Anna Freud: Leben und Werk einer Pionierin der Kinderanalyse

Anna Freud, geboren am 3. Dezember 1895 in Wien, Österreich-Ungarn, und gestorben am 9. Oktober 1982 in London, Vereinigtes Königreich, war eine österreichisch-britische Psychoanalytikerin und Tochter Sigmund Freuds.

Bekannt wurde sie durch ihre Arbeiten zur psychoanalytischen Pädagogik und Kinderanalyse einerseits und jene über Abwehrmechanismen andererseits. Sie gilt neben Melanie Klein als Mitbegründerin der Kinderanalyse.

Frühe Jahre und Ausbildung

Anna war das jüngste der sechs Kinder von Sigmund und Martha Freud. Sie wurde nach Freuds Schwester Anna (1858-1955) benannt.

Von 1901 bis 1903 besuchte sie eine private Volksschule im 1. Wiener Gemeindebezirk und wechselte dann in eine Volksschule im 9. Bezirk. Die 5. Volksschulklasse sowie ihre Mittelschulstudien absolvierte sie in der Privatschule "Cottage Lyzeum", 19., Gymnasiumstraße 79, die sie bereits im Alter von 15 Jahren, im Jahr 1911, mit der Reifeprüfung beendete.

Anfang 1910 ließen die Eltern Anna mit dem Schulbesuch aussetzen. „Sie hatte nicht nur nach einer Blinddarmoperation Gewicht verloren, sondern wirkte auf die Familienmitglieder ganz allgemein ein wenig zu unvernünftig.“ Ab Juni 1910 war sie bei Ludwig Jekels, einem Freund und Kollegen ihres Vaters, in dessen Privatsanatorium in Bistrai in Behandlung.

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Ihre Tante Minna Bernays, die gemeinsam mit ihr und ihrer Schwester Sophie in Bistrai kurte, schrieb an Sigmund Freud, dass Anna zwar zugenommen habe, aber „doch noch ein kleines Meschuggenes“ sei. Jekels sei dagegen, sie nach Wien und in die Schule zurückzubringen.

Die große Schwester, bei der Anna dann zu Schulbeginn in Wien wohnte, weil die Eltern noch auf Reisen waren, meinte, Annerl sei „ein armes Tier und quäl[e] sich schrecklich mit allem“, stellte jedoch eine „relative Vernunft in Bezug auf die Schule“ fest.

Anna Freud wurde zunächst Lehrerin und unterrichtete von 1917 bis 1920 am Wiener Billrothgymnasium, doch galt ihr Interesse schon früh der Psychoanalyse. Nachdem sie eine Lehrerausbildung absolviert hatte, unterrichtete sie von 1917 bis 1920 an einer privaten Volksschule.

Ohne je ein formales Universitätsstudium zu betreiben, wurde sie von ihrem Vater zur Psychoanalytikerin ausgebildet. Julius Wagner-Jauregg gestattete ihr die Teilnahme an Visiten in der psychiatrischen Abteilung des Wiener Allgemeinen Krankenhauses, und seit 1920 nahm sie an den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung teil.

Von 1918 bis 1921 absolvierte sie eine Lehranalyse bei ihrem Vater. Auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest hatte sie 1918 ihren ersten öffentlichen Auftritt.

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Von da an nahm sie regelmäßig an den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung teil, deren Mitglied sie im Jahr 1922 wurde. Ihren sogenannten "Probevortrag" hielt sie zum Thema "Schlagephantasien und Tagträume".

Psychoanalytische Tätigkeit in Wien

Seit 1923 führte sie ihre eigene psychoanalytische Praxis neben der ihres Vaters. Im selben Jahr veröffentlichte sie in der Zeitschrift "Imago" ihre erste kinderanalytische Arbeit, und zwar mit dem Titel "Ein hysterisches Symptom bei einem zweieinhalbjährigen Kinde".

Als treusorgende Tochter war Anna Freud für ihren Vater als Sekretärin und Assistentin tätig, organisierte seine Auftritte, pflegte den Krebskranken und vertrat ihn auf Kongressen.

1924 nahm sie ihr Vater in sein "Geheimes Komitee", das aus seinen engsten Mitarbeitern bestand, auf. 1925 wurde das Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gegründet, in dem Anna Freud von Beginn an als Lehranalytikerin tätig war. Im selben Jahr wurde sie Schriftführerin des Lehrausschusses.

Im Jahr 1927 wurde sie Sekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, im Oktober des Jahres 1931 auch Sekretärin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und 1933 deren zweite Obmann-Stellvertreterin. Mit letzterer Funktion oblag ihr die tatsächliche Leitung der Gesellschaft.

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Nach der Emigration Helene Deutschs im Jahr 1934 übernahm Anna Freud ein Jahr später die Leitung des Wiener Lehrinstituts. 1935 wurde Anna Freud Leiterin des Wiener Lehrinstituts für Psychoanalyse.

Ungefähr von 1925 an lebte sie mit Dorothy Tiffany Burlingham zusammen, einer New Yorker Millionenerbin. Beide wiesen jedoch Vermutungen auf eine homosexuelle Beziehung von sich. 1931 kauften die beiden in Hochroterd im südlichen Wienerwald ein Wochenendhaus.

Mit Dorothy Burlingham und Edith Jackson eröffnete sie im Februar 1937 eine Kindertageskrippe, die sogenannte Jackson Nursery, im 1. Bezirk, Rudolfsplatz. Diese Einrichtung wurde jedoch 1938 aufgelöst, ebenso stellte man den Internationalen Psychoanalytischen Verlag unter "kommissarische Leitung".

1937 engagierten sich Anna und ihre Freundin Dorothy Burlingham im Projekt der von Montessori-Ideen inspirierten "Jackson Nursery", einem Kindergarten für Kleinkinder aus armen Familien, der mit Geldern der Amerikanerin Edith Jackson gegründet werden konnte. In dieser Institution konnten sie zugleich kindliches Verhalten beobachten und Experimente durchführen, die die Essgewohnheiten der Kinder positiv beinflussen sollten.

Flucht nach London und weitere Tätigkeit

Nach dem Anschluss Österreichs durch das Deutsche Reich wurde Anna Freud am 22. März 1938 von der Gestapo in Wien verhört. Am 4. Juni 1938 flohen Sigmund Freud, seine Frau Martha und ihre Kinder, darunter Anna, gemeinsam mit Dorothy und deren vier Kindern nach London. Annas Bruder Ernst L. Freud war bereits 1933 dorthin emigriert.

Am 23. März 1938 wurde Anna Freud einen ganzen Tag von der Gestapo auf dem 1., Morzinplatz verhört. Durch Intervention von Prinzessin Marie Bonaparte und der amerikanischen Botschafter Bullitt und Wilsey gelang Anna Freud 1938 mit ihrer Familie die Ausreise nach England.

Im besetzten Frankreich standen ihre Werke auf einer Verbotsliste, der „Liste Otto“.

Am 23. September 1939 starb ihr Vater Sigmund Freud im englischen Exil. Anna Freud veranlasste die Herausgabe seiner Gesammelten Werke und bewahrte seinen Nachlass.

In England wurde sie Mitglied der British Psychoanalytical Society und war sowohl als Lehranalytikerin als auch im Lehrausschuss tätig. 1938 musste Anna Freud mit ihrem Vater das Land verlassen und ließ sich in England nieder.

Anna Freud wurde Lehranalytikerin der British Psycho-Analytical Society. Nach dem Tod ihres Vaters 1939 kam es zwischen Anna Freud und Melanie Klein und ihren jeweiligen Anhängern zu äußerst kontroversen Diskussionen, die nicht nur die Kinderanalyse, sondern die gesamte Ausrichtung der Psychoanalyse betrafen.

Eine Spaltung der britischen psychoanalytischen Vereinigung konnte mit Mühe verhindert werden. Neben den beiden Hauptgruppen bildete sich eine dritte Gruppe der „Unabhängigen“.

In den Kriegsjahren gründeten Anna Freud und Dorothy Burlingham-Tiffany zusammen mit Josefine Stross die "Hampstead War Nursery", ein Heim, in dem Kriegskinder und Kriegswaisen betreut wurden. Mit Burlingham veröffentlichte Freud Studien über die betreuten Kinder, "Young Children in War-Time" (dt.: "Kriegskinder"), "Infants without Families" (dt.: "Heimatlose Kinder") und "Experiment in Group Upbringing" (Dt.: "Gemeinschaftsleben im frühen Kindesalter").

1945 holte Anna Freud eine kleine Gruppe von Kindern aus Theresienstadt nach London. Sie wurden unter ihrer Aufsicht (Supervision) versorgt und betreut. Die Erinnerungen einiger Kinder wurden mit deren Erlaubnis veröffentlicht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten sie die Nurseries aus: Die Hampstead-Klinik für Kinder wurde ab 1947 zu einem international renommierten Lehrinstitut für Kindertherapie. In Übereinkunft mit der British Psychoanalytical Society wurde die Hampstead Clinic von Anfang an The Hampstead Child-Therapy Clinic genannt, obwohl die an der Klinik praktizierte und gelehrte Therapie-Methode die der Kinderpsychoanalyse war und ist.

Anna Freud stand der Klinik ab 1952 als Direktorin vor. Die Hampstead-Klinik für Kinder wurde in der Folge zu einem international renommierten Lehrinstitut für Kindertherapie.

Auch in den folgenden Jahrzehnten konzentrierten sich Anna Freuds Arbeiten vor allem auf Jugendliche und Kinder. Von den 50er Jahren bis zu ihrem Lebensende unterrichtete Anna Freud auch regelmäßig in den USA.

Neben ihrem Schwerpunkt, der Analyse von kriegstraumatisierten Kindern, analysierte sie auch Erwachsene, darunter beispielsweise Marilyn Monroe.

Nach Sigmund Freuds Tod im Jahr 1939 übernahm Anna das Erbe ihres berühmten Vaters, wurde zur Doyenne der Psychoanalyse und verbrachte viel Zeit auf Vortragsreisen und Kongressen. 1971 kam Anna Freud im Rahmen des Internationalen Psychoanalytischen Kongresses, der mit ihrer Zustimmung in Wien stattfand, wieder in ihre Geburtsstadt. Auch in den Folgejahren besuchte sie Wien immer wieder.

Sie bewohnte das Freud-Haus in London bis zu ihrem Tod 1982, anschließend wurde dort ihrem Wunsch entsprechend ein Museum eingerichtet. Anna Freud wurde im Golders Green Crematorium eingeäschert, wo sich ihre Urne neben denen ihrer Eltern, weiterer Familienmitglieder und der von Dorothy Burlingham befindet.

In Anerkennung ihrer Leistungen wurde sie 1967 von Königin Elisabeth II. geehrt. 1975 wurde Anna Freud mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet und besuchte Österreich über die Jahre immer wieder. Am 6. Mai 1980 hielt sie die Sigmund-Freud-Vorlesung in Wien. Dies war zugleich ihr letzter Besuch.

2011 wurde nach ihr der Anna-Freud-Park benannt. Der Freudplatz im 2. Bezirk ist Anna Freud und ihrem Vater gewidmet. Im Jahr 2014 wurde in Wien-Leopoldstadt (2. Bezirk) der Freudplatz nach ihr und ihrem Vater benannt. Dort befindet sich seit 2015 die 2005 gegründete Sigmund Freud Privatuniversität Wien.

Beiträge zur Psychoanalyse

Von 1927 bis 1934 war Anna Freud Generalsekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Auf deren zehntem Kongress vom 1. bis 3. Danach wurde sie 1935 Direktorin des psychoanalytischen Ausbildungsinstitutes in Wien.

Mit ihrem 1936 erschienenen Buch Das Ich und die Abwehrmechanismen schuf Anna Freud ein Grundlagenwerk auf dem Gebiet der Ich-Psychologie, das heute zur Standardliteratur der Psychoanalyse zählt.

In diese Zeit fällt ihre einflussreiche Veröffentlichung „Das Ich und die Abwehrmechanismen“. Mit ihrer Fokussierung auf die Ich-Funktionen des Individuums bewegte sie sich weg von den traditionellen Grundlagen der Psychoanalyse wie etwa der Triebtheorie.

Anna Freuds Hauptwerk "Das Ich und die Abwehrmechanismen", das im Jahr 1936 erschien, leistete für die Entwicklungspsychologie und die neu entstehende analytische Ich-Psychologie einen wesentlichen Beitrag.

Anna Freud hat insgesamt elf Abwehrmechanismen analysiert. Es beschreibt zehn aus der psychoanalytischen Literatur bekannte Abwehrmechanismen: Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen/Verleugnung, Projektion, Introjektion, Wendung gegen die eigene Person, Verkehrung ins Gegenteil, Verschiebung des Triebziels (Sublimierung).

Anna Freud fügt diesen aus der eigenen Beobachtung und Praxis gewonnene komplexe Abwehrtypen hinzu, die als Mischformen gelten können: die Identifikation mit dem Aggressor (Introjektion und Projektion) sowie die altruistische Abtretung (Projektion und Identifizierung).

Die Arbeit des kindlichen Ich zur Unlustvermeidung in direkter Gegenwehr gegen die Eindrücke aus der Außenwelt gehört der Normalpsychologie an. Ihre Folgen sind vielleicht schwerwiegend für die Ich- und Charakter-Bildung, aber sie sind nicht pathogen. „Aber auch dort in der infantilen Neurose, wo die Abwehr aus Realangst [d. h. Angst vor der Außenwelt] erfolgt war, hat die analytische Therapie sehr gute Aussicht auf Erfolg.

Ehrungen

Seitens der Stadt Wien zeichnete man Anna Freud durch die Verleihung des "Ehrenringes" aus (Überreichung durch den österreichischen Botschafter in London am 20. Februar 1977), die Republik Österreich ehrte sie mit der Verleihung des "Großen Goldenen Ehrenzeichens" (1975).

Anna Freud wurde mit zahlreichen Ehrentiteln führender Universitäten bedacht wie zum Beispiel mit dem "Dr. iur. h. c. der Yale-University" (1968), dem "Dr. iur. h. c. der Universität Sheffield" (1970), mit dem "Dr. med. h. c. der Medizinischen Fakultät der Universität Wien" [zum ersten Mal in der Geschichte dieser Universität erhielt ein/e Nicht-Mediziner/in ein Ehrendoktorat der Medizin] (1972) sowie dem "Dr. of Science h. c.

Werke (Auswahl)

  • Schlagephantasie und Tagtraum.
  • Einführung in die Technik der Kinderanalyse.
  • Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen.
  • Vier Vorträge.
  • Das Ich und die Abwehrmechanismen.
  • (und Dorothy Burlingham) Young Children in War-Time. A Year’s Work in a Residential Nursery.
  • Kriegskinder. Jahresbericht des Kriegskinderheims Hampstead Nurseries.
  • Infants Without Families.

Auszeichnungen

  • Ehrenring der Stadt Wien (Verleihung: 11. Dezember 1975, Übernahme: 20. Februar 1977)
  • Großes Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (Übernahme: 2. 9. 1975)

Zusammenfassung

Anna Freud war eine bedeutende Psychoanalytikerin, deren Arbeit insbesondere auf dem Gebiet der Kinderanalyse bahnbrechend war. Sie trug wesentlich zur Entwicklung der Ich-Psychologie bei und setzte sich für das Wohl von Kindern und Jugendlichen ein. Ihr Leben und Werk sind bis heute von großer Bedeutung für die Psychoanalyse und die Pädagogik.

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