Die Zwangsstörung (englisch: obsessive compulsive disorder, OCD-Krankheit) ist eine schwere psychische Störung, die die Betroffenen stark belastet. Alle netDoktor.at-Inhalte werden von medizinischen Fachjournalisten überprüft. Die Betroffenen führen zwanghaft immer wieder die gleichen Rituale aus oder werden von beunruhigenden Gedanken geplagt. Obwohl sie erkennen, dass ihre Handlungen und Ängste irrational sind, bekommen sie ihr Denken und Handeln nicht in den Griff. Lesen Sie hier, was eine Zwangsstörung ist, welche Untersuchungen und Diagnosemöglichkeiten es gibt und ob sie sich bessern oder sogar ganz heilen lässt.
ICD-Codes für diese Krankheit: ICD-Codes sind international gültige Verschlüsselungen für medizinische Diagnosen. Sie finden sich z.B. in Arztbriefen oder auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. F42
Was ist eine Zwangsstörung?
Zwangsstörungen umfassen ein breites Spektrum von Verhaltensauffälligkeiten und weiteren psychischen Merkmalen. Manche Betroffene werden von Zwangsgedanken verfolgt. Sie haben beispielsweise die zwanghafte Vorstellung, eine Gewalttat oder sexuell unerwünschte Handlung begehen zu müssen. Andere Betroffene stehen unter dem Druck, bestimmte Handlungen wieder und wieder in ritualisierter Form ausführen zu müssen (zum Beispiel Hände waschen, vorbeifahrende Autos zählen).
Die Gedanken und Handlungen werden als Zwang bezeichnet, denn die Betroffenen versuchen oft erfolglos, gegen sie anzukämpfen. Der innere Widerstand, die Handlungen oder Gedanken zu unterlassen, kostet viel Kraft und erzeugt immer stärker werdende Anspannung und Angst. Erst wenn sie den Zwängen nachgeben, lässt der Druck nach.
Ähnlich wie bei Suchtkranken tritt mit der Zeit eine Art Gewöhnungseffekt ein: Das Ritual wird meist immer komplexer und langwieriger, bis es die erhoffte Entspannung bringt. Die Zwänge nehmen daher immer mehr Zeit und Energie in Anspruch.
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Ein veralteter Begriff für die Zwangsstörung ist die Zwangsneurose. Die Zwangsneurose-Definition beinhaltet, dass zwangsneurotische Menschen den Bezug zur Realität nicht verlieren - im Gegensatz zu Menschen mit einer Psychose. Sie wissen, dass ihre Zwangsgedanken und -handlungen irrational sind, sind aber nicht in der Lage, sie abzustellen.
Nicht jedes Ritual ist zwanghaft
Ein bisschen Zwanghaftigkeit steckt in jedem Menschen - abergläubische Vorstellungen gehören ebenso dazu wie harmlose Rituale. So verspürt mancher ansonsten rationale Mensch leichtes Unwohlsein, wenn er am Freitag, den 13., einen wichtigen Vertrag unterschreiben soll.Der Übergang vom normalen Verhalten zur Zwangsstörung ist fließend. So fühlen sich die einen vielleicht nur gezwungen, vor dem Schlafengehen noch einmal zu überprüfen, ob der Herd ausgeschaltet ist - auch wenn sie gar nicht gekocht haben. Andere hingegen müssen ein mehrstündiges Waschritual vollziehen, bevor sie das Haus verlassen.
Grundsätzlich gilt, dass eine Zwangsstörung nur dann vorliegt, wenn der Betroffene selbst darunter leidet oder in seinem Alltag massiv eingeschränkt ist.
Wie viele sind betroffen?
Menschen, die unter einer Zwangserkrankung leiden, schämen sich oft für ihr irrationales Verhalten und schweigen darüber nach Möglichkeit. Die Dunkelziffer der Betroffenen ist daher hoch. Experten schätzen, dass etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von einer Zwangsstörung betroffen sind. Bei Männern treten häufiger Kontrollzwänge auf, Frauen leiden dagegen häufiger unter Wasch- oder Putzzwängen.
Neben der Zwangsstörung treten bei den Betroffenen meistens weitere psychische Störungen wie Depression oder Angststörungen auf.
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Verschiedene Arten von Zwangsstörungen
- Waschzwang: Weitere Informationen zu Anzeichen und Behandlung eines Waschzwangs finden Sie im Beitrag Waschzwang.
- Kontrollzwang: Wie sich ein Kotrollzwang äußert und wie er behandelt wird, erfahren Sie im Beitrag Kontrollzwang.
- Zwänge bei Kindern: Eine Zwangsstörung beginnt oft schon im Kindes- oder Jugendalter. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen zeigen sich bereits vor dem 15. Lebensjahr erste Symptome der Zwangsstörung. Kinder und Jugendliche bemühen sich oft, diese Zwänge geheim zu halten. Dabei sind Jungen häufiger betroffen als Mädchen. Massiv manifestieren sich die Zwänge dann oft in Lebenskrisen oder Konfliktsituationen.
Welche Untersuchungen und Diagnosen gibt es?
Häufig schämen sich die Betroffenen für ihre Zwänge, weil sie diese als unsinnig erkennen. Es fällt ihnen schwer, sich einem Psychologen oder Arzt anzuvertrauen. Die Betroffenen sollten sich jedoch bewusstmachen, dass die merkwürdigen Gedanken und Handlungen Teil einer Zwangsstörung sind und viele Menschen mit denselben oder ähnlichen Zwängen ringen. Vor allem verschwinden Zwänge in der Regel nicht wieder von allein.
Es ist daher wichtig, dem Arzt oder Psychologen offen und ehrlich zu antworten, damit sich die Zwangsstörung erkennen und behandeln lässt.
Anamnese
In einem ersten Gespräch (Anamnese) wird der Arzt oder Therapeut durch Fragen feststellen, ob die genannten Kriterien auf die Person zutreffen. Folgende Fragen stellt der Experte zur Zwangsstörung beispielsweise:
- Haben Sie häufig unangenehme Gedanken, die sich Ihnen aufdrängen?
- Verspüren Sie einen inneren Druck, bestimmte Handlungen immer wieder durchzuführen?
- Empfinden Sie diese Gedanken oder Handlungen als unsinnig?
- Befürchten Sie, dass etwas Schlimmes passiert, wenn Sie die Handlungen nicht ausführen?
- Brauchen Sie sehr lange für Alltagstätigkeiten?
Diagnosekriterien
Für die Diagnose der Zwangsstörung orientiert sich der Therapeut an der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Folgende Kriterien müssen zutreffen:
- Die Betroffenen haben Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen.
- Die Zwangsgedanken und -handlungen zeigen die folgenden Merkmale:
- Die Betroffenen wissen, dass die Gedanken/Handlungen ihre eigenen sind und nicht von äußeren Einflüssen erzeugt werden.
- Die Gedanken/Handlungen wiederholen sich dauernd, werden als unangenehm empfunden und als übertrieben oder unsinnig erkannt.
- Die Betroffenen versuchen, gegen die Zwangsgedanken oder -handlungen Widerstand zu leisten.
- Die Ausführung der Zwangsgedanken oder -handlungen empfinden die Betroffenen als unangenehm.
Die Betroffenen leiden unter der Zwangsstörung, und der damit verbundene enorme Zeitaufwand schränkt sie in ihrem beruflichen und sozialen Leben ein.
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Wie sind Krankheitsverlauf und Prognose?
Zwangsstörungen verlaufen meistens chronisch. Unter Stress verschlimmern sich die Symptome.
Früher galten Zwangsstörungen als kaum behandelbar. Mit den heutigen Methoden der Psychotherapie und bestimmten Medikamenten aber lassen sich die Symptome meist auf ein erträgliches Maß reduzieren. Dabei gilt: Je früher die Therapie einsetzt, desto besser die Prognose. Schlechtere Aussichten haben allerdings Betroffene, die zusätzlich an Depressionen leiden.
Langzeitstudien haben gezeigt, dass sich der Zustand von etwa zwei Drittel der therapierten Patienten auch noch zwei bis sechs Jahre nach Therapieende im Vergleich zu früher gebessert oder sehr gebessert hat. Eine vollständige Heilung der Zwangsstörung ist jedoch eher selten.
Zwangsstörung: Ursachen
Wie die unterschiedlichen Arten von Zwangsstörungen entstehen, ist noch nicht geklärt. Familienuntersuchungen und Zwillingsstudien zeigen, dass es - wie bei den meisten psychischen Erkrankungen - eine erbliche Vorbelastung für die Zwangsstörung gibt. Damit sie ausbricht, müssen jedoch weitere Faktoren hinzukommen.
Veränderungen im Gehirn
Inzwischen weiß man, dass bei Menschen mit einer Zwangserkrankung der Frontallappen des Gehirns überaktiv ist. Er kontrolliert unter anderem die sogenannten Basalganglien. Das sind Hirnstrukturen, die für die motorischen Abläufe zuständig sind. Erhärtet wird diese Hypothese dadurch, dass Menschen, deren Basalganglien durch Tumore oder Kopfverletzungen beeinträchtigt sind, häufiger Zwangsstörungen entwickeln.
Darüber hinaus scheint bei Menschen mit Zwangsstörung der Serotoninhaushalt im Gehirn gestört zu sein. Serotonin ist ein wichtiger Nervenbotenstoff (Neurotransmitter). Vielen Patienten helfen Medikamente, die den Serotoninspiegel erhöhen.
Umwelteinflüsse
Auslöser einer Zwangsstörung sind häufig belastende Ereignisse. Jegliche Überforderung erzeugt den Wunsch nach Kontrolle. Wenn die Situation für die Person jedoch nicht zu bewältigen ist, dienen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zum einen als Ablenkung. Zum anderen verschaffen Zwangsgedanken und -handlungen Personen, die ängstlich sind und ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit haben, die Illusion, im Grunde unkontrollierbare Ereignisse kontrollierbar zu machen. Sie hoffen zum Beispiel, dass durch bestimmte Rituale Unglücke vermieden werden.
Mitunter trägt die Erziehung zur Entstehung einer Zwangsstörung bei. Kinder, die eher ängstlich sind, werden durch überbehütendes Verhalten der Eltern zusätzlich verunsichert. Sie lernen von den Eltern, bedrohliche Situationen zu meiden, anstatt sich ihnen zu stellen. Auch Eltern, die sehr kritisch mit den Kindern sind oder perfektionistische Ansprüche haben, fördern möglicherweise eine Zwangsstörung beim Nachwuchs.
Zwangsstörung: Behandlung
Zwangsstörungen können in der Regel mit gutem Erfolg behandelt werden. Bei der Behandlung mit Medikamenten haben sich vor allem jene Mittel durchgesetzt, die positiv auf die Stimmung wirken. Eine besonders gute Wirkung zeigen dabei Antidepressiva, die auf den Neurotransmitter Serotonin einwirken, sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Die rein medikamentöse Therapie verspricht zwar eine recht zügige Besserung, doch treten die Zwänge eventuell nach Absetzen des Arzneimittels sehr bald wieder auf. Deshalb sollte eine Kombination von Medikamenten und Psychotherapie angewandt werden.
Im Zentrum einer erfolgreichen Psychotherapie stehen spezielle Techniken, die darauf abzielen, den Betroffenen unter professioneller Aufsicht daran zu hindern, seine Rituale durchzuführen bzw. Im Rahmen der Übungen wird entweder stufenweise vorgegangen, oder der Betroffene wird sofort dazu aufgefordert, das zwanghafte Verhalten vollkommen zu unterdrücken. Auch wird die berufliche bzw. soziale Umgebung der Betroffenen analysiert. Nicht selten kommen dabei Probleme zum Vorschein, die die Zwangsstörung aufrechterhalten. In der Therapie werden dann Möglichkeiten gesucht, diese Lebensumstände, den Umgang mit problematischen Situationen und deren Bewertung zu verändern.
Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen
Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich als wirksamste Behandlungsmethode erwiesen. Der Goldstandard ist die Exposition mit Reaktionsverhinderung (E/RP). Jeder Behandlung geht eine genaue Diagnostik (Differentialdiagnostik) voraus. Diese erfordert unter anderem eine fundierte Analyse der Zwangsgedanken und Rituale (z.B.: Schwankungen der Symptome; Erwartungen und Befürchtungen; Situationen, in denen die Zwänge auftreten; Situationen, die aufgrund der Zwänge vermieden werden). Dabei kommt es meist auch zum Einsatz von spezifischen psychologischen Fragebögen. Zudem wird ein individuelles Erklärungsmodell erstellt, welches Einsicht in die Entwicklung der Störung bietet. Dieses umfasst vorexistierende Risikofaktoren (z.B. Erziehungsstile in der Familie oder in der Schule, genetische Faktoren etc.) ebenso wie Auslöser (z.B. akute oder chronische Belastungen) und aufrechterhaltende Faktoren (z.B.
Methoden der Verhaltenstherapie
- Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) bei Zwangshandlungen: Der Patient/Die Patientin wird mit einem angstauslösenden Stimulus (real oder in der Vorstellung) konfrontiert (Exposition) und darf seine/ihre Zwangsrituale nicht ausführen. Z.B.: Ein Patient/Eine Patientin, der/die unter einem ausgeprägten Waschzwang leidet, wird aufgefordert mit seiner/ihrer Hand den Straßenboden zu berühren und darf sich danach nicht waschen. Der Patient/Die Patientin soll lernen, die damit einhergehenden negativen Emotionen, Kognitionen sowie die erhöhte physiologische Erregung auszuhalten. Die Übung darf nicht abgebrochen werden, bevor der Patient/die Patientin einen Angstabfall erlebt.
- Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) bei Zwangsgedanken: Dabei wird der schlimmste Zwangsgedanke (z.B. „ich töte mein Kind“) möglichst genau beschrieben: Das gefürchtete Ereignis soll in der Gegenwart, mit klaren Worten, in der Ich-Form und sehr detailreich - wie in einem Drehbuch - ausformuliert werden. Der Patient/Die Patientin verfasst einen ersten Entwurf zu Hause, welcher im Rahmen der Therapiestunde mit dem Therapeuten vervollständigt wird. Der Patient/Die Patientin wird aufgefordert, die angstbesetzte Geschichte - in Anwesenheit des Therapeuten - laut vorzulesen. Durch wiederholtes Vorlesen oder Anhören auch zu Hause, verliert die Geschichte ihre Bedrohlichkeit.
- Prolongierte Exposition (bei Zwangshandlungen und/oder Zwangsgedanken): Zwangsinhalte entstehen nicht zufällig, sondern lassen sich auf belastende lebensgeschichtliche Ereignisse zurückführen. Diese Zusammenhänge sind dem Patienten/der Patientin oft nicht bewusst. Während der Exposition werden die auftretenden negativen emotionalen Zustände vom Therapeuten genauer hinterfragt, z.B.: „Woher kennen Sie diese Gefühle“, „haben Sie ähnliche Emotionen früher schon einmal erlebt?“, um so diese lebensgeschichtlichen Ereignisse der Erinnerung des Patienten/der Patientin zugänglich zu machen (Affektbrücke).
Funktionalität des Zwanges
Für eine erfolgreiche Behandlung ist die Frage nach der Funktionalität des Zwanges zentral. Das heißt es gilt zu klären, wofür der Zwang der Patientin „dienlich“ ist. Beispiele für mögliche Funktionen: Abgrenzung, Autonomie, der Zwang zur Bewältigung von Schuldgefühlen, Aggressionen, sozialer Ängste, einem mangelnden Selbstwert oder einer Depression; der Zwang als Schutz vor Verantwortung, zur Erlangung von Zuwendung oder Aufmerksamkeit etc.
Wie können Sie als Betroffene zur Genesung beitragen?
- Vertrauen Sie sich jemandem an.
- Lassen Sie Ihre Zwänge nicht Ihr Leben bestimmen - gehen Sie dagegen vor!
- Stärken Sie Ihre Ressourcen: Menschen brauchen einen sicheren Rückhalt. Stabile Beziehungen zu Freunden, Bekannten und Verwandten sind ein wichtiger Sicherheitsfaktor.
- Welche Zwänge haben Sie?
- Überprüfen und verändern Sie Ihre Einstellungen und Bewertungen und relativieren Sie Ihre Gedanken.
Menschen mit Zwangsstörungen haben häufig das Bedürfnis, das Schicksal vollkommen kontrollieren zu müssen und sehnen sich nach 100%iger Sicherheit. Sie benötigen die Stützung Ihres Selbst und der Spontanität, nicht nur das Anstreben von Entweder-Oder-Lösungen.
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