Vor einiger Zeit herrschte die falsche Meinung vor, dass Zwänge bei Kindern kaum auftreten. Heute weiß man, dass Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter eine häufige Erkrankung ist. Es wird davon ausgegangen, dass 0,5 bis 4 Prozent aller Kinder und Jugendlichen von einer Zwangsstörung betroffen sind. Der durchschnittliche Erkrankungsbeginn bei Kindern ist etwa das zehnte Lebensjahr, Jungen sind doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Fast alle Zwangsstörungen brechen erstmalig vor dem 25. Lebensjahr aus, wobei im Erwachsenenalter das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist.
Kinder und Jugendliche schämen sich häufig für ihre Zwänge und versuchen, diese zu verbergen oder sind sich derer nicht voll bewusst. Zwangssymptomatik nimmt meistens im Verlauf zu und verschwindet sehr selten von alleine. Zwangsstörungen werden von betroffenen Kindern häufig belastend und einschränkend empfunden.
Zwangsstörungen sind Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, die von Betroffenen ständig wiederholt werden müssen. Zwangsstörungen umfassen ein breites Spektrum von Verhaltensauffälligkeiten und weiteren psychischen Merkmalen. Manche Betroffene werden von Zwangsgedanken verfolgt. Sie haben beispielsweise die zwanghafte Vorstellung, eine Gewalttat oder sexuell unerwünschte Handlung begehen zu müssen. Andere Betroffene stehen unter dem Druck, bestimmte Handlungen wieder und wieder in ritualisierter Form ausführen zu müssen (zum Beispiel Hände waschen, vorbeifahrende Autos zählen).
Die Gedanken und Handlungen werden als Zwang bezeichnet, denn die Betroffenen versuchen oft erfolglos, gegen sie anzukämpfen. Der innere Widerstand, die Handlungen oder Gedanken zu unterlassen, kostet viel Kraft und erzeugt immer stärker werdende Anspannung und Angst. Erst wenn sie den Zwängen nachgeben, lässt der Druck nach.
Ein 12-jähriger Junge litt sehr unter seinen Ordnungszwängen. In seinem Zimmer mussten alle Gegenstände immer am genau den gleichen Platz sein. Zunächst konnte er überhaupt keine Zwangsgedanken und damit verbundene Ängste benennen, die den Ordnungszwang auslösen. Erst im Verlauf der Behandlung stellte sich als aufdrängender Gedanke die Befürchtung heraus, seinen Eltern könne etwas Schlimmes passieren, wenn er im Zimmer nicht alles ordne.
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Was sind Zwangsgedanken?
Unter Zwangsgedanken versteht man Befürchtungen, die sich in Form von Impulsen, Sätzen oder Bildern aufdrängen. Diese Gedanken muss man denken, obwohl man es nicht möchte. Sie kehren immer wieder und werden von bestimmten Situationen oder Menschen ausgelöst. Beispielsweise können krankheitsbezogene Zwangsgedanken bei Berührungen auftreten: "Habe ich mich beim Berühren der Türschnalle mit einer schlimmen Krankheit angesteckt?" Jedoch können sich die Gedanken auch ohne Auslöser immer wieder aufdrängen.
Zwangsgedanken können auch in bildhaften Vorstellungen erscheinen, wie etwa das Bild einer verletzten Person, die einem nahe steht. Unter Zwangsimpulsen versteht man plötzliche Einfälle, die Druck erzeugen, etwas sofort zu tun, wie jemanden mit einem Messer zu verletzen. Zwangsgedanken können auch regelrecht unsinnig sein, beispielsweise "Wenn ich auf eine Fuge der Fliesen trete, wird meine Mutter sterben!" Auch können alltägliche Gedanken wie "Habe ich die Kerze wirklich ausgeblasen?" zur übertriebenen Befürchtung werden und den ganzen Tag belasten, obwohl man vor dem Verlassen des Zuhauses dies kontrolliert hat.
Leidet man unter Zwangsgedanken, sind sich Betroffene meist bewusst, dass die Gedanken unsinnig oder übertrieben sind. Zwangsgedanken sind immer sehr belastend, egal welche Inhalte sie haben. Oft werden sie auch als angsteinflößend oder bedrohlich empfunden, können sich darum drehen, jemand anderen zu verletzen, zu schädigen oder sogar zu töten. Oft spielt sogenanntes magisches Denken eine Rolle, bei dem ein Zusammenhang zwischen den eigenen schlechten Gedanken und einem schlimmen Ereignis hergestellt wird. Folgend werden Zwangshandlungen ausgeführt, um die aufkommende Angst und Schuldgefühle zu unterdrücken und um zu verhindern, dass z.B. die Mutter stirbt.
Zwangsgedanken führen meist zu Verhaltensveränderungen, um auslösenden Situationen möglichst aus dem Weg zu gehen (Vermeidungsverhalten). Auch führen Zwangsgedanken häufig zu Zwangshandlungen.
Was sind Zwangshandlungen?
Zwangshandlungen sind Handlungen die durchgeführt werden, damit ein starkes schlechtes Gefühl weniger wird. Sie verringern die negativen Emotionen kurzfristig, müssen immer wieder durchgeführt werden und die Unterdrückung der Handlungen ist kaum möglich. Körperliche Zwangshandlungen sind aktive Tätigkeiten, wie sich ständig wiederholendes Händewaschen, Kontrollieren von Geräten oder Ordnen von Dingen.
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Auch können gedankliche Zwangshandlungen auftreten, wie etwa das wiederholte Denken eines speziellen Satzes oder Zählen. Gedankliche werden auch häufig anstelle von körperlichen Zwangshandlungen ausgeführt, wenn durch Scham etwa in der Schule die üblichen Ausführungen nicht möglich sind. Zwangshandlungen treten nicht zufällig auf, sondern erfüllen einen bestimmten Zweck. Sie verringern schlechte Gefühle, wie Angst, Ekel, Anspannung und entlasten dadurch emotional. Beispielsweise werden alle Dinge des Zimmers in einem ritualhaften Vorgehen geordnet, da sonst eine innere Unruhe oder zwanghafte Gedanken aufkommen.
Zwangshandlungen erscheinen Außenstehenden oft wie Rituale, da die Reihenfolge von Handlungsabläufen gleichbleibend ist. Wird die exakte Reihenfolge nicht eingehalten, muss der Ablauf erneut begonnen werden. Auch Zahlenvorgaben sind nicht selten, z.B. muss ein Waschritual achtmal aufeinanderfolgend durchlaufen werden. Zwangshandlungen zu unterdrücken ist schwer bis unmöglich, obwohl die Unsinnigkeit oder Übertriebenheit der Handlungen prinzipiell verstanden wird.
Gedanken, Handlungen oder Rituale werden nicht gleich zur Zwangsstörung, wenn sie unsinnig erscheinen, z.B. wenn jemand sich täglich fünf Mal die Hände wäscht oder Steine sammelt. Von einer Zwangsstörung wird erst dann gesprochen, wenn die Zwänge zeitaufwendig sind und (fast) täglich über einen längeren Zeitraum auftreten (mindestens zwei Wochen). Die Zwänge sind belastend, quälend und beeinträchtigen das Wohlbefinden der betroffenen Person oder einen normalen Tagesablauf. Am Beispiel des Steine Sammelns würde man eine Zwangsstörung vermuten, wenn beim Verlust der Steine Ängste auftreten.
Diagnose von Zwangsstörungen
Der erste Schritt zur Behandlung einer Zwangsstörung ist die Diagnose der Erkrankung. Zwangsstörungen treten oft im Verborgenen auf oder die betroffenen Kinder und Jugendlichen schämen sich dafür und versuchen ihre Zwänge möglichst lange geheim zu halten. Der diagnostische Prozess beinhaltet mehrere Schritte und bezieht nicht nur das Kind, sondern auch die Eltern und möglicherweise sogar die Schule bzw. andere Betreuungspersonen mit ein.
Ein wichtiger Punkt ist die Exploration der Eltern und des Kindes (Gespräch und Fragebögen), mit der die Symptome abgeklärt, das Verhalten des Kindes analysiert und die Anamnese erhoben (Familiensituation, soziale Beziehungen, Entwicklung des Kindes etc.) werden. Der zweite Schritt ist die Befragung und Testung des Kindes selbst (Fragebögen, Gespräch, Leistungstests), wobei die Zusammenstellung der Methoden und Tests individuell an die kindliche Problematik angepasst wird. Wichtig ist auch, dass zusätzliche oder ähnliche Störungen ausgeschlossen bzw. erkannt werden können (z.B. depressive Verstimmung, Angststörungen).
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Während der Arbeit mit dem Kind ist eine Verhaltensbeobachtung des Kindes möglich (z.B. das Verhalten beim Erstkontakt, Perfektionismus in Leistungssituationen), die zusätzlich eine wichtige Informationsquelle darstellt.
Therapieansätze bei Zwangsstörungen
Aufbauend auf den Ergebnissen der Diagnostik wird ein individueller Behandlungsplan erstellt. Grundlegende Elemente der psychologischen Behandlung sind die Aufklärung und Beratung bezüglich der Erkrankung/der Probleme des Kindes, die Stützung und Begleitung im weiteren Verlauf sowie die Bearbeitung aktueller Probleme und Schwierigkeiten.
In der psychologischen Behandlung wird nicht nur mit dem Kind selbst, sondern auch mit einem Elternteil bzw. Mit dem Kind wird an der Reduzierung der Zwänge gearbeitet (Symptomtherapie) aber auch indirekte Verhaltensziele werden verfolgt (z.B. Perfektionismus reduzieren, Stärkung des Selbstwertes, Aufarbeitung von belastenden Themen). Wichtige Bausteine sind das Erkennen der zugrunde liegenden Gedankenmuster und Gefühle, welche die Zwänge auslösen (Gedankenverzerrungen) sowie der Aufbau von Handlungsalternativen und Bewältigungsstrategien.
Gerade bei Zwangserkrankungen sind die Eltern nicht selten in die Ausführung (z.B. Wasch- und Putzrituale) oder Aufrechterhaltung der Zwänge mit einbezogen oder verstärken diese, durch positive Konsequenzen (z.B. vermehrte Zuwendung, Machterleben des Kindes). Zwanghafte Kinder haben häufig auch zwanghafte bzw. perfektionistische Eltern, wodurch das zwanghafte Verhalten des Kindes weniger erkannt wird.
Zwangsstörungen können in der Regel mit gutem Erfolg behandelt werden. Bei der Behandlung mit Medikamenten haben sich vor allem jene Mittel durchgesetzt, die positiv auf die Stimmung wirken. Eine besonders gute Wirkung zeigen dabei Antidepressiva, die auf den Neurotransmitter Serotonin einwirken, sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Die rein medikamentöse Therapie verspricht zwar eine recht zügige Besserung, doch treten die Zwänge eventuell nach Absetzen des Arzneimittels sehr bald wieder auf. Deshalb sollte eine Kombination von Medikamenten und Psychotherapie angewandt werden.
Im Zentrum einer erfolgreichen Psychotherapie stehen spezielle Techniken, die darauf abzielen, den Betroffenen unter professioneller Aufsicht daran zu hindern, seine Rituale durchzuführen bzw. Im Rahmen der Übungen wird entweder stufenweise vorgegangen, oder der Betroffene wird sofort dazu aufgefordert, das zwanghafte Verhalten vollkommen zu unterdrücken.
Auch wird die berufliche bzw. soziale Umgebung der Betroffenen analysiert. Nicht selten kommen dabei Probleme zum Vorschein, die die Zwangsstörung aufrechterhalten. In der Therapie werden dann Möglichkeiten gesucht, diese Lebensumstände, den Umgang mit problematischen Situationen und deren Bewertung zu verändern.
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Diese Therapieform hilft den Betroffenen, ihre Zwangsgedanken/-handlungen zu verstehen und auch an den auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren (z.B. Was sind die Hintergründe und Erscheinungsformen?
Wichtige Bausteine sind das Erkennen der zugrunde liegenden Gedankenmuster und Gefühle, welche die Zwänge auslösen (Gedankenverzerrungen) sowie der Aufbau von Handlungsalternativen und Bewältigungsstrategien.
Mithilfe einer Therapie können die Symptome einer Zwangsstörung zumindest verringert werden. Somit ist wieder ein unbeschwerterer Alltag möglich. Zu den Säulen der Behandlung zählen Psychotherapie sowie Medikamente. Vorrangig wird Psychotherapie empfohlen. Ein Gespräch mit einer Fachärztin/einem Facharzt für Psychiatrie (und psychotherapeutische Medizin) hilft, einschätzen zu können, ob und welcher Behandlungsbedarf besteht.
Verhaltenstherapeutische Ansätze (vor allem aus der kognitiven Verhaltenstherapie) haben sich in der Behandlung von Zwangsstörungen besonders bewährt. Ergänzend dazu oder wenn eine Psychotherapie (noch) nicht möglich ist, kommen Medikamente zum Einsatz. Und zwar sogenannte Antidepressiva. Diese Medikamente werden auch bei Depressionen eingesetzt. Vor allem SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) kommen zum Einsatz. Die Ärztin/der Arzt kann zudem den Einsatz von Clomipramin (nicht selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) in Betracht ziehen. Die Ärztin/der Arzt klärt über Wirkung und mögliche Nebenwirkungen auf.
Auch eine klinisch-psychologische Behandlung kann sinnvoll sein. Sie vermittelt gezielt Bewältigungsstrategien im Umgang mit den Zwängen. Manchen Menschen tut es zudem gut, Entspannungstechniken anzuwenden (z.B. Autogenes Training). Zudem kann der Austausch in einer Selbsthilfegruppe hilfreich sein.
Ist die Erkrankung sehr stark ausgeprägt, ist auch ein stationärer Krankenhausaufenthalt oder eine Rehabilitation möglich.
Wie können Sie als Betroffene zur Genesung beitragen?
- Vertrauen Sie sich jemandem an.
- Lassen Sie Ihre Zwänge nicht Ihr Leben bestimmen - gehen Sie dagegen vor!
- Stärken Sie Ihre Ressourcen: Menschen brauchen einen sicheren Rückhalt. Stabile Beziehungen zu Freunden, Bekannten und Verwandten sind ein wichtiger Sicherheitsfaktor.
- Welche Zwänge haben Sie?
- Überprüfen und verändern Sie Ihre Einstellungen und Bewertungen und relativieren Sie Ihre Gedanken.
Menschen mit Zwangsstörungen haben häufig das Bedürfnis, das Schicksal vollkommen kontrollieren zu müssen und sehnen sich nach 100%iger Sicherheit. Sie benötigen die Stützung Ihres Selbst und der Spontanität, nicht nur das Anstreben von Entweder-Oder-Lösungen.
Für Angehörige ist das Zusammenleben mit Menschen, die an einer Zwangsstörung leiden, nicht immer einfach. Es kann zum Beispiel zu herausfordernden Situationen oder Konflikten kommen. Angehörige können jedoch auch eine wichtige Unterstützung für Menschen mit einer Zwangsstörung sein und auch in die Behandlung mit einbezogen werden. Zudem gibt es Selbsthilfegruppen für Angehörige. In denen kann man sich z.B. austauschen, welches Verhalten hilfreich ist und welches eher nicht oder wie man auf sich selbst achten kann.
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