Autismus und Zwangsstörungen: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Autismus ist ein Sammelbegriff für verschiedene tiefgreifende Entwicklungsstörungen - die genaue Bezeichnung lautet Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Die meisten Betroffenen haben Probleme mit sozialen Kontakten sowie mit der Kommunikation und Sprache. Viele zeigen wiederholte, stereotype Verhaltensweisen und Interessen.

Das Erscheinungsbild bei Autismus ist je nach Form und Schweregrad der Störung individuell sehr unterschiedlich. Manche Betroffene entwickeln nur einen leichten Autismus, der ihr Alltagsleben nur wenig beeinflusst. Andere sind schwer behindert.

Laut offiziellen Leitlinien wird, unter Berücksichtigung des Großteils aller weltweiten Studien seit dem Jahr 2000, insgesamt von einer Häufigkeit der ASS von etwa einem Prozent in der Bevölkerung ausgegangen.

Autismus: Verlauf und Prognose

Wie sich eine autistische Störung im Einzelfall entwickelt, lässt sich nicht vorhersagen. Der Verlauf hängt unter anderem von der Form des Autismus sowie eventuellen Begleiterkrankungen (wie Depressionen) ab.

Beispielsweise bleiben beim Frühkindlichen Autismus die typischen Symptome ein Leben lang bestehen, also etwa die Probleme bei der sozialen Interaktion und beim Aufbau von Beziehungen sowie die Sprachbeeinträchtigungen. In der Kindheit sind die Symptome meist am stärksten ausgeprägt. Bei manchen Betroffenen verbessert sich das Verhalten dann im Jugend- und frühen Erwachsenenalter. Es gibt aber auch Menschen, bei denen die autistische Störung bis ins Erwachsenenalter unverändert bleibt oder bei denen nach anfänglicher Verbesserung die Symptome wieder zunehmen.

Lesen Sie auch: Umgang mit Ruhestörung bei Autismus

Der Großteil der Autisten weist eine geistige Behinderung auf, die die Intelligenz einschränkt. Manche leiden zudem unter Schlafstörungen, Ängsten oder teilweise aggressivem Verhalten.

Rund 75 Prozent der Autisten sind ein Leben lang auf Hilfe angewiesen. Die meisten autistischen Jugendlichen wachsen heute in ihren Familien auf. Sie erhalten Fördermaßnahmen und werden intensiv betreut.

Es gibt aber auch Menschen mit leichterem Autismus, die gut alleine zurechtkommen. Sie sind in der Lage, sich ein gewisses Maß an sozialer Kompetenz anzutrainieren. Einige Autisten üben zudem anspruchsvolle Berufe aus. Besonders Inselbegabungen (wie eine große Rechenbegabung) können oft effektiv im Beruf genutzt werden.

Autismus: Symptome

Autismus tritt in der Regel vor dem dritten Lebensjahr auf und kann sich in einem oder mehreren der folgenden Bereiche zeigen:

  • Probleme beim wechselseitigen sozialen Umgang und Austausch (etwa beim Verständnis und Aufbau von Beziehungen)
  • Auffälligkeiten bei der sprachlichen und nonverbalen Kommunikation (etwa bei Blickkontakt und Körpersprache)
  • eingeschränkte Interessen mit sich wiederholenden, stereotyp ablaufenden Verhaltensweisen

Betroffene Individuen werden als Autisten oder als autistisch bezeichnet. Aufgrund ihrer Einschränkungen benötigen viele autistische Menschen – manchmal lebenslang – Hilfe und Unterstützung. Autismus ist unabhängig von der Intelligenzentwicklung, jedoch gehört Intelligenzminderung zu den häufigen zusätzlichen Einschränkungen. Trotz umfangreicher Forschungsanstrengungen gibt es derzeit keine allgemein anerkannte Erklärung der Ursachen autistischer Störungen.

Lesen Sie auch: Autismus: Schwangerschaftsfaktoren

Alte Subtypen

Im deutschsprachigen Raum sind drei Diagnosearten des Autismus gebräuchlich:

  • Der frühkindliche Autismus (auch Kanner-Syndrom genannt).
  • Der atypische Autismus erfüllt nicht alle Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus oder zeigt sich erst nach dem dritten Lebensjahr.
  • Das Asperger-Syndrom – veraltet auch autistische Psychopathie oder schizoide Psychopathien im Kindesalter (1926).

Im DSM-5 (2013) und ICD-11 (2018) wurden alle Einzelkategorien unter die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) (autism spectrum disorders) zusammengefasst. Die Begründung hierfür lautete, die Forscher gingen heute davon aus, dass es sich weniger um qualitativ unterschiedliche Erkrankungen handele als um ein Kontinuum von sehr milden bis schweren Verlaufsformen einer Entwicklungsstörung, die bereits in der frühen Kindheit beginne. Bei den Symptomen wird unterschieden zwischen Defiziten in zwei Kategorien: Gestört ist erstens die soziale Interaktion und Kommunikation (zum Beispiel Blickkontakte, Fähigkeit zur Konversation oder Aufbau von Beziehungen sind schwach ausgeprägt). Zweitens sind repetitive Verhaltensweisen und fixierte Interessen und Verhaltensweisen Merkmale autistischer Störungen.

Frühkindlicher Autismus

Die drei wichtigsten bei frühkindlichem Autismus betroffenen Bereiche sind:

  • Soziale Interaktion
  • Kommunikation
  • Repetitive und stereotype Verhaltensmuster

Eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion zeigt sich manchmal schon in den ersten Lebensmonaten durch fehlende Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere zur Mutter. Viele Kinder mit frühkindlichem Autismus strecken der Mutter nicht die Arme entgegen, um hochgehoben zu werden. Sie lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden, und nehmen zu den Eltern keinen angemessenen Blickkontakt auf.

Etwa jedes zweite Kind mit frühkindlichem Autismus entwickelt keine Lautsprache. Bei den anderen verzögert sich die Sprachentwicklung. Die Entwicklung der Lautsprache erfolgt oft über eine lange Phase der Echolalie, manche der betroffenen Personen kommen über diese Phase nicht hinaus. Im Kindesalter werden oft die Pronomina vertauscht (pronominale Umkehr). Sie reden von Anderen als „ich“ und von sich selbst als „du“ oder in der dritten Person. Diese Eigenart bessert sich üblicherweise im Laufe der Entwicklung. Zudem gibt es oft Probleme mit Ja/Nein-Antworten, Gesagtes wird stattdessen durch Wiederholung bestätigt. Probleme gibt es auch mit der Semantik: Wortneuschöpfungen (Neologismen) treten häufig auf. Manche Menschen mit frühkindlichem Autismus haften auch an bestimmten Formulierungen (Perseveration). Am ausgeprägtesten ist die Beeinträchtigung der Pragmatik: In der Kommunikation mit anderen Menschen haben autistische Menschen Schwierigkeiten, Gesagtes über die genaue Wortbedeutung hinaus zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen. Ihre Stimme klingt oft eintönig (fehlende Prosodie).

Lesen Sie auch: Diagnostik und Therapie für Autisten in Bayern

Die Probleme in der Kommunikation äußern sich in schwieriger Kontaktaufnahme zur Außenwelt und zu anderen Menschen. Manche Autisten scheinen die Außenwelt kaum wahrzunehmen und teilen sich ihrer Umwelt auf ihre ganz individuelle Art mit. Deshalb wurden autistische Kinder früher auch Muschelkinder oder Igelkinder genannt. Die visuellen und auditiven Wahrnehmungen sind oft ungewöhnlich intensiv. Daher besteht manchmal die Annahme, Abschaltfunktionen im Gehirn würden als Selbstschutz mögliche Reizüberflutungen vermindern. Autisten haben ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Bedürfnis nach Körperkontakt. Einerseits nehmen manche mit fremden Menschen direkten und teils sozial unangemessenen Kontakt auf, andererseits kann auch jede Berührung für sie aufgrund der Überempfindlichkeit ihres Tastsinns unangenehm sein.

Veränderungen ihrer Umwelt (wie zum Beispiel umgestellte Möbel oder ein anderer Schulweg) beunruhigen und verunsichern manche autistische Menschen. Manchmal geraten Betroffene auch in Panik, wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewöhnlichen Platz oder in einer bestimmten Anordnung befinden, oder es bringt sie ein unangekündigter Besuch oder spontaner Ortswechsel völlig aus der Fassung. Handlungen laufen meist ritualisiert ab, und Abweichungen von diesen Ritualen führen zu Chaos im Kopf, denn autistische Menschen haben bei unerwarteten Veränderungen von Situationen oder Abläufen in der Regel keine alternativen Strategien.

Bei stark autistischen Menschen können folgende repetitive (sich wiederholende) Stereotypien – sogenanntes Stimming – auftreten:

  • Jaktationen (Schaukeln mit Kopf oder Oberkörper)
  • im Kreis umhergehen oder Finger verdrehen
  • Oberflächen betasten
  • vereinzelt auch selbstverletzendes Verhalten, wie etwa Finger blutig knibbeln, Nägel bis über das Nagelbett hinaus abkauen, den Kopf anschlagen, mit der Hand an den Kopf schlagen, sich selbst kratzen, beißen oder anderes.

Hochfunktionaler Autismus

Treten alle Symptome des frühkindlichen Autismus zusammen mit normaler Intelligenz (einem IQ von mehr als 70) auf, so spricht man vom hochfunktionalen Autismus (high-functioning autism, HFA). Diagnostisch wichtig ist hier insbesondere die verzögerte Sprachentwicklung. Gegenüber dem Asperger-Syndrom sind die motorischen Fähigkeiten meist deutlich besser.

Oftmals wird, durch die Verzögerung der Sprachentwicklung, zunächst der niedrigfunktionale frühkindliche Autismus (LFA) diagnostiziert. Es kann dann aber später eine normale Sprachentwicklung erfolgen, bei der durchaus ein mit dem Asperger-Syndrom vergleichbares Funktionsniveau erreicht wird. Viele HFA-Autisten sind deshalb als Erwachsene nicht von Asperger-Autisten zu unterscheiden, meistens bleiben die autistischen Symptome aber wesentlich deutlicher ausgeprägt als beim Asperger-Syndrom. Die Sprache muss sich dabei nicht zwangsläufig entwickeln, viele nicht sprechende HFA-Autisten können trotzdem eigenständig leben und lernen, sich schriftlich zu äußern. Internetbasierte Kommunikationsformen helfen gerade diesen Menschen, ihre Lebensqualität deutlich zu steigern.

Atypischer Autismus

Atypischer Autismus unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch, dass Kinder nach dem dritten Lebensjahr autistisches Verhalten zeigen (atypisches Erkrankungsalter) oder nicht alle Symptome aufweisen (atypische Symptomatik).

Autistische Kinder mit atypischem Erkrankungsalter zeigen bei den Symptomen das Vollbild des frühkindlichen Autismus, der sich bei ihnen aber erst nach dem dritten Lebensjahr manifestiert.

Autistische Kinder mit atypischer Symptomatik legen Auffälligkeiten an den Tag, die für den frühkindlichen Autismus typisch sind, jedoch die Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus nicht vollständig erfüllen. Dabei können sich die Symptome sowohl vor als auch nach dem dritten Lebensjahr manifestieren.

Wenn atypischer Autismus zusammen mit erheblicher Intelligenzminderung auftritt, wird manchmal auch von „Intelligenzminderung mit autistischen Zügen“ gesprochen.

Webinar: Autismus-Spektrum oder/und...? Differentialdiagnostik und Komorbidität bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Verdacht

In diesem halbtägigen Webinar soll anhand von Beispielen aus der Praxis ein kurzer Überblick über die Abgrenzung, Überschneidung und Komorbidität des Autismus-Spektrums mit anderen Diagnosen gegeben werden: Handelt es sich um eine Autismus-Spektrum-Diagnose oder z.B. ein ADHS, eine Bindungsstörung, Zwangsstörung oder Sozialphobie? Oder liegen Doppel- oder Mehrfachdiagnosen vor?

Voraussetzung für die Teilnahme an dem Webinar ist ein Basiswissen zum Autismus-Spektrum bzw. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Autismus und anderen Diagnosen der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

tags: #autismus #und #zwangsstörungen #unterschiede #und #gemeinsamkeiten