Frühkindlicher Autismus: Ursachen, Symptome, Therapie und Prognose

Der frühkindliche Autismus (Kanner-Autismus, Kanner-Syndrom) gehört zu den schwerwiegenden Formen von Autismus.

Beschreibung des frühkindlichen Autismus

Wenn allgemein von "Autismus" die Rede ist, ist damit in der Regel der frühkindliche Autismus gemeint. Diese schwere Form einer Autismus-Spektrum-Störung macht sich schon vor dem dritten Lebensjahr bemerkbar. Sie wird nach ihrem Erstbeschreiber Leo Kanner auch als Kanner-Autismus oder Kanner-Syndrom bezeichnet.

Wie bei allen autistischen Störungen zeigen sich auch beim frühkindlichen Autismus folgende Beeinträchtigungen in unterschiedlich starker Ausprägung:

  • gestörte soziale Interaktion
  • beeinträchtigte Kommunikation / Sprache
  • wiederholte, stereotype Verhaltensweisen und Interessen

Oft ist auch die Intelligenz vermindert.

Hochfunktionaler Autismus

Es gibt aber auch Fälle von frühkindlichem Autismus mit durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz. Dann sprechen Fachleute manchmal von "High-functioning-Autismus" (Hochfunktionaler Autismus): Die Betroffenen zeigen die üblichen Symptome wie Probleme in der sozialen Interaktion, haben aber keine geistige Behinderung oder Lernbehinderung.

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Die übliche Beeinträchtigung der Sprachentwicklung nimmt zudem meist einen recht guten Verlauf - meist verbessern sich die sprachlichen Fähigkeiten der Betroffenen mit der Zeit so weit, dass sie sich im Erwachsenenalter nicht mehr von denen von Menschen mit Asperger-Syndrom (einer weiteren Autismus-Spektrum-Störung) unterscheiden lassen.

Die Einteilung in frühkindlichen Autismus und andere Autismus-Formen wird es künftig nicht mehr geben: Die neue (11.) Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) sieht nur noch den Oberbegriff "Autismus-Spektrum-Störungen" vor.

Wann die ICD-11 die derzeitige Version ICD-10 (mit den Unterformen Frühkindlicher Autismus etc.) endgültig ablösen wird, steht noch nicht fest.

Fakten zum frühkindlichen Autismus

Die Literaturangaben zur Häufigkeit von frühkindlichem Autismus variieren. Manche Autoren sprechen von unter einem Prozent an Betroffenen. Dagegen weisen Zahlen aus Europa, Kanada und den USA darauf hin, dass frühkindlicher Autismus 1,3 bis 2,2 von 1000 Kindern betrifft (männliche deutlich häufiger als weibliche). Bei einem Großteil der Betroffenen besteht zusätzlich eine geistige Behinderung.

Frühkindlicher Autismus: Ursachen

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, zu denen auch der frühkindliche Autismus gehört, sind hauptsächlich genetisch bedingt. Es gibt aber noch andere Risikofaktoren.

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Genetische Risikofaktoren

Experten kennen mittlerweile ganz unterschiedliche genetische Risikofaktoren für Autismus-Spektrum-Störungen wie Frühkindlichen Autismus. Dabei handelt es sich zum Beispiel um:

  • Veränderungen (Mutationen) in einzelnen Genen oder in mehrere Genen
  • fehlende oder zusätzlich vorhandene winzige Erbgut-Abschnitte (Mikrodeletionen und Mikroduplikationen)
  • eine abweichende Struktur oder Anzahl der Chromosomen (Chromosomenaberrationen)

Die genetischen Risikofaktoren, die Autismus-Spektrum-Störungen zugrunde liegen, können von den Eltern vererbt oder neu entstanden sein (in den Keimzellen: Ei- und Samenzellen).

Die Vererbbarkeit von Autismus-Spektrum-Störungen liegt bei ungefähr 40 bis 80 Prozent. Das zeigen neuere Zwillings- und Familienstudien. Bei Eltern, die ein Kind mit einer solchen Störung haben, ist im Allgemeinen mit einer 10- bis 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit auch ein weiteres Kind betroffen.

Dieses Wiederholungsrisiko steigt auf über 30 Prozent, wenn Eltern bereits zwei Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben.

Je nach den zugrunde liegenden genetischen Risikofaktoren kann das Wiederholungsrisiko bei Autismus-Spektrum-Störungen im Einzelfall aber auch viel niedriger ausfallen.

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Weitere Risikofaktoren

Es gibt noch weiteren Risikofaktoren für Autismus-Spektrum-Störungen wie Frühkindlichen Autismus. Einige Beispiele:

  • Mit zunehmendem Alter der Eltern steigt verschiedenen Untersuchungen zufolge das Risiko für Autismus-Spektrum-Störungen bei den Kindern.
  • Vorerkrankungen der Eltern - besonders der Mütter - spielen ebenfalls eine Rolle für das Auftreten von Autismus-Spektrum-Störungen bei den Kindern.
  • Darüber hinaus sind für Autismus-Spektrum-Störungen wie Frühkindlichen Autismus Risikofaktoren im Zusammenhang mit der Schwangerschaft bekannt. Dazu zählen beispielsweise eine Röteln-Infektion bei Schwangeren sowie die Anwendung verschiedener Medikamente in der Schwangerschaft (z.B. krampflösender Mittel = Antiepileptika).

Frühkindlicher Autismus: Symptome

Frühkindlicher Autismus macht sich grundsätzlich schon vor dem dritten Lebensjahr bemerkbar.

Gestörte soziale Interaktion

Babys mit frühkindlichem Autismus fallen schon früh durch ihre Andersartigkeit auf. Dem Blickkontakt weichen sie aktiv aus, sie lehnen körperliche Nähe ab und reagieren nicht auf Gestik und Mimik. Das Imitieren eines Lachens, das die Beziehung zur Mutter herstellen soll, kann vollständig fehlen oder sich erst sehr spät einstellen.

Außerdem verstehen Menschen mit Kanner-Autismus Gefühle nicht und zeigen selbst auch keine spontanen Gefühlsregungen. Gesichtsausdrücke, die beispielsweise Zorn, Mitleid, Freude oder Trauer ausdrücken, erahnen sie nicht intuitiv, sondern leiten sie anhand erlernter Erkennungsmerkmale (Muskelbewegungen, Gesichtsfalten) ab.

Allgemein interessieren sich autistische Kinder eher für Gegenstände als für Menschen. Sie sind komplett in sich gekehrt und spielen lieber alleine als mit Gleichaltrigen oder den Eltern, und zwar nur mit einigen ausgewählten Spielzeugen oder Objekten.

Die Eltern leiden oft sehr unter der vermeintlichen Gefühlskälte ihrer autistischen Kinder. Lob und Zuwendung scheint den Kleinen wenig zu bedeuten.

Gestörte Sprachentwicklung

Ein frühkindlicher Autismus beeinträchtigt viele Kinder in ihrer Sprachentwicklung. Meist beginnen die Kinder erst sehr spät zu sprechen - wenn überhaupt. Sie sprechen Sätze nach oder wiederholen sie einfach, verstehen aber die tiefere Bedeutung oder Zusammenhänge oft nicht.

Sie können sich kaum artikulieren oder ihre Wortwahl ist eingeschränkt. Häufig plappern sie Gesagtes wahllos nach oder wiederholen einen Satz immer wieder. Mitunter bilden sie neue Wörter oder sagen beispielsweise "du", wenn sie "ich" meinen.

Beim Sprechen unterstützen Autisten das Gesagte nur in geringem Maße mit einer passenden Mimik und Gestik. Auch die Sprachmelodie ist oft monoton ohne Höhen und Tiefen, was roboterhaft klingt.

Stereotypes Verhalten

Autistische Kinder wiederholen bestimmte Verhaltensweisen oder Sätze. Solche repetitiven Handlungen - Stereotypien genannt - treten in verschiedenen Bereichen auf.

Wenn andere Menschen die Rituale unterbrechen, entstehen bei den Kindern häufig extreme Angst und Unruhe. Veränderungen machen autistischen Kindern Angst und sollten deshalb nur langsam vorgenommen werden.

Verminderte Intelligenz

Viele Kinder mit frühkindlichem Autismus weisen eine geistige Behinderung mit einer Intelligenzminderung auf (Ausnahmen: Kinder mit High-Functioning-Autismus). Dies lässt sich mit altersgemäßen Intelligenztests feststellen.

Außergewöhnliche Inselbegabungen, beispielsweise ein fotografisches Gedächtnis oder ein mathematisches Genie, sind für den frühkindlichen Autismus untypisch. Solche "Savants" gibt es häufiger unter Patienten mit einem Asperger-Syndrom.

Weitere Symptome

Das Kanner-Syndrom wird oft von weiteren Symptomen begleitet. So sind heftigste ängstliche Reaktionen auf Veränderungen nicht selten. Die Kinder weigern sich oft, bestimmte Kleidung anzuziehen oder lachen und kichern ohne ersichtlichen Grund. Mitunter schätzen sie alltägliche Gefahren wie den Autoverkehr falsch ein. Auch selbstverletzendes Verhalten kann bei autistischen Kindern auftreten. Bei Säuglingen sind zudem Schlaf- und Essstörungen häufig.

Frühkindlicher Autismus: Therapie

Autismus lässt sich bislang nicht ursächlich behandeln. Die Symptome bleiben ein Leben lang bestehen, mildern sich mit den Jahren aber etwas. Das übergeordnete Therapieziel besteht deshalb darin, die Lebensqualität und die Teilhabemöglichkeiten von Betroffenen und ihren Familien zu verbessern.

Um diese Ziele zu erreichen, setzt sich das individuelle Behandlungskonzept aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Es kann zum Beispiel eine Autismus-spezifische Frühförderung, Logopädie, verhaltenstherapeutische und ergotherapeutische Methoden umfassen.

Psychische und körperliche Begleitsymptome und -erkrankungen sollten ebenfalls angemessen behandelt werden, gegebenenfalls auch mit Medikamenten (z.B. bei begleitender Angststörung oder aggressiven Verhaltensweisen).

Wichtig ist auch, das Umfeld mit einzubeziehen. Die Angehörigen profitieren von einer psychosozialen Unterstützung, etwa einer genauen Aufklärung über das Störungsbild bei frühkindlichem Autismus oder einer psychologischen Beratung und Begleitung.

Idealerweise beginnt die Behandlung bei frühkindlichem Autismus möglichst früh und zieht sich über einen längeren Zeitraum hin. Sie kann im familiären Umfeld, teilstationär oder vollstationär erfolgen.

Frühkindlicher Autismus: Prognose

Frühkindlicher Autismus bleibt das gesamte Leben lang bestehen - eine Heilung gibt es bislang nicht. Mithilfe intensiver individueller Therapiekonzepte lassen sich jedoch einzelne Symptome kontrollieren und durch neu erlernte Fähigkeiten eine größere Selbstständigkeit erreichen.

Die Verhaltenstherapien sind sehr zeitintensiv und bedürfen eines stetigen Trainings - auch im familiären Umfeld. Erste Erfolge stellen sich nur langsam ein.

Da Menschen mit frühkindlichem Autismus häufig zusätzlich noch unter einer geistigen Behinderung leiden, sind sie zeitlebens auf ein mehr oder weniger großes Maß an Betreuung angewiesen.

Nagarro und Specialisterne: Eine Erfolgsgeschichte

Hannes Färberböck, Managing Director bei Nagarro in Österreich, wurde vor einigen Jahren auf die Situation und die Talente von Menschen mit Autismus aufmerksam. Aus einer Zufallsbegegnung entwickelte sich eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Triple-Win. In seinem Blog-Beitrag gibt Hannes Färberböck Einblick in die mittlerweile seit fünf Jahren bestehende Kooperation mit Specialisterne und seine Erfahrungen:

In Kooperation mit Specialisterne unterstützt Nagarro seit bald fünf Jahren die berufliche Laufbahn von Menschen mit Asperger-Syndrom im IT-Bereich. Im Herbst 2020 wird es wieder 10 TestingPro Ausbildungsplätze geben.

Bislang 40 Menschen mit Autismus haben wir gemeinsam als zertifizierte Software-Testexperten ausgebildet - Zeit für eine Zwischenbilanz. Eines vorweg: Unsere anfängliche Unsicherheit war schnell verflogen und wir werden weiter besondere Talente ausbilden, damit unsere Kunden und anderen Unternehmen, die innovative Wege gehen, von den besonderen Fähigkeiten dieser Mitarbeiter profitieren können.

Ich hatte schon im Vorfeld von Specialisterne (Link) gehört und mich damit auseinandergesetzt, dass Menschen mit Asperger-Syndrom besondere Fähigkeiten mitbringen, die für Software-Testing einen Mehrwert haben. Die Initialzündung gab allerdings ein Kollege, der selbst einen autistischen Sohn hat.

Beim ersten Treffen mit Specialisterne habe ich sehr viel über Autismus und Menschen mit Asperger (Link) erfahren. Ich habe das unglaublich engagierte und innovative Social-Start-up-Team und das tolle Projektteam mit Menschen mit Asperger kennengelernt.

Dieses Kennenlernen des Projektteams und das Gespräch haben mir sehr geholfen, meine anfänglichen Unsicherheiten im Umgang mit diesen Menschen zu überwinden und Einsatzmöglichkeiten zu verstehen.

Später an diesem Tag war ich bei unserem Kunden ÖBB, um ein großes Entwicklungsvorhaben, bei dem wir den Software-Test verantworteten, zu besprechen. Dabei kam zur Sprache, dass gerade ein Team daran arbeitet, große komplexe Datenmengen zu transferieren - inkl. Qualitätssicherung.

Das innovative Projektteam war sehr interessiert, hat sich die Thematik näher angesehen und raten Sie was passierte ... Schon wenige Monate später arbeiteten zwei Menschen mit Asperger in diesem Bereich und stifteten hohen Nutzen.

Denn die typischen Inselbegabungen, wie analytisches Denken, der Blick für Details, Mustererkennung und Genauigkeit schaffen zielgerichtet eingesetzt großen Mehrwert für Unternehmen.

Qualifizierung durch TestingPro

Um alle Teilnehmer für den Softwaretest fit zu machen, haben wir auf Basis unserer bewährten Trainings eine spezifische zweiteilige Ausbildung erarbeitet: TestingPro (Link).

Mit TestingPro und unserem bewährten Nagarro Trainer-Team sowie in enger Kooperation mit Specialisterne bieten wir eine fundierte Ausbildung zum Software-Tester inklusive ISTQB® Zertifizierung für Menschen mit Autismus an.

Ich erinnere mich zurück an das erste bevorstehende Training. Auch unsere Trainer waren nervös: Wie wird es werden? Aber schon beim Kennenlern-Workshop war das Eis gebrochen. Man lernte nicht nur die Kollegen mit Asperger kennen, sondern auch das eine oder andere über sich selbst.

Robert Licen, einer unserer Trainer, bringt den Umgang mit den Menschen mit Asperger auf den Punkt: „Alle meine Befürchtungen waren unnötig, denn: Wie redet man mit ihnen? Ganz normal! Wie nähert man sich ihnen? So wie jedem anderen auch! Wie waren die Kurstage? Vielfach lustiger und spannender als bei „normalen“ Kursen.“

Das Potenzial neuer Blickwinkel

Wir waren und sind immer noch überrascht, wie rasch die Menschen mit Asperger, die wir ausgebildet haben, lernen, wie gut sie das Erlernte umsetzen und wie engagiert und konzentriert sie ihre Aufgaben erledigen - auch in späteren Projekten.

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