Somatoforme Störungen können als ein “kulturelles” Konstrukt mit “speziellen kulturellen Ausprägungen”, aber auch als “kulturübergreifende Prinzipien” verstanden werden. Die Verbindung beider Ansätze ist nicht nur für die Diagnostik und Modellbildung wichtig, sondern kann auch bei der Bewältigung von Krankheiten/Stress nützlich sein. Bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Kultur und somatoformen Störungen sollte zunächst damit begonnen werden, was der Begriff “Kultur” in der heutigen Welt bedeutet.
Kulturelle Aspekte und Somatoforme Störungen
Kultur befindet - und befand sich schon immer - in Veränderung und Bewegung mit den Menschen, die sie praktizieren. In neueren Theorieansätzen wird Kultur zwar weiterhin als sozial verbindendes Bedeutungssystem verstanden, allerdings muss Kultur in sich heterogener gedacht werden, als es bisher der Fall war. Der Begriff “Medicoscape” scheint hier sehr brauchbar zu sein, um diesen flexiblen Kulturbegriff im medizinischen Bereich zu beschreiben. Unter Medicoscapes versteht man weltweit verstreute “Landschaften” von Personen und Organisationen im heilkundlichen Bereich, welche sich lokal verdichtet an einem Ort darstellen können, aber zugleich räumlich weit entfernte Orte, Personen und Organisationen miteinander verbinden.
PatientInnen neigen dazu, Symptome zu präsentieren, die “medizinisch richtig” sind, d. h. Symptome, die Ärzte erwarten und verstehen. Somatische Symptome sind leichter zu erkennen, benennen und weniger stigmatisierend als psychische Symptome. In den meisten Kulturen wird psychosozialer Stress in körperliche Symptome “transformiert”. In der “WHO Cross-National Study” wurde die Häufigkeit klinisch relevanter Somatisierung in 14 Ländern im Primärversorgungsbereich untersucht. Dabei wurden 5.438 Personen mittels des Somatic Symtom Index (4/6) befragt, ob sie unter mindestens 4 - für Männer - bzw. mindestens 6 - für Frauen - körperlichen Symptomen leiden, für die es keine ausreichende medizinische Erklärung gibt. Im Mittel erreichten oder überschritten 19,7% der Untersuchten diese Screeninggrenze.
Ob kulturgebundene Syndrome tatsächlich existieren, ist innerhalb der evidenzbasierten Medizin umstritten. Dabei können zwei gegensätzliche Standpunkte bezogen werden: Vor allem zwischen Anthropologen und Psychiatern wird die Frage häufig kontrovers diskutiert: Die Anthropologie neige dabei dazu, die kulturspezifischen Aspekte besonders zu betonen. Beide Ansätze können jedoch mit Hilfe der transkulturellen Psychiatrie gewinnbringend verbunden werden. Andererseits sollten in einem ressourcenfördernden psychotherapeutischen Setting die jeweiligen kulturellen Ressourcen für eine Symptom- und Krankheitsbewältigung nicht unterschätzt werden.
Kulturgebundene Syndrome (“culture bound syndromes”) werden so definiert, dass sie kulturintern als echte Krankheit eingestuft werden, innerhalb der jeweiligen Kultur einen großen Bekanntheitsgrad haben, in anderen Kulturen die Kenntnis über diese Krankheit fehlt, es keine nachweisbaren biochemischen oder organischen Ursachen gibt und die Diagnose und Therapie meist innerhalb der lokalen Volksmedizin erfolgen. Einige kulturgebundene Syndrome können körperliche Symptome (z. B. Wird diese Definition mit der Definition der somatoformen Störungen verknüpft, ergeben sich die kulturgebundenen “somatoformen” Störungen. Der Punkt “in anderen Kulturen ist das Krankheitsbild unbekannt” bzw. “auf eine bestimmte Gesellschaft oder Kultur beschränkt” kann in einer globalisierten Informationsgesellschaft kaum aufrecht erhalten werden.
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Beispiele für kulturgebundene Syndrome
- Dhat (Indien - jiryan; in Sri Lanka - sukra prameha; in China - shen-k’uei) kann als eine kulturgebundene somatoforme Störung angesehen werden, mit hypochondrischen Ängsten und Sorgen, die sich auf den Verlust von Sperma beziehen, einer weißlichen Verfärbung des Urins und dem Gefühl von Schwäche und Erschöpfung.
- Koro (malaiisch, etymologisch strittig, vielleicht “schrumpfend” oder “Schildkröte[nkopf]”) beschreibt eine in Indonesien und Malaysia vorkommende Störung.
- Brain-Fag, Chronic Fatigue Syndrome: Brain-Fag wurde als CBS bei Westafrikanischen Studenten in den 1960er-Jahren “gefunden”.
Kulturelle Einflüsse auf Symptom - Erleben und Symptom-Kommunikation finden auf mehreren Ebenen statt: Psychophysiologie, Aufmerksamkeit, Symptom-Attribuierung und -Interpretation, Art der Bewältigung, Hilfesuche und Behandlung. Viele Patienten mit somatischen kulturellen Idiomen der Not beschreiben die sozialen Probleme, die ihre Symptome verstärken, wenn sie ein offenes Ohr finden. Bei Fehlen einer klaren Diagnose und der dadurch fehlenden effektiven Behandlung der Patienten kommt es zur Unsicherheit und Bemühung, eine definitive Diagnose und eine Legitimation für das Leiden zu finden, eine Bewältigung des Leidens zu erreichen.
Somatoforme Störungen können so als ein “kulturelles Konstrukt” gesehen werden, bei dem die Kommunikation und die Bewältigung von Krankheiten/Stress in einer globalisierten Welt im Zentrum steht. Dabei spielen kulturelle Modelle von somatischen Symptomen eine wichtige Rolle: Erklärungsmodelle, die Kausalattributionen zulassen und auf spezifische Mechanismen oder pathophysiologische Prozesse hindeuten. Prototypen, markante Bilder oder Vorbilder aus der eigenen Erfahrung, Familie, Freunde, aus den Massenmedien und der populären Kultur, die ein Reflektieren über den eigenen Zustand ermöglichen. Somatische Symptome haben unterschiedliche psychologische und soziale Bedeutungen. eine Fehlattribution bzw. resümeeSomatoforme Störungen können als ein “kulturelles” Konstrukt mit “speziellen kulturellen Ausprägungen”, aber auch als”kulturübergreifende Prinzipien” verstanden werden. Kommunikation von Krankheiten/Stress in verschiedenen Kulturen - für die Diagnostik und Modellbildung (Klärung) ist beides wichtig: Das “Abholen der Patienten” bei ihren individuellen Störungsbildern (kultureller Hintergrund, Medicoscape) und die Zuordnung zu “allgemeingültigen Störungsbildern”.
Definition und Symptome
Eine somatoforme Störung liegt vor, wenn jemand wiederholt verschiedene körperliche Symptome hat, die trotz mehrfach durchgeführter Untersuchungen mit negativen Testergebnissen bestehen bleiben. Die körperlichen Beschwerden sind dabei sehr unterschiedlich und betreffen eventuell jedes Körperteil oder Organ. Die Patienten sind häufig von einer körperlichen Erkrankung fest überzeugt und fordern stets weitere Untersuchungen und medizinische Maßnahmen ein. Die Möglichkeit einer psychischen Ursache wird vom Patienten oft nicht akzeptiert, was zu häufigen Arztwechseln führt. Oftmals geht die somatoforme Störung mit einer weiteren psychiatrischen Erkrankung wie beispielsweise Angst oder Depression einher.
Das Hauptmerkmal einer somatoformen Störung sind körperliche Symptome, die der Patient zwar nicht willentlich kontrolliert oder vortäuscht, für die es aber auch keine körperliche Erklärung gibt. Die Beschwerden sind dabei grundsätzlich in allen Organsystemen möglich. Am häufigsten geht eine somatoforme Störung mit folgenden Symptomen einher:
- Symptome im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems: Brustschmerz, Druckgefühl, Herzstechen oder Herzstolpern
- Symptome im Bereich des Magen-Darm-Trakts: Bauchschmerzen, Verdauungsprobleme mit Verstopfung und/oder Durchfall, Übelkeit, Völlegefühl
- Symptome im urogenitalen Bereich: Schmerzen beim Wasserlassen, häufiges Wasserlassen, Unterbauchschmerzen
- Symptome im Bereich der Atmung: Gefühl der Luftnot, Kurzatmigkeit
- Symptome im Bereich der Muskeln und Gelenke: Rückenschmerzen, Schmerzen in Armen und Beinen, Kribbeln
Wann welches Organ oder Organsystem durch die somatoforme Störung betroffen ist, ist bei jedem Patienten unterschiedlich. Hierbei spielen der kulturelle Hintergrund, frühere Erkrankungen und die Identifikation mit Krankheitssymptomen bei Mitmenschen eine Rolle. Ein vorübergehend hohes Anspannungsniveau in Stressphasen des Lebens lindert häufig die somatoforme Störung beziehungsweise ihre Symptome. Eine darauffolgende Entspannung lässt dann aber die Störung oftmals wieder umso stärker hervortreten.
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Ausprägungen somatoformer Störungen (ICD-10)
Es gibt verschiedene somatoforme Störungen. Das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation WHO (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) ICD-10 zählt unter dem Code F45.- unter anderem folgende Ausprägungen darunter:
- Hypochondrische Störung: Die Betroffenen sind objektiv körperlich gesund, aber fest davon überzeugt, an einer schweren Krankheit zu leiden, und beschäftigen sich intensiv mit ihren Beschwerden.
- Somatisierungsstörung: Kennzeichnend sind unterschiedliche, über mindestens zwei Jahre bestehende Beschwerden ohne ausreichende körperliche Erklärung.
- Anhaltende somatoforme Schmerzstörung: Diese zeichnet sich dadurch aus, dass über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten chronische, starke Schmerzen ohne ausreichende körperliche Erklärung bestehen.
- Somatoforme autonome Funktionsstörung: Hier ist ein Organ/Organsystem betroffen, das vom vegetativen (autonomen) Nervensystem gesteuert wird (vor allem das Herz-Lungensystem oder der Verdauungstrakt).
- Undifferenzierte Somatisierungsstörung: Eine solche liegt vor, wenn die körperlichen Beschwerden zwar zahlreich und in unterschiedlicher Form hartnäckig auftreten, aber die klinischen Kriterien für eine Somatisierungsstörung nicht erfüllt sind.
Ursachen und Risikofaktoren
Die Ursachen für eine somatoforme Störung sind komplex, Experten vermuten hier ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Dabei gibt es verschiedene Erklärungsansätze für die Entstehung einer somatoformen Störung:
- Das psychoanalytische Modell geht davon aus, dass innere psychische Konflikte auf der "Bühne des Körpers" ausgetragen werden und sich somit nach außen in Form von körperlichen Beschwerden und organischem Leiden äußern.
- Der lerntheoretische Erklärungsansatz setzt ein erlerntes, immer wieder auftretendes und sich dadurch verstärkendes Verhaltensmuster für die somatoforme Störung voraus.
- Verschiedene neurobiologische Modelle werden aktuell diskutiert. Da manche somatoforme Störung oft auch Verwandte ersten Grades betrifft, ist eine gewisse Vererbbarkeit nicht auszuschließen.
Als Risikofaktoren für eine somatoforme Störung gelten emotionale Stresssituationen, unbewusste Konflikte und seelisch belastende Prozesse. Bestimmte Persönlichkeitstypen sind außerdem anfälliger für eine somatoforme Störung als andere. Ein weiterer Risikofaktor ist eine dauerhafte Mehrbelastung im täglichen Leben beziehungsweise das Gefühl der Überforderung.
Diagnose
Es ist nicht immer leicht, eine somatoforme Störung von körperlichen Erkrankungen abzugrenzen. Deshalb sind sorgfältige Untersuchungen zum Ausschluss körperlicher Ursachen der Symptome notwendig (etwa Blutuntersuchungen, EKG, Röntgen), bevor der Arzt von einer somatoformen Störung als Arbeitsdiagnose ausgeht. Entscheidend für die Diagnose ist zudem das Auftreten vieler verschiedener körperlicher Symptome, die sich meistens nicht nur auf ein Organsystem beschränken und für die es keine medizinische Erklärung gibt. Die somatoforme Störung lässt sich außerdem durch das Vorliegen der Symptome über einen längeren Zeitraum identifizieren. Eine psychologische Diagnostik unter anderem mit standardisierten Fragebögen sichert oft die Diagnose.
Therapie
Es gibt keine einheitliche Therapie für die verschiedenen Formen von somatoformer Störung. Die Therapie wird vielmehr individuell an jeden Patienten angepasst. Falls mit der somatoformen Störung zusätzlich psychiatrische oder körperliche Erkrankungen assoziiert sind, müssen diese ebenfalls behandelt werden. Die Linderung solcher Begleiterkrankungen bessert in vielen Fällen auch die somatoforme Störung. Wichtig für die Behandlung ist zudem ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient.
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Als Fundament für eine erfolgreiche Behandlung von somatoformen Störungen gilt die Psychoedukation: Der Therapeut oder Arzt erklärt dem Patienten die psychischen Prozesse, welche eventuell die somatoforme Störung verursachen. Nur mit diesem Verständnis auf Seiten des Patienten wird die therapeutische Arbeit Früchte tragen. Wichtig ist auch, zu verhindern, dass der Patient sich selber als chronisch krank wahrnimmt und dass die somatoforme Störung sein Leben beherrscht. Es ist empfehlenswert, dass der psychosoziale Stress dauerhaft verringert wird. Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung nach Jacobson zeigen oftmals einen positiven, unterstützenden Effekt, da die somatoforme Störung häufig mit Stress und Überforderung einhergeht.
Je nach Ausprägung ist es möglich, dass somatoforme Störungen zu Arbeitsunfähigkeit führen. In einigen Fällen gehen die somatoformen Störungen ohne Behandlung von alleine wieder weg. In anderen Fällen ist eine Therapie ratsam, zu der unter Umständen die Behandlung mit Medikamenten gehört.
Therapieformen
- Psychotherapie: Hierbei versucht der Therapeut, dem Patienten das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, dass er nicht an einer ernsthaften Krankheit leidet, aber dennoch in Bezug auf die somatoforme Störung ernst genommen wird.
- Medikamentöse Behandlung: Antidepressiva werden oft mit Erfolg angewendet.
- Multimodale Therapieprogramme: Diese führt man ambulant durch. Dabei wird der Patient zum Experten seiner eigenen Schmerzen: Der Therapeut vermittelt ihm Basiswissen über die Entstehung von Schmerzen, die Verarbeitung von Schmerzreizen und die auslösenden Bedingungen.
Prognose
Bleibt die somatoforme Störung unbehandelt, sind durch wiederholte Arztbesuche und Arztwechsel übermäßige diagnostische Maßnahmen möglich - beispielsweise zu häufige Röntgenuntersuchungen. Das schadet dem Patienten eher, als dass es ihm nützt. Wird aber rechtzeitig eine Psychotherapie begonnen, ist die Prognose bei einer somatoformen Störung gut.
Somatoforme Störungen aus Sicht von Dr. Michael Bach
Man geht davon aus, dass somatoforme Störungen eine Stressverarbeitungsstörung sind. Der Körper reagiert stärker, ist stärker alarmiert als es üblicherweise der Fall ist. Relativ häufig ist bei somatoformen Störungen ein Trauma im Hintergrund. Ungefähr 50 Prozent aller Menschen mit einer somatoformen Störung haben eine traumatische Erfahrung und Traumatisierungen kommen bei Frauen häufiger vor als bei Männern.
Die Therapie der Wahl ist die Psychotherapie. Es gibt kein anerkanntes Medikament, das hier hilft. Bei chronischen Schmerzen, auch ohne Depressionen, bewähren sich teilweise Antidepressiva. Typischerweise sind das die dual wirksamen Antidepressiva, die sowohl das Serotonin- als auch das Noradrenalinsystem beeinflussen.
Es gibt in Österreich 23 anerkannte Psychotherapieschulen, allerdings gibt es nur drei Schulen, die bei derartigen Körperbeschwerden evidenzbasierte Belege haben: Dazu gehören die Kognitive Verhaltenstherapie, die Psychodynamische Psychotherapie aus der tiefenpsychologischen Tradition und die Hypnotherapie. Man zielt dabei auf zwei Ebenen: Einerseits vermittelt man Techniken, die den Patient:innen helfen, besser mit Stress umzugehen und den Körper damit direkt zu beeinflussen. Und dann geht es um den Blick hinter die Kulissen: Zu überlegen, warum jemand überhaupt übersensibel reagiert auf Stress.
Somatoforme Störungen sind schon per se chronische Störungen, weil sie mindestens sechs Monate vorliegen müssen, damit man überhaupt diese Diagnose bekommt. Das bedeutet nicht „unheilbar“ oder „therapieresistent“. Chronisch bedeutet nur, dass es unter Umständen lange dauert und nicht von selbst verschwindet. Somatoforme Störungen man kann heute gut behandeln, viele Patient:innen sind beschwerdefrei. Aber es kann ein durchaus mühsamer Weg dorthin sein. Die Behandlung ist recht komplex und die Erkrankung lässt sich auch nicht innerhalb weniger Monate stabilisieren. Sie verlangt viel Commitment und Engagement der Patient:innen.
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