simulanten. Diese sind nämlich psychisch gesund und ziehen aus dem Vortäuschen von Krankheiten Vorteile etwa finanzieller Natur.
Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom von Simulanten zu unterscheiden, kann sehr schwer sein.
Es gibt zurzeit keine Untersuchungen, welche die Zahl der Betroffenen zuverlässig einschätzen. Experten gehen davon aus, dass etwa zwei Prozent aller Patienten im Krankenhaus an artifiziellen Störungen leiden, ein Teil davon am Münchhausen-Syndrom. Die tatsächliche Zahl könnte aber deutlich höher liegen, da viele Fälle nicht erkannt werden.
Während artifizielle Störungen meist Frauen betreffen (insbesondere solche mit medizinischem Fachwissen), tritt speziell das Münchhausen-Syndrom häufiger bei Männern auf. Neben den Symptomen des Münchhausen-Syndroms werden bei ihnen oft auch noch Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel die Borderline-, narzisstische oder dissoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert.
Symptome des Münchhausen-Syndroms
- Selbstschädigendes Verhalten
- Fehlender Leidensdruck
- Beziehungsabbrüche
- Zwanghaftes Lügen
- Identitätsstörung
Die genauen Ursachen des Münchhausen-Syndroms sind noch unbekannt. Viele Patienten berichten jedoch von traumatischen Erlebnissen in der Kindheit. Das können beispielsweise häufige Verlusterlebnisse, Misshandlungen oder Vernachlässigungen im Kindesalter sein. In manchen Fällen litt bereits ein Elternteil am Münchhausen-Syndrom.
Manche Experten vermuten Lebensmüdigkeit hinter dem Münchhausen-Syndrom. Das ständige selbstschädigende Verhalten ist ein Hinweis auf den Versuch, sich das Leben zu nehmen. Gleichzeitig offenbart es das gestörte Selbstbild. Eine zentrale Rolle spielen auch die oftmals zugrundeliegenden Persönlichkeitsstörungen.
Für die Ärzte ist das Münchhausensyndrom schwer zu erkennen, da die Patienten selten längere Zeit bei einem Arzt bleiben. Die Münchhausen-Patienten spielen die Krankheiten zudem sehr glaubhaft vor, sodass der Arzt zunächst ausführliche Untersuchungen durchführen und selbst erzeugte Verletzungen behandeln wird. Erst nach einiger Zeit oder durch Gespräche mit einem früheren behandelnden Arzt fällt das Münchhausen-Syndrom auf.
Ein Hinweis auf ein Münchhausen-Syndrom ist die Gleichgültigkeit der Patienten gegenüber schmerzhaften oder gefährlichen medizinischen Eingriffen. Auffällig ist auch, dass sich die Symptome laut Patient immer wieder verschlechtern, nachdem sie behandelt worden sind.
Verhaltenstherapie als möglicher Ansatz
Die Verhaltenstherapie hat sich als Gegenbewegung zur Psychoanalyse entwickelt. Sie entstand aus der Schule des sogenannten Behaviorismus, der die Psychologie im 20. Jahrhundert prägte.
Während sich die Psychoanalyse nach Freud vor allem auf Deutungen und Interpretationen unbewusster Konflikte konzentriert, liegt der Fokus im Behaviorismus auf beobachtbarem Verhalten.
Das Ziel ist es, menschliches Verhalten objektiv zu untersuchen.
Entscheidend für die Erkenntnisse des Behaviorismus und die heutige Verhaltenstherapie waren die Experimente des russischen Psychologen Ivan Pavlov.
Er fand heraus, dass entsprechend trainierte Hunde direkt mit Speichelfluss auf das Läuten einer Glocke reagieren, wenn diese zuvor immer unmittelbar vor dem Füttern geläutet wurde.