Psychiater und Psychotherapeut in Neumünster: Zwischen Stigmatisierung und gesellschaftlicher Anerkennung

Die psychiatrische Tätigkeit ist eingebettet in die Öffentlichkeit, in der Meinungsbildungsprozesse stattfinden, die von historischen Fakten, persönlichen Erfahrungen und Medienberichten geprägt werden.

Im Folgenden wird versucht darzustellen, dass ein Psychiater, der sich selbstbewusst mit hoher fachlicher und sozialer Kompetenz zu seiner gesellschaftspolitisch so wichtigen Profession bekennt, kaum einer Stigmatisierung gegenübersteht.

Der Beruf des Psychiaters hat den Menschen in seiner Gesamtheit zum Ziel: Mit den uns heute zur Verfügung stehenden verfeinerten diagnostischen und differenzialdiagnostischen Möglichkeiten sowie den therapeutischen und rehabilitativen Interventionen zählt unser Fach zu den erfolgreichsten der Medizin. Die Psychiatrie beschäftigt den ganzen Menschen, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt.

Die Stigmatisierung psychiatrischer Erkrankungen

Bedingt durch das negative Numinosum, das seelische Erkrankungen beim Gesunden erzeugt, und die von der Gesellschaft befürchtete Unberechenbarkeit des psychisch Kranken, fließen in allen Kulturen und zu allen Zeiten irrationale Momente in die Beurteilung der erkrankten Menschen - und damit verbunden - auch der Psychiatrie und des Psychiaters ein.

Die Geisteskrankheiten waren aber in Zeiten fehlender therapeutischer Möglichkeiten in der Tat ein ungeheures und unbezwingbares Unglück. Sowohl die medizinischen Einrichtungen als auch die Angehörigen waren rasch überfordert.

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Die Stigmatisierung der Patienten sowie vieler psychiatrischer Einrichtungen ist primär Folge intrapsychischer Abwehrprozesse: Die eigene seelische Integrität und Normalität besitzt für jeden Menschen einen sehr hohen Stellenwert. Das „ICH bin NICHT verrückt“ dient - wie H. Meller zurecht schreibt - sowohl als Konstituente eines stabilen Ich und Selbst als auch zur Differenzierung und als Unterscheidungskriterium zu den betroffenen Menschen: Man will keinesfalls Subjekt einschlägiger Witze sein, welche z. B. Psychiater und Patienten auf eine Ebene der Verrücktheit stellen oder Gegenstand von Redewendungen wie „Wer Psychologe wird, braucht selber einen“.

Die Ursachen dafür sind mannigfaltig und liegen einerseits in der lange Zeit vernachlässigten Öffentlichkeitsarbeit unserer Berufsgruppe und andererseits in der Sensationsgier weiter Teile der Bevölkerung sowie in der einseitigen Informationspolitik der Massenmedien, die eher an den ins Groteske übersteigerten Zerrbildern interessiert sind, als den normalen und normalisierten Alltag in ambulanten und stationären psychiatrischen Einrichtungen darzustellen.

Die ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiter der psychiatrischen Dienste werden allzu häufig noch klischeehaft beschrieben. In der Öffentlichkeit beruht die Trennung zwischen „verrückt“ oder „normal“ auf einem gesellschaftlichen Urteil, worüber primär nicht die Psychiater, sondern in der Tat die Medien entscheiden: Diese wiederum berufen sich auf das „gesunde Volksempfinden“.

Auch wirkt sich der metaphorische Gebrauch vieler psychiatrischer Krankheitsbezeichnungen besonders auf die Betroffenen sehr negativ aus, darunter leidet wieder der Berufsstand der Psychiater. Dies betrifft aber auch andere medizinische Diszi­plinen.

Das Stigma psychiatrischer Erkrankungen spiegelt den durch die Jahrhunderte bestehenden Mangel an therapeutischen Interventionsmöglichkeiten wider: „Die Vorurteile von heute waren die Lehrmeinungen von gestern oder vorgestern“ (H. Katschnig).

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Stereotypen und Vorurteile

Mal ehrlich: Sagen Sie immer offen, dass Sie in einer psychiatrischen Einrichtung arbeiten? Um diese berechtigte Frage kreiste jüngst ein Seminar der österreichischen pro mente Akademie. Müde und entnervt von stereotypen Statements nach der Vorstellung im Rahmen von Empfängen, die sehr häufig in Aussagen wie „Ich hoffe, niemals beruflich in Kontakt mit Ihnen zu treten!“ mündeten, modifizierte eine prominente deutsche Psychiaterin ihre Berufsbezeichnung in „Neurowissenschaftlerin“ und stand sofort im Mittelpunkt eines großen interessierten Kreises!

Auch wenn diese Antwort kurzfristig das gesellschaftliche Klima positiv veränderte, trägt sie nicht dazu bei, das Image der Psychiatrie in der Öffentlichkeit zu verbessern. Ähnliche gesellschaftliche Stereotypien begegnen aber auch Angehörigen anderer medizinischer Disziplinen wie Dermatologen und Venerologen, Zahnärzten und Onkologen.

Ist es auch legitim, neben der Fachbezeichnung „Psychiater“ auch den jeweiligen Interessenschwerpunkt „Psychotherapeut“, „Psychoanalytiker“ oder „Neurowissenschaftler“ bzw.

Die Rolle der Psychiatrie innerhalb der Medizin

Sich ganz auf alle menschlichen Bedürfnisse einzulassen, ist nur wenigen Ärzten möglich. Die Mehrheit der Mediziner versucht, Problembereiche zu minimieren und sich in Gesundheit und Krankheit nur einem umschriebenen Bereich zu widmen.

An unserer Klinik versuchte Ullrich Meise schon 1991, das Image der Psychiatrie im Rahmen der medizinischen Versorgungseinrichtungen zu objektivieren. Eine Inhaltsanalyse freier Interviews mit Ärzten verschiedener Universitätskliniken ergab, dass die große Mehrzahl der Befragten die Psychiatrie als einen wichtigen Fachbereich der Medizin bezeichnete.

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80 % der Befragten zeichneten ein positives Bild der Psychiater, diese werden als sehr kooperativ und kommunikationsfähig beschrieben: Innerhalb der Medizin sei der Psychiater derjenige Arzt, der sich den Patienten besonders geduldig zuwende und sich genügend Zeit dafür nehme. 70 % der Befragten attestierten den Psychiatern eine besondere Nähe zu ihren Kranken, ihr Patientenbezug sei intensiver als jener anderer medizinischer Fachrichtungen.

War das Sample auch klein, überraschte doch die Tatsache, dass bei den Neurologen und den Internisten knapp die Hälfte die Meinung vertrat, dass der Psychiatrie auch innerhalb der Medizin Vorurteile entgegengebracht würden und dadurch dieses Fach im Kontext der medizinischen Disziplinen vernachlässigt würde.

Die Psychiatrie werde als Disziplin von Menschen gewählt, die besondere Anlagen und Befähigungen hätten. Auffällig waren in diesem Zusammenhang stereotype Einstellungen: Psychiater würde eine geheimnisvolle Aura umgeben, sie seien andersartig, der Beruf müsse irgendwie auf die hier Tätigen abfärben, das Fach Psychiatrie sei besonders anstrengend und würde wenig Erfolgserlebnisse bieten. Negativ vermerkt wurde häufig die Uneinigkeit der Psychiater untereinander sowohl in Hinblick auf Theorienbildung als auch im therapeutischen Handeln.

Nach 20 Jahren ist eine neuerliche Erhebung zur Einstellung von Ärzten den Psychiatern gegenüber dringend angezeigt. In Österreich ausgebildete Psychiater genießen international einen hervorragenden Ruf, sie verfügen am Ende ihrer Spezialisierung in der Tat über zwei Diplome, das des Psychiaters und jenes des Psychotherapeuten. Das Curriculum umfasst sowohl psychopharmakologische, psychotherapeutische und sozialpsychiatrische Module, der 6 Jahre währende Patientenbezug schärft die diagnostische Sicherheit und die empathische Zuwendung zum Patienten. Ein engagierter Psychiater genießt die Achtung und das Vertrauen seiner Mitbürger.

Strukturelle Diskriminierung und finanzielle Aspekte

Tatsache ist eine strukturelle Diskriminierung der Psychiatrie im Gesundheitswesen: Als Folge der Stigmatisierung unserer Patienten stehen der Psychiatrie und den Psychiatern weniger finanzielle Ressourcen und geringere Forschungsmittel zur Verfügung als für die organisch orientierte Medizin (Link, Phelan 2001).

Zur Diskriminierung können noch weitere Beispiele angeführt werden: Die in der jüngsten „Schweizerischen Ärztezeitung“ publizierten Zahlen zu den Einkommen der selbständig tätigen Ärzte zeigen, dass Psychiater sowie Kinder- und Jugendpsychiater über die niedrigsten Einkommen verfügen: Ein Kinder- und Jugendpsychiater verdient die Hälfte eines Allgemeinmediziners und weniger als ein Drittel eines Kardiologen (C. Schoch). Auch die für das erste Halbjahr 2011 in Deutschland publizierten Einnahmen der Ärzteschaft verweisen Psychiater und Psychotherapeuten an die letzte Stelle (A. Kunze).

Dr. Utopische Einsparungspotenziale werden von Managern und Politikern in der Tat gerade in der Psychiatrie obsessiv verfolgt. Die massiven Einsparungen notwendiger Gesundheitsleistungen stellen eine echte Gefahr und auch eine Bedrohung besonders für psychisch Kranke dar.

Veranstaltung in Neumünster

An zwei Tagen strömten Interessierte, Betroffene und viel Fachpublikum in die Holstenhallen zu Neumünster und erlebten ein prallgefülltes Programm. Nach der Begrüßung der Gastgeber und Dr. Ulrich Hase, dem Landesbeauftragten Schleswig-Holsteins für Menschen mit Behinderung, referierte Dr. Fritz-Georg Lehnhardt, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie aus Köln, über das Thema „Frauen sind anders - der weibliche Phänotyp im Autismus-Spektrum“.

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