Kognitive Störungen sind im Rahmen einer Major Depression (MD) vorhanden und wurden in den letzten Jahren vermehrt untersucht. Das neue Diagnostic and Statistical Manual 5 (DSM-5) führt die Beeinträchtigung der Kognition (beeinträchtigte Fähigkeit zu denken, sich zu konzentrieren und Unentschlossenheit) als Kriterium für die Diagnose einer MD an.
Kognitive Beeinträchtigungen bei Depression
Die häufigsten kognitiven Beeinträchtigungen, die bei depressiven Patienten auftreten, sind Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Informationsverarbeitungsstörungen, Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen und des Gedächtnisses. Die Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen, und der Verlust der kognitiven Flexibilität ist mit deutlicher Verminderung von psychosozialem Funktionsniveau verbunden. Kognitive Störungen beeinflussen auch Alltagsaktivitäten und die Lebensqualität.
Bisherige Studien zeigen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen, dass sich Patienten mit einer MD in bestimmten kognitiven Bereichen unterscheiden. Ebenso zeigen Verlaufsstudien kognitive Defizite vor und nach einer Remissionsphase einer depressiven Episode. Eine rezente Metaanalyse schloss 644 Patienten und 570 gesunden Kontrollen ein. Die Daten von 13 Studien zeigten, dass Patienten mit einer ersten depressiven Episode mehr Beeinträchtigungen in den kognitiven Funktionen psychomotorische Reaktionszeit, Aufmerksamkeit, visuelles Lernen und Gedächtnis hatten als Gesunde.
Zusätzlich stark beeinträchtigt zeigten sich die exekutiven Funktionen in den Bereichen Flexibilität der Aufmerksamkeit, verbale Wortflüssigkeit und kognitive Flexibilität bei depressiven Patienten. In Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung fanden sich Defizite vor allem in den Bereichen psychomotorische Geschwindigkeit, visuelles und verbales Lernen und Arbeitsgedächtnis. Die kognitiven Defizite waren auch abhängig von der Bildung und dem Alter. Bei älteren depressiven Patienten und Patienten mit geringerer Bildung fanden sich schlechtere kognitive Fähigkeiten.
Insgesamt zeigte sich, dass kognitive Störungen bereits zu Beginn der depressiven Erkrankung vorhanden sind und über die Dauer des Krankheitsverlaufes andauern. Eine weitere Metaanalyse, die 14 Studien zu kognitiven Defiziten ebenfalls in der frühen Krankheitsphase der Depression (Spektrum) inkludierte, fand Zusammenhänge zwischen der Schwere der klinischen Symptomatik und herabgesetzter kognitiver Fähigkeiten in den Bereichen exekutive Funktionen, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und episodisches Gedächtnis.
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Auswirkungen kognitiver Defizite auf die berufliche Leistungsfähigkeit
Es gibt Evidenz dafür, dass kognitive Defizite bei depressiven Patienten deutliche Auswirkungen auf die berufliche Leistungsfähigkeit haben. Studien zeigten, dass neben der Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit auch der Verlust des Arbeitsplatzes vermehrt mit kognitiven Störungen verbunden ist. Da nach der Remission der klinischen Symptomatik kognitive Defizite wie exekutive Funktionen, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit und psychomotorische Fähigkeiten andauern, haben besonders diese Beeinträchtigungen Auswirkungen auf die Leistungen am Arbeitsplatz.
Depressive Patienten mit Störungen der selektiven Aufmerksamkeit haben häufiger eine geringere Remissionsrate und zeigen eine geringere Arbeitsproduktivität. Es gibt derzeit noch wenige Studien, die den Zusammenhang zwischen frühen kognitiven Störungen am Beginn einer depressiven Erkrankung und Rückfallrisiko untersucht haben. Es gibt erste Hinweise, dass frühe kognitive Störungen der selektiven Aufmerksamkeit mit erhöhtem Rückfallrisiko verbunden sind. In einer weiteren Studie konnte der Einfluss von reduzierten exekutiven Funktionen bei älteren depressiven Patienten auf die Rückfallrate gezeigt werden. Gedächtnisdefizite zeigten weniger Einfluss auf den Krankheitsverlauf.
Neurobiologische Grundlagen kognitiver Störungen
Bei kognitiven Fähigkeiten sind sowohl vielfältige Neurotransmittersysteme sowie neuronale Regelkreise involviert. Der Hippokampus spielt eine zentrale Rolle bei Lernund Gedächtnisprozessen, weist wichtige Verbindungen zu den kortikalen Regionen auf und spielt eine wesentliche Rolle in der Integration von kognitiven und emotionalen Abläufen. In der Verarbeitung von Emotionen ist weiters auch das limbische System, besonders die Amygdala, involviert. Diese neuronalen Regelkreise spielen bei dem Zusammenhang zwischen kognitiven Defiziten und affektiver Störung eine wichtige Rolle.
Strukturelle Defizite zeigen sich bereits in der Frühphase der depressiven Erkrankung, es konnten vor allem strukturelle Veränderungen im Hippokampus und der Amygdala festgestellt werden. Bei Patienten, die mehrere Krankheitsphasen hatten oder deren Erkrankung länger als zwei Jahre andauerte, fanden sich Abnahmen im Volumen des Hippokampus. Diese strukturellen Veränderungen korrelieren mit kognitiven Störungen, wie in einer Studie mit Ersterkrankten gezeigt werden konnte. Es fand sich ein Zusammenhang zwischen Abnahme des Volumens im linken Hippokampus und Gedächtnisfunktionen.
Bei kognitiven Störungen spielen folgende Neurotransmittersysteme eine wichtige Rolle: das serotoninerge (5-HT), noradrenerge (NA) and dopaminerge (DA) Neurotransmittersystem. Serotonin ist bei der Regulation der kognitiven Flexibilität und Aufmerksamkeit involviert. Zusätzlich sind bereits das Gleichgewicht zwischen Glutamat und GABA sowie BDNF untersucht worden. So ist etwa BDNF bei Lernen und Gedächtnisprozessen bei neuronaler Plastizität im Hippokampus und im präfrontalen Cortex beteiligt.
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Therapeutische Ansätze zur Verbesserung kognitiver Funktionen
Derzeit gibt es erste Daten, die zeigen, dass Antidepressiva kognitive Störungen verbessern können. Therapeutische Interventionen, die sich auf eine Verbesserung von kognitiven Funktionen auswirken, können auch einen positiven Einfluss auf psychosoziale Funktionen haben. Eine Reihe von Studien zeigt, dass depressive Patienten auch in der Remissionsphase kognitive Störungen haben, vor allem in der Konzentration und Entscheidungsfindung.
Antidepressiva verbessern nachweislich kognitive Störungen. Bisher verfügbare Studien weisen auf die Wirksamkeit von Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), Serotonin- Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs), Dopamin- Modulatoren wie Bupropion und Noradrenalin-Inhibitoren wie Reboxetin auf kognitive Funktionsstörungen bei MD hin. In einer Vergleichsstudie mit Escitalopram und Duloxetin zeigte sich, dass von den behandelten Patienten nach 24 Wochen 86 Prozent sich in Remission befanden, 14 Prozent in Teilremission (Herrera-Guzman et al., 2010). In beiden Behandlungsgruppen kam es zu Verbesserungen im verbalen und visuellen episodischen Gedächtnis, im Arbeitsgedächtnis und in der Informationsverarbeitung.
Die Gruppe, die mit Duloxetin behandelt wurde, zeigte Verbesserungen im episodischen Gedächtnis und im Arbeitsgedächtnis. In einer kleinen Patientengruppe konnten auch Hinweise auf die Wirkung von Bupropion auf kognitive Funktionsstörungen gefunden werden (Herrera-Guzman et al., 2008). Raskin et al. Vortioxetin ist ein neues multimodales Antidepressivum mit folgendem Wirkmechanismen: 5-HT3- und 5HT7-Rezeptor- Antagonismus, partieller Agonismus am 5-HT1BRezeptor, 5HT-1A-Rezeptor-Agonismus und Inhibition des 5-HT-Transporters. Zusätzlich kommt es zu einer erhöhten zentralen Neurotransmission von Noradrenalin, Dopamin, Acetylcholin und Histamin.
Bisherige Studienergebnisse brachten erste Daten zur guten antidepressiven Wirkung von Vortioxetin bei erwachsenen und älteren Patienten mit MD. Ein prokognitiver Effekt konnte auch nachgewiesen werden. So fanden sich im Behandlungsverlauf signifikante Verbesserungen im verbalen Lernen und Gedächtnis und in der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. In einer Gruppe von älteren Patienten im Vergleich von Vortioxetin mit Duloxetin zeigte sich, dass in beiden Therapiegruppen eine Verbesserung der verbalen Lernfähigkeit nachweisbar war, zusätzlich war Vortioxetin in der Informationsverarbeitung Duloxetin überlegen.
In einer neuen doppelblinden randomisierten Studie von McIntyre et al. 2014 wurde in einer großen Gruppe von depressiven Patienten (n=602, 18-65 Jahre) der Effekt von Vortioxetin 10mg vs. 20mg vs. Plazebo über acht Wochen in der Wirkung im Hinblick auf kognitive Funktionen untersucht. Der primäre Ergebniswert war ein Kombinationswert von Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und verbalem Lernen. Die depressiven Symptome wurden mit der Montgomery-Asberg-Depressions- Skala gemessen. Es zeigte sich, dass beide Dosierungen von Vortioxetin signifikant sich von Plazebo im Hinblick auf die depressive Symptomatik als auch den kognitiven Kombinationsscore unterschieden.
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Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist eine der am besten erforschten und effektivsten psychotherapeutischen Methoden in der modernen Psychologie. Sie basiert auf der Annahme, dass unsere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen eng miteinander verknüpft sind - und dass wir durch das Erkennen und Verändern dysfunktionaler Denkmuster psychisches Wohlbefinden nachhaltig verbessern können.
Ein integrativer Ansatz: Denken, Fühlen und Handeln
In der KVT gehen wir davon aus, dass viele psychische Beschwerden durch verzerrte oder ungünstige Denkweisen mitverursacht oder aufrechterhalten werden. Diese sogenannten kognitiven Verzerrungen können zu einem Teufelskreis negativer Gedanken, belastender Gefühle und dysfunktionalem Verhalten führen.
Ein klassisches Beispiel: Eine Person mit sozialer Angst könnte denken: „Alle werden merken, wie nervös ich bin.“ Dieser Gedanke führt zu Anspannung, Erröten oder Vermeidung sozialer Situationen - was wiederum das negative Selbstbild verstärkt.
In der KVT setzen wir genau hier an: Gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten identifizieren wir diese Denkmuster und erarbeiten alternative, realitätsnähere Bewertungen. Gleichzeitig werden Verhaltensweisen schrittweise verändert - etwa durch Konfrontationsübungen, Rollenspiele oder Selbstbeobachtung.
Wissenschaftliche Fundierung und Wirksamkeit
Die Wirksamkeit der Kognitiven Verhaltenstherapie ist in zahlreichen wissenschaftlichen Studien gut belegt. Sie gilt als evidenzbasiertes Verfahren bei einer Vielzahl psychischer Störungen.
- Depressionen
- Angststörungen (z. B. Panikstörung, soziale Phobie, generalisierte Angststörung)
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Zwangsstörungen
- Essstörungen
- Suchterkrankungen
- Chronischer Schmerz und psychosomatische Beschwerden
Metaanalysen zeigen, dass KVT insbesondere bei Depressionen und Angststörungen vergleichbare oder bessere Ergebnisse erzielt als medikamentöse Behandlungen - mit dem Vorteil nachhaltiger Effekte nach Therapieende (Hofmann et al., 2012).
Der therapeutische Prozess
Eine KVT ist strukturiert und zielorientiert. Die Therapie beginnt meist mit einer ausführlichen Diagnostik und einer gemeinsamen Zieldefinition. Darauf folgen individuelle Therapiebausteine, darunter:
- Psychoedukation (Wissen über die Erkrankung und das Modell der KVT)
- Identifikation und Modifikation dysfunktionaler Gedanken
- Verhaltensexperimente und Konfrontationsübungen
- Training neuer Fähigkeiten (z. B. Problemlösetechniken, Stressbewältigung)
- Rückfallprophylaxe
Die Patientin oder der Patient wird aktiv in den Prozess eingebunden - Hausaufgaben und Selbstbeobachtungen zwischen den Sitzungen sind typische Bestandteile.
Für wen ist KVT geeignet?
Die KVT eignet sich für Menschen, die bereit sind, sich mit ihren Gedanken und Verhaltensweisen auseinanderzusetzen und aktiv an Veränderungen zu arbeiten. Sie kann sowohl in Einzel- als auch in Gruppensettings durchgeführt werden und lässt sich gut mit anderen Verfahren kombinieren, etwa achtsamkeitsbasierten oder emotionsfokussierten Ansätzen.
Fallbeispiel: Frau S.
Anhand eines praktischen Beispiels werden der diagnostische Prozess und die Fallkonzeption in der Kognitiven Verhaltenstherapie präsentiert.
Frau S. (34; Daten geändert) kommt nach zweimonatigem Krankenstand auf Empfehlung der Psychiaterin. Sie leide seit 8 Monaten an zunehmender und relativ durchgängiger Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit. Sie habe sich deutlich zurückgezogen und habe eine Reihe von Aktivitäten mit Freunden wie auch Sport reduziert. Sie fühle sich ständig müde, hätte sich nur mühsam morgens hochgekämpft und wäre in der Arbeit unkonzentriert, überfordert und weinerlich gewesen. Sie hätte abends weiter gegrübelt und könne weder ein- noch durchschlafen. Der Appetit sei unverändert. Sie fühle sich hilflos und einsam. Suizidalität sei kein Thema. Medizinisch sei sie abgeklärt und sie habe ein hilfreiches schlafanstoßendes Antidepressivum erhalten. Mehrere Panikattacken in der Arbeit mit Atemnot und Angst zu ersticken hätten sie schließlich bewogen in Krankenstand zu gehen. Seither hätte sich die Panik bzw. die Angst vor den Attacken gebessert. Frau S. Die Patientin leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode.
Die krankheitswertige Störung ermöglicht ihr zunächst den offiziellen Eintritt in das Gesundheitssystem und erleichtert die Kommunikation unter Behandler*innen. Wichtiger im aktuellen Zusammenhang ist allerdings erstens, dass zurzeit der überwiegende Teil der Literatur zu theoretischen Modellen und Behandlungseffektivität über die Diagnose organisiert ist und so gefunden werden kann. Zweitens unterstützt eine Diagnose bereits die Fallkonzeption, da evidenz-basierte Behandlungsmethoden auf einem empirisch untersuchten Modell der Störung aufbauen. Und drittens ist Information über die Diagnose und über daraus resultierende therapeutische Vorschläge zentraler Bestandteil der informierten Zustimmung, die Patient*innen zur Behandlung geben müssen (Persons et al.
In Störungsbereichen wie der Depression, in denen überprüfte Therapiemanuale existieren, können kognitive Verhaltenstherapeut*innen auf einige bewährte ätiologische Erklärungs- und therapeutische Behandlungsmodelle zurückgreifen.
Verstärkungstheoretisches Modell
Im „Verstärkungstheoretischen Modell“ von Lewinsohn (1974) wurde die zentrale Rolle von Aktivitäten für die depressive Stimmung beschrieben. Deprimierte Menschen ziehen sich häufig sozial zurück und geben Dinge auf, die ihnen bisher Spaß gemacht haben. Oft haben sie einen schwierigen interaktionellen Stil mit negativen Folgen im zwischenmenschlichen Bereich. Dadurch entsteht eine Abwärtsspirale, in der positive Erfahrungen abnehmen, immer mehr Zeit für negatives Grübeln bleibt und eine Depression entsteht. In der Behandlung wird dem über einen systematischen Aufbau von angenehmen Aktivitäten und Arbeit an zwischenmenschlichen Fertigkeiten entgegengewirkt. Dieser Zugang ist vom Prinzip einfach, empirisch sehr gut überprüft und wirksam (Martell et al.
Kognitives Modell der Depression
Der zweite zentrale Zugang, in dem Bewertungen eine prominente Rolle spielen, ist das Kognitive Modell der Depression von Beck (1967), das mittlerweile auf fast alle Bereiche psychischer Störungen ausgedehnt wurde (z. B. Hofmann 2013; Margraf und Schneider 2018a, 2018b). In der Biografie entsteht eine Vulnerabilität („Diathese“) aufgrund von häufigen schwierigen Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Lehrer*innen, Gleichaltrige etc.), die zu negativen Grundannahmen über sich selbst, die Umwelt und die Zukunft führt. („Kognitive Triade“; Beck et al. 2010). Durch einen aktuellen Auslöser wird sie aktiviert („Diathese-Stress-Modell“). Teufelskreise halten die Symptomatik aufrecht.
Für die Fallkonzeption folgt, dass wir bei unserer Patientin auf die Suche gehen nach negativen Annahmen über sich selbst, die Umwelt und die Zukunft, die sich aus ihrer Lebensgeschichte erklären lassen. Die Diathese sollte durch einen erkennbaren Stressor ausgelöst worden sein. Die resultierende dysfunktionale Bewältigung und der Verlust an positiven Erfahrungen sind häufige Teufelskreise, die die Störung aufrechterhalten. Ein depressiver Interaktionsstil kann eine Rolle spielen. Andererseits ist es wichtig, Ressourcen zu identifizieren, die die Patientin bisher geschützt haben und Ziele in der Therapie maßgeblich unterstützen können (Kuyken et al.
Frau S. beschreibt Rückzugsverhalten mit weniger angenehmen Aktivitäten [Verstärkerverlust] und deutlich mehr Zeit zum Grübeln, das sich bei der Patientin um Hilflosigkeit und Einsamkeit dreht [negative Grundannahmen/Diathese]. Diese beiden Themen begleiten sie schon sehr lange. Frau S. schildert, dass sie mit einer deutlich depressiven Mutter und einem emotional distanzierten Vater aufgewachsen sei, die beide wenig verfügbar waren. Ihre jüngere, schillernde Schwester habe den Großteil der verbleibenden Aufmerksamkeit bekommen [historische Wurzeln]. Sie selbst sei häufig mit ihren kindlichen Sorgen allein geblieben und hätte die Erfahrung gemacht, dass sie nicht wichtig sei [negative Grundannahmen]. Sie hätte in ihrer sehr ruhigen Art versucht, eine gute Schülerin, unermüdliche Freundin und angepasste Tochter zu sein, die wenig Belastung verursacht. Sie habe sich mit ihren eigenen Bedürfnissen untergeordnet, um die Beziehung zu sichern [Bewältigung abgeleitet aus den Grundannahmen]. Sie erreichte das über Strenge und Selbstdisziplin, die immer wieder auch eine sehr harte innere Kritikerin werden kann [Bewältigung]. Dies sei auch in Partnerschaften ein zentraler Interaktionsstil geblieben [Bewältigung].
Durch den Wegfall einer Kollegin vor 6 Monaten sei die Arbeit merkbar mehr geworden. Trotz ihrer deutlichen Beeinträchtigungen beschreibt die Patientin, dass sie weiterhin die Anforderungen in der Arbeit erfüllt habe, sie sei sehr verlässlich und könne hartnäckig sein. Sie sei finanziell abgesichert, unterhalte sehr gute Freundschaften, die trotz ihres sozialen Rückzugs wertschätzend und hilfreich seien.
In dem Beispiel können eine kognitive Diathese und aktivierende Ereignisse klar identifiziert werden, die eine Veränderung von Erleben und Verhalten bewirkt haben. Die innere Strenge ist meistens Resilienz (als Disziplin), aber auch dysfunktionale Bewältigung (als ewige Kritikerin). Die soziale Kompetenz der Patientin ist eine große Ressource und macht deutlich, dass ein Fertigkeitentraining nicht notwendig ist. Eine prototypische Fallkonzeption macht nur begrenzt das Besondere der Situation von Frau S. sichtbar, das in unserer Schilderung bereits deutlich wird. Sie ist nicht geplagt durch Wertlosigkeitsgefühle, sondern durch Hilflosigkeits- und Einsamkeitsgefühle. Sie bewältigt nicht durch gereizte Konfrontation, Vermeidung oder eine lähmende Opferhaltung, sondern durch Aufopferung, Unterordnung und Leistung. Ihre innere Kritikerin treibt sie hier an und wird immer wertender, um das Letzte aus sich herauszuholen. Wie kommt es dazu, dass die Patientin genau so und nicht anders bewertet und bewältigt? Für eine Erklärung braucht es eine individualisierte Konzeption.
Diese in der Forschung als „generic cognitive model“ (Beck und Haigh 2014) benannte Herangehensweise wurde auch als „case conceptualization-driven approach“ (Persons 2008) bzw. auch als „transdiagnostische KVT“ (Creed et al. 2016) bezeichnet. Dabei werden Elemente standardisierter Manuale strategisch ausgewählt, um die hypothetischen Mechanismen hinter den Problemen zu verändern (Waltman und Sokol 2017). Dieser Zugang wurde ebenfalls empirisch untersucht (Kuyken et al.
Der praktische Ausgangspunkt ist zunächst eine Problemliste (Persons 2008), bevor die zentralen psychologischen Mechanismen beschrieben werden, die die Hauptprobleme von Patient*innen auslösen und aufrechterhalten und Ansatzpunkte in der Therapie werden können. Dabei stehen in der KVT mit „horizontalen Verhaltensanalysen“ (sog. SORKC-Schemas, s. oben Tab. 1) und „vertikalen Verhaltensanalysen“ (Identifikation von „bedingten Annahmen“ und „Grundannahmen“; s. unten Abb. 2) differenzierte Methoden zur Verfügung, die das Problemverhalten von Patient*innen auf unterschiedlichen Analyseebenen betrachten (Abb. 1).
Horizontale Verhaltensanalyse (SORKC-Schema)
Die folgende Tabelle zeigt eine horizontale Verhaltensanalyse am Beispiel einer depressiven Patientin Frau S.
| Element | Beschreibung | Beispiel (Frau S.) |
|---|---|---|
| Stimulus | Interne und externe Auslöser | Sonntag Nachmittag, der Partner arbeitet schon wieder, Frau S. denkt an Montag, die Arbeit und den ständig fordernden Chef |
| Organismus | Situationsübergreifende biologische und psychische Merkmale der Person | Biologisch: ev. gewisse genetische Prädisposition (depressive Mutter) Negative Grundannahmen: „Ich bin hilflos.“ „Ich bin allein.“ Abgeleitete dysfunktionale Überzeugungen (bedingte Annahmen/Bewältigung): „Andere werden mir nicht helfen, wenn ich es brauche, ich versuche es erst gar nicht.“ „Wenn ich zeige, dass ich Hilfe brauche, bin ich eine Belastung und mein Gegenüber wird sich distanzieren.“ „Ich muss um jeden Preis und immer die Erwartungen erfüllen, sonst werden sich wichtige Menschen von mir entfernen.“ |
| Reaktion | Problemverhalten bzw. Symptome auf der kognitiven, emotionalen, physiologischen und behavioralen Ebene | Kognitiv: „Ich schaffe das morgen nicht mehr. Ich kann mich nicht wehren. Ich werde meinen Chef enttäuschen.“ „Mein Partner ist nicht für mich da. Ich habe niemanden, der mir hilft.“ Emotional: Hilflosigkeit, tiefe Niedergeschlagenheit Physiologisch: Anspannung, Erschöpfung Behavioral: Rückzug auf die Couch, nicht reden, grübeln, stilles Weinen, für sich allein sein |
| Kontingenz | In welcher Form zeigt sich Zusammenhang mit Konsequenz? manchmal, meistens, immer? | Meistens |
| Konsequenz | Kurzfristig: Negatives lässt nach, Positives taucht auf Langfristig: Negative Konsequenzen, die zu Leidensdruck führen | Kurzfristig (erleichternd oder positiv): etwas Erleichterung durch Rückzug, Weinen und Resignation; befürchtete negative Reaktion des Partners bei Suche nach Unterstützung und die erwartete eigene Enttäuschung darüber wurden vermieden Langfristig (negativ): Selbstwirksamkeit sinkt, negative Annahmen über sich, Partner und Zukunft werden bestätigt/nicht korrigiert, Beziehung verschlechtert sich, adaptive Bewältigung kann sich nicht entwickeln |
Kognitive Störungen sind bei der MD vorhanden und stellen eine wichtige Dimension in der Psychopathologie der Erkrankung dar. Im Vergleich zu anderen psychischen Störungen wie Schizophrenie oder bipolare Störung wurde diesen Defiziten bei MD bisher noch wenig Beachtung geschenkt. Sie sind eine große Herausforderung in der Behandlung.
Wesentlich ist zu berücksichtigen, dass kognitive Störungen als Mediatoren das psychosoziale Funktionsniveau beeinflussen, in besonderer Weise wirken sich die Defizite auf die Arbeitsfähigkeit aus. Diese Beeinträchtigungen dauern an und können auch auslösend für erneute depressive Episoden gesehen werden. Es stellt sich auch die Frage, welche kognitiven Tests bei MD angemessen und für die Forschung sowie für die klinische Anwendung relevant sind. Derzeit existieren noch keine Standards zu dieser Frage, es befinden sich eine Reihe von verschiedenen kognitiven Tests in Anwendung, die für unterschiedliche Bereiche zum Einsatz kommen können und sich auch bei MD als hilfreich erwiesen haben.
Neurobiologische Untersuchungen konnten feststellen, dass bei der MD Veränderungen in den zentralen Neurotransmittersystemen eine Rolle spielen. Erste Studien deuten darauf hin, dass kognitive Veränderungen sich durch Effekte auf multiple monaminerge Systeme ergeben. Vermehrte Untersuchungen zu Auswirkungen auf psychosoziale Funktionen sind noch durchzuführen. Es hat sich gezeigt, dass, ähnlich wie bei Patienten mit Schizophrenie und bei bipolaren Störungen, auch kognitive Remediation hilfreich sein kann.
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