Atypischer Autismus: Definition, Symptome und Diagnose

Autismus ist ein Sammelbegriff für verschiedene tiefgreifende Entwicklungsstörungen - die genaue Bezeichnung lautet Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Darunter fallen verschiedene Formen von Autismus und verwandte Störungen. Dazu zählen der Frühkindliche Autismus, das Asperger-Syndrom, der atypische Autismus und weitere Entwicklungsstörungen, bei denen autistische Züge erkennbar sind.

Autismus gehört laut aktuellen Studien zu den sogenannten Störungen des Autismus-Spektrums. Dabei treten vor allem Probleme in der Kommunikation und im sozialen Miteinander auf. Der Beginn ist in der frühen Kindheit. Jedoch ist es möglich, dass sich stärkere Symptome auch manchmal erst im späteren Kindesalter oder im Erwachsenenalter bemerkbar machen. Die Beeinträchtigungen können sich im Lauf des Lebens verändern.

Die Häufigkeit für Autismus-Spektrum-Störungen (gesamt) liegt laut Studien bei 0,6 - 1 %.

Was ist Atypischer Autismus?

Der Atypische Autismus (psychogener Autismus) wird auch frühkindlicher Autismus mit atypischem Erkrankungsalter oder atypischer Symptomatik genannt. Er unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch, dass betroffene Kinder erst nach dem dritten Lebensjahr die autistische Störung entwickeln oder nicht alle Symptome aufweisen.

ICD-Codes

ICD-Codes sind international gültige Verschlüsselungen für medizinische Diagnosen. Sie finden sich z.B. in Arztbriefen oder auf Arbeitsunfähigkeits­bescheinigungen.

Lesen Sie auch: Schulische Integration bei atypischem Autismus

  • F84: Frühkindlicher Autismus
  • F98: Asperger-Syndrom, Atypischer Autismus, Entwicklungsstörungen mit autistischen Zügen

Diagnostische Kriterien nach ICD-10

In der ICD-10 wurden „tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ beim Vorhandensein einer qualitativen Beeinträchtigung in den wechselseitigen sozialen Interaktionen, den wechselseitigen Kommunikationsmustern sowie beim Vorliegen eines eingeschränkten, stereotypen und sich wiederholenden Repertoires von Interessen und Aktivitäten diagnostiziert.

Auffälligkeiten treten im Kleinkindalter und jedenfalls vor dem dritten Lebensjahr auf. Diverse Subformen konnten dabei bislang unterschieden werden, wie etwa der frühkindliche Autismus mit allen oben genannten Symptomen oder das Asperger-Syndrom mit im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus fehlender allgemeiner Entwicklungsverzögerung (beziehungsweise fehlendem Entwicklungsrückstand der Sprache und der kognitiven Entwicklung).

Die Diagnose des atypischen Autismus erfordert spezifische Kriterien:

  1. A. Es müssen insgesamt mindestens sechs Symptome von 1., 2. und 3. vorliegen, davon mindestens zwei von 1. und mindestens je eins von 2. und 3.
    1. Beeinträchtigung der sozialen Interaktion
    2. Beeinträchtigung der Kommunikation
    3. Eingeschränktes, sich wiederholendes und stereotypes Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten
  2. B. Die Diagnose verlangt, dass einzelne Worte bereits im zweiten Lebensjahr oder früher und kommunikative Phrasen im dritten Lebensjahr oder früher benutzt werden. Selbsthilfefertigkeiten, adaptives Verhalten und die Neugier an der Umgebung sollten während der ersten drei Lebensjahre einer normalen intellektuellen Entwicklung entsprechen. Allerdings können Meilensteine der motorischen Entwicklung etwas verspätet auftreten und eine motorische Ungeschicklichkeit ist ein häufiges (aber kein notwendiges) diagnostisches Merkmal.
  3. C. Es fehlt eine klinisch eindeutige allgemeine Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder kognitiven Entwicklung.
  4. D. Kriterien für Frühkindlichen Autismus sind nicht erfüllt.

Diagnostische Kriterien nach ICD-11

In der neuen ICD-11 werden nun alle diese Diagnosen unter dem Titel Autismus-Spektrum-Störungen zusammengefasst. Für eine Diagnose sind dabei Einschränkungen in den beiden zentralen Bereichen ausschlaggebend: soziale Interaktion und Kommunikation sowie restriktive, repetitive und unflexible Verhaltensmuster und Interessen.

Anstelle der spezifischen Subvarianten in der ICD-10 werden Autismus-Spektrum-Störungen in der ICD-11 nach dem zusätzlichen Vorliegen oder Fehlen einer Störung der Intelligenzentwicklung und nach der Schwere der Beeinträchtigung der funktionellen Sprache unterschieden.

Lesen Sie auch: Umgang mit Ruhestörung bei Autismus

Aus einer Entwicklungsperspektive, die auch die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter einschließt, ist die nun neue Möglichkeit einer Diagnose nach dem dritten Lebensjahr besonders wichtig.

Symptome des Atypischen Autismus

Die meisten autistischen Menschen zeigen folgende drei Hauptmerkmale:

  • Gestörte soziale Fähigkeiten
  • Beeinträchtigung der Kommunikation und Sprache
  • Wiederholte, stereotype Verhaltensweisen und Interessen

Art und Schweregrad der Symptome sind individuell und je nach Autismus-Form sehr unterschiedlich. So sind etwa beim Asperger-Syndrom die Symptome im Allgemeinen schwächer ausgeprägt als beim Frühkindlichen Autismus. Bei letzterer Form gibt es unter den Betroffenen ebenfalls große Unterschiede - die Palette reicht von nur leichter Beeinträchtigung bis hin zu schwer ausgeprägten Störungen.

Autismus-Symptome: Soziale Interaktion

Vielen Autisten fällt es schwer, Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufzubauen. Das fällt oft schon im Säuglingsalter auf. So können viele autistische Kinder keine enge Bindung zu den Eltern aufbauen und nicht auf Reize aus der Umgebung reagieren.

Beispielsweise suchen Babys normalerweise den Blick der Mutter und körperlichen Kontakt, um Nähe aufzubauen. Autistische Babys hingegen weichen meist einem Blickkontakt aktiv aus. Viele ahmen auch das Lächeln ihres Gegenübers nicht nach. Das lässt sie oft teilnahmslos oder starr erscheinen.

Lesen Sie auch: Autismus: Schwangerschaftsfaktoren

Auch im späteren Kindesalter sowie im Jugend- und Erwachsenenalter haben Autisten oftmals Probleme, Blickkontakt aufzubauen und zu halten.

Bei einer ausgeprägten autistischen Störung können Betroffene zudem kaum freundschaftliche Beziehungen eingehen. So spielen betroffene Kinder am liebsten allein. Ihre Mitmenschen nehmen sie oft nur wahr, wenn diese ihre Bedürfnisse erfüllen sollen (z.B. bei Hunger).

Autismus-Symptome: Kommunikation

Die Sprache von Autisten ist ebenfalls häufig gestört. So können viele Kinder mit frühkindlichem Autismus keine normale Sprache erlernen. Sprechen sie doch, wiederholen sie oft gleiche Sätze. Auch die Sprachmelodie fehlt. Dadurch entsteht manchmal ein roboterhafter Eindruck.

Bei Patienten mit Asperger-Syndrom hingegen ist die Sprache oft sehr hoch entwickelt. Sie wirkt aber manchmal seltsam monoton und gestelzt.

Auch für die Sprache haben Experten wichtige allgemeine Autismus-Symptome definiert:

  • Die Sprachentwicklung hinkt hinterher. Die Kinder versuchen nicht, sich durch ihre Gestik oder Körpersprache auszudrücken.
  • Die Kinder haben Probleme, eine Unterhaltung zu beginnen oder aufrechtzuerhalten.
  • Der Umfang der Sprache ist sehr begrenzt und einseitig. Oft werden Sätze oder Fragen nachgesprochen.

Autismus-Symptome: Interessen und Verhaltensmuster

Das dritte große Hauptsymptom bei Autismus ist das oft stereotype Verhalten. So führen viele Betroffene beharrlich bestimmte Handlungen, Rituale und Gewohnheiten aus. Werden sie dabei unterbrochen oder daran gehindert, reagieren Sie teilweise mit Schreianfällen und Panikattacken.

Oft können sich Autisten auch nicht von ihren Lieblingsdingen trennen und nehmen sie überall hin mit.

Außerdem konzentriert sich bei vielen Autisten scheinbar das ganze Interesse auf bestimmte spezielle Details oder Dinge, die sie voll und ganz in Beschlag nehmen.

Zusammengefasst sind bei diesem Symptomkomplex folgende Auffälligkeiten charakteristisch für Autisten:

  • Die Betroffenen befassen sich vornehmlich mit einem ungewöhnlichen Detail oder haben ein ungewöhnliches Interesse.
  • Bestimmte Handlungen oder Rituale können sie nicht aufgeben.
  • Die Handlungen sind oft stereotyp und monoton.
  • An einem Spielzeug suchen sie ein ganz bestimmtes Detail aus, mit dem sie sich beschäftigen. Selten binden sie den kompletten Gegenstand ins Spiel ein.
  • Die Spiele betroffener Kinder sind eher fantasielos und stereotyp. Auch nachahmendes Spielverhalten bleibt aus.

Diagnose von Autismus

Die Diagnose von Autismus erfolgt meist multidisziplinär durch Ärzte und weitere Gesundheitsberufe. Zum Beispiel aus dem Bereich der Klinischen Psychologie oder Logopädie.

Bei einer Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) ist unter anderem wesentlich, seit wann Symptome bestehen und ob sonstige Krankheiten bzw. Entwicklungsverzögerungen aufgetreten sind. Zudem findet eine körperliche Untersuchung statt.

Ebenso erfolgen eine neurologische Untersuchung, die Abklärung des Entwicklungsstandes und der Kompetenzen in Bezug auf Sprache bzw. Auch standardisierte Testverfahren finden Anwendung. Zum Beispiel das Diagnostische Interview für Autismus oder die Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen.

Der Arzt schlägt meist auch ein EEG sowie eine Prüfung von Hören und Sehen vor. Der Arzt schließt zudem mögliche andere Erkrankungen aus.

Eine Diagnose von frühkindlichem Autismus ist zumeist bereits im Alter von zwei Jahren möglich.

Therapie und Behandlung

Die Behandlung wird auf die persönlichen Bedürfnisse abgestimmt. Bei Therapieprogrammen speziell für Kinder mit Autismus werden möglichst früh gezielt Maßnahmen gesetzt. Die Fachwelt nennt diese auch programmbasierte Interventionsprogramme.

Zur Behandlung bzw. Logopädie sowie ggf. Psychotherapie: vor allem Verhaltenstherapie. Zudem sind soziale Unterstützungsmöglichkeiten im Alltag eine wesentliche Säule für Kinder und Jugendliche bzw. Erwachsene mit Autismus. Dazu zählen unter anderem Assistenz in der Schule oder Hilfe durch psychosoziale Dienste.

Der Arzt kann auch Medikamente verschreiben. Diese wirken jedoch nicht direkt gegen Autismus. Bei Unruhe, Reizbarkeit oder Aggressivität kommt vor allem der Wirkstoff Risperidon zum Einsatz. Liegen Symptome vor, die einem ADHS ähnlich sind, können sogenannte Stimulantien hilfreich sein. Bei Schlafproblemen kommt etwa das Hormon Melatonin zum Einsatz.

Die Zusammenarbeit mit den wichtigsten Bezugspersonen ist für den Behandlungserfolg wesentlich. Zum Beispiel, um erlernte Fähigkeiten im sozialen Umfeld einzusetzen. Familien bzw. Bezugspersonen können auch selbst Unterstützung in Anspruch nehmen, z.B.

TEACCH

TEACCH (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children) ist ein auf autistische Menschen spezialisiertes Programm. Es ist für Kinder ebenso geeignet wie für Erwachsene.

Wichtigstes Ziel des Programms ist es, die Selbstständigkeit und Lebensqualität autistischer Menschen zu verbessern. Dazu wird für jeden Klienten ein individuelles Konzept entwickelt, das seine besonderen Stärken und Interessen berücksichtigt.

Klare Strukturen sind für Menschen mit Autismus besonders wichtig. Sie verleihen ihnen Sicherheit und ermöglichen es ihnen, sich besser auf neue Situationen einstellen. Das gilt für den Alltag ebenso wie für das Lernen. TEACCH setzt dabei auf zwei zentrale Prinzipien:

  • Strukturiertes Unterrichten: Hier geht es um die Einteilung des Lehrmaterials und des Lernumfelds in räumliche und zeitliche Strukturen. Das gibt den Betroffenen Sicherheit, erleichtert ihnen die Orientierung und hilft ihnen beim Lernen.
  • Visualisierung: Viele autistische Menschen haben Schwierigkeiten, gehörte Informationen zu verarbeiten. Sie besitzen aber oft herausragende Aufnahmefähigkeiten über das Sehen. Diese werden genutzt, um Lerninhalte entsprechend aufzubereiten und leichter zugänglich zu machen.

Applied Behaviour Analysis (ABA)

Eine weitere Therapieoption ist die Applied Behaviour Analysis (ABA), zu Deutsch „Angewandte Verhaltensanalyse“, und das ergänzende Verbal Behaviour (VB). Damit lassen sich soziale und kommunikative Fähigkeiten trainieren.

Dazu stellt der Therapeut zunächst fest, welche Fähigkeiten ein autistisches Kind schon besitzt und welche es noch erlernen sollte. Dann werden komplexe Verhaltensweisen in kleinste Teilschritte zerlegt, die das Kind dann Schritt für Schritt erlernen kann. Erwünschtes Verhalten wird dabei belohnt und so verstärkt.

Unangemessenes Verhalten wie Schreien, Wutanfälle oder Weglaufen werden konsequent ignoriert. Im Prinzip basiert die ABA damit auf der klassischen Konditionierungstherapie.

Hilfe für die Familie

Eltern autistischer Kinder sind im Alltag einer viel größeren Belastung ausgesetzt als Eltern normaler Kinder. Daher gibt es eine Reihe von Programmen, die ihnen helfen sollen, Stress abzubauen und den richtigen Umgang mit ihren autistischen Kindern zu erlernen.

Verlauf und Prognose

Wie sich eine autistische Störung im Einzelfall entwickelt, lässt sich nicht vorhersagen. Der Verlauf hängt unter anderem von der Form des Autismus sowie eventuellen Begleiterkrankungen (wie Depressionen) ab.

Beispielsweise bleiben beim Frühkindlichen Autismus die typischen Symptome ein Leben lang bestehen, also etwa die Probleme bei der sozialen Interaktion und beim Aufbau von Beziehungen sowie die Sprachbeeinträchtigungen. In der Kindheit sind die Symptome meist am stärksten ausgeprägt. Bei manchen Betroffenen verbessert sich das Verhalten dann im Jugend- und frühen Erwachsenenalter. Es gibt aber auch Menschen, bei denen die autistische Störung bis ins Erwachsenenalter unverändert bleibt oder bei denen nach anfänglicher Verbesserung die Symptome wieder zunehmen.

Der Großteil der Autisten weist eine geistige Behinderung auf, die die Intelligenz einschränkt. Manche leiden zudem unter Schlafstörungen, Ängsten oder teilweise aggressivem Verhalten.

Rund 75 Prozent der Autisten sind ein Leben lang auf Hilfe angewiesen. Die meisten autistischen Jugendlichen wachsen heute in ihren Familien auf. Sie erhalten Fördermaßnahmen und werden intensiv betreut.

Es gibt aber auch Menschen mit leichterem Autismus, die gut alleine zurechtkommen. Sie sind in der Lage, sich ein gewisses Maß an sozialer Kompetenz anzutrainieren. Einige Autisten üben zudem anspruchsvolle Berufe aus. Besonders Inselbegabungen (wie eine große Rechenbegabung) können oft effektiv im Beruf genutzt werden.

tags: #atypischer #autismus #definition