Essstörungen sind relativ seltene, aber häufiger werdende, zumeist schwere psychiatrische Erkrankungen, die einen hohen Leidensdruck bei den Betroffenen und ihren Familien erzeugen.
Die Betroffenen sind in der Regel Mädchen und junge Frauen, aber auch Knaben kommen vermehrt zu klinischer Beachtung.
Essstörungen sind definitionsgemäß keine Ernährungsstörungen, sondern schwere psychiatrische Erkrankungen, die häufig mit somatischen Komplikationen einhergehen.
Gesellschaftliche Bedingungen und aus der persönlichen Entwicklungsgeschichte nachvollziehbare Faktoren können bei Menschen in verschiedenen Lebensphasen eine Essstörung auslösen.
Diese psychische Erkrankung wird äußerlich häufig auf ein stark verändertes Essverhalten reduziert.
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Wissenschaftlich gesehen wird es auch als Versuch einer Konfliktlösung oder als Ausdruck einer Beziehungsstörung verstanden.
Die Erkrankten haben oft kein Krankheitsbewusstsein oder eine ausgeprägte Scham, sich als erkrankt zu zeigen und sind anfänglich einer Behandlung schwer zugänglich.
Klassifikation von Essstörungen
Ihre Klassifikation befindet sich mit Erscheinen des amerikanischen Diagnosesystems DSM in der 5. Auflage (APA, 2013) im Umbruch, da es innerhalb von zwei Jahren auch zu einer Veränderung der in Österreich gültigen WHO-Klassifikation ICD in der 11. Auflage kommen wird.
Wurden bisher Fütterstörungen der Kindheit und Essstörungen in getrennten Kapiteln geführt, führt das DSM-5 diese beiden Bereiche zusammen und benennt ein Kapitel „Fütter- und Essstörungen“.
In der gültigen Klassifikation der WHO (ICD-10) werden im Subkapitel 50.x die Störungen Anorexia nervosa (AN; Code: F50.0), Bulimia nervosa (BN; F50.2), ihre atypischen (weil symptomatisch unvollständigen) Varianten (AN-atypisch; F50.1 und BN-atypisch; F50.3) sowie Essattacken bei anderen psychischen Störungen (z.B. unter Belastungen) (F50.4), Erbrechen bei anderen psychischen Störungen (wie z.B. bei dissoziativen Störungen) (F50.5), sonstige spezifische Essstörungen (z.B. psychogener Appetitverlust) (F50.8) und nicht näher bezeichnete Essstörungen (F50.9) definiert.
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Störungen der Nahrungsaufnahme und Fütterstörungen der Kindheit werden derzeit nicht unter den Essstörungen kodiert, sondern unter F98.2 (Fütterstörung) und F98.3 (Pica).
Die drei klinisch bedeutsamsten und am besten charakterisierten Essstörungen sind Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung.
- Anorexia nervosa („Magersucht“) ist charakterisiert durch Diäthalten bzw. Vermeiden hochkalorischer Speisen, was in letzter Konsequenz zu gefährlichen körperlichen Folgen bis zum Tode führen kann. Die Betroffenen verlieren Gewicht bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen durch Diäthalten und/oder extremes Bewegungsverhalten, Verwenden von Appetitzüglern, Abführmitteln, Erbrechen usw. Typisch ist ein verzerrtes Körperbild: Erkrankte finden sich zu dick, obwohl sie (sehr) schlank oder bereits (stark) untergewichtig sind. Übermäßige Beschäftigung mit Essen und Nahrungsmitteln (bzw. Nahrungsmittelauswahl) ist ebenfalls ein Symptom.
- Bulimie (auch Ess-Brech-Sucht genannt) ist eine psychische Erkrankung. Betroffene haben wiederholt Heißhungerattacken, in denen sie unkontrolliert essen. Danach erbrechen sie, nehmen Abführmittel oder treiben exzessiv Sport, da die große Sorge besteht, durch das viele Essen zuzunehmen. Häufig wechseln sich Phasen der Nahrungsverweigerung mit Phasen des Überessens ab. Erkrankte versuchen ihre Problematik zu verheimlichen und schämen sich oft dafür.
- Der englische Begriff „binge eating disorder“ steht für übermäßiges, exzessives Essen. Binge-Eating-Störung (aus dem Englischen binge = Heißhungeranfall) ist die häufigste Essstörung, die durch Heißhungeranfälle, die nicht mittels gegenregulatorischen Maßnahmen entschärft werden, definiert ist.
Epidemiologie
Bisher fehlen in Österreich für das gesamte Bundesgebiet repräsentative Daten über die Häufigkeit von Essstörungen im Kindes- und Jugendalter und im Erwachsenenalter.
Wir greifen daher auf Erhebungen in europäischen Ländern zurück, da anzunehmen ist, dass die Prävalenzund Inzidenzzahlen gegenüber denen in anderen westlichen Staaten nicht wesentlich differieren.
Zur Häufigkeit der Essstörungen liegen Zahlen über mehrere Jahrzehnte vor.
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Die Ergebnisse sind je nach Herkunftsland (Europa, USA, Asien), Geschlecht, Alter und untersuchter Population (Allgemeinbevölkerung, Primärversorgung, Sekundärversorgung) sehr heterogen.
Essstörungen treten zumeist zuerst im Jugendalter auf.
Nehmen Essstörungen in den letzten Jahrzehnten zu?
Anorexia nervosa hat seit Jahrzehnten stabile Inzidenzraten in der primären Versorgung, die Inzidenz der Bulimia nervosa stieg ab 1980, scheint aber derzeit leicht rückläufig; zur Binge-Eating-Störung, deren Definition erst 1994 erfolgte und zu den anderen spezifischen oder unspezifischen Essstörungen liegen entweder wenige oder noch keine konsistenten Daten vor.
Ein Anstieg in der Primärversorgung ist aber zu verzeichnen, die altersstandardisierte jährliche Inzidenzrate zwischen zehn und 49 Jahren stieg zwischen 2000 und 2009 von 32 auf 37/100.000 Einwohner.
Mädchen und Frauen sind häufiger von Magersucht (2009-Inzidenzrate 14 weibliche vs. 1 männlichen/ 100.000), Bulimia nervosa (Inzidenzrate 20 weibliche vs. 1,5 männliche/100.000) und von „Unspezifischen Essstörungen“ (Inzidenzrate 28 weibliche vs. vier männliche/100.000) betroffen als Knaben oder Männer.
Da keine gesamtösterreichischen epidemiologischen Daten bei Jugendlichen in Österreich vorliegen, wird im Moment eine solche Erhebung im Rahmen des MHAT-Projektes (www.mhat.at) durchgeführt, das die wichtigsten psychischen Störungen im Jugendalter und deren Risikofaktoren untersuchen und diese Lücke schließen soll.
In der Screeningphase, die mit denselben Methoden wie die deutsche KIGGS-Studie vorgegangen ist, wurden 3.615 Jugendliche untersucht.
Ähnlich wie in Deutschland 2006 fanden wir in unserer repräsentativen österreichischen Erhebung etwa 23 Prozent Verdachtsfälle für Essstörungen.
Anders als in der deutschen Studie folgen nun Interviews zur Diagnosestellung der spezifischen Essstörungen.
Die für Erstversorgung und Weichenstellung des Managements der Essstörungen so wichtigen Allgemeinmediziner/ Schulärzte verkennen die Magersucht (AN) bei Jugendlichen in der frühen Adoleszenz häufig als „organische Erkrankung“.
Psychosomatische Probleme und depressive Symptome werden erkannt, die spezifischen Symptome der Magersucht aber kaum (acht Prozent bei typischen Fällen).
Die Kenntnis der Klinik der Magersucht ist immer noch unzureichend.
Bei nicht so offensichtlichen Störungen wie Bulimie oder unspezifischen Essstörungen dürfte die Erkennungsrate noch geringer ausfallen.
Diagnostik
Die Diagnosestellung erfolgt zuerst klinisch aufgrund der systematischen Erhebung der vorliegenden Symptome, wie sie in der internationalen Klassifikation ICD-10 dargelegt sind.
Strukturierte Interviews werden psychodiagnostisch eingesetzt bzw. sind im Forschungskontext unerlässlich.
Ihr Einsatz bedarf guter Schulung und ersetzt niemals die klinische Erfahrung.
So ist ein diagnostischer Fallstrick, Symptome zu übersehen bzw. nicht ausreichend diagnostisch zu würdigen, weil die Betroffenen sie trotz direkter Befragung nicht angeben.
Dabei spielt bei einigen Betroffenen eine mitunter radikale Verleugnung ihrer Symptomatik eine Rolle, während bei anderen die dem Untersucher augenscheinlichen Symptome der Essstörung der eigenen Wahrnehmung nicht zugänglich sind.
So kann zum Beispiel ein 13-jähriges Mädchen mit schwerer Magersucht vom Binge/Purging-Typus (BMI weit unter der 3. Perzentile, Gewichtsverlust auf die Hälfte des Körpergewichtes innerhalb von drei Monaten, massive Heißhungerepisoden mit nachfolgendem Erbrechen, Elektrolytentgleisungen mit EKG-Veränderungen, Osteoporose, hirnorganisches Psychosyndrom, depressives Syndrom und sozialer Rückzug) beim diagnostischen Interview auch bei Konfrontation mit diesem Syndrom lediglich eine leichte Konzentrationsschwäche als störend benennen.
Differenzialdiagnostisch kommen für die Essstörungen alle Krankheiten infrage, die zu Gewichtsverlust (bis zur Kachexie), zu Erbrechen und fehlender Gewichts- und Größenentwicklung führen, allerdings ist die Motivation hinter dem gefundenen Verhalten (Angst zuzunehmen, Angst vor Gewichtszuwachs, extreme Bestimmtheit des Selbstwertes durch Figur und Gewicht) das entscheidende Unterscheidungsmerkmal.
Zudem sind psychische Störungen (insbesondere depressive Störungen bei allen Essstörungen, Zwangs- und Angststörungen bei Magersucht und Bulimie sowie Störungen der Persönlichkeitsentwicklung und Suchterkrankungen beim bulimischen Spektrum) diagnostisch sowohl als Komorbiditäten als auch im differenzialdiagnostischen Prozess genauestens zu erfassen.
Essstörungen sind nahezu immer - sowohl komorbid als auch im Lebenszeitverlauf - mit anderen Störungsbildern bzw. Symptomen anderer Störungen verbunden.
Depressive Episoden (30-80 Prozent Lebenszeitprävalenz), Dysthymia, Zwangsstörungen (8-35 Prozent), Zwangssymptome, Angststörungen (35-70 Prozent), Schlafstörungen (frühmorgendliches Erwachen), Konzentrationsprobleme, selbstverletzendes Verhalten (bei An und BN), soziale Isolation und Libidoverlust treten im Verlauf häufig auf.
Zum Teil sind diese Symptome durch den Hungerzustand, in dem sich die Betroffenen befinden, bedingt bzw. durch ihn verstärkt (siehe besonders: A. Keys’ Hunger-Experiment, 1950).
Bulimia nervosa geht häufiger als AN mit Erkrankungen aus dem Suchtspektrum einher (bis 50 Prozent), auch diverse Persönlichkeitsstörungen kommen bei bis zu 80 Prozent der Betroffenen vor.
Die Binge-Eating- Störung weist als häufigste Komorbiditäten Depressionen (etwa 50 Prozent) und Angststörungen (12-49 Prozent) auf.
Medizinische Komplikationen
Essstörungen können medizinische Komplikationen verursachen, die über zwei Wege zustande kommen: Einerseits kann Unterernährung gepaart mit motorischer Hyperaktivität den Organismus übermäßig belasten, andererseits können Erbrechen und Laxantienabusus zu kardialen und neurologischen Komplikationen führen.
Bei simultanem Auftreten beider Wege (wie z.B. bei der Diagnose F50.01) sind am häufigsten schwerwiegende Komplikationen zu beobachten.
Als gefürchtete Langzeitkomplikation tritt Osteopenie bzw. manifeste Osteoporose auf, die aufgrund der Trias Hypokalzämie plus Östrogenmangel plus Kortisolerhöhung relativ rasch eintreten kann.
Sie kann im Extremfall zu pathologischen Frakturen führen.
Ein Stopp des Längenwachstums ist, wenn die Erkrankung nicht vor Abschluss der Epiphysenfugen geheilt ist, letztlich irreversibel.
Typisch und pathognomonisch für BN sind Narben am Handrücken, das sogenannte Russell’s sign, welches durch Kallusbildung nach regelmäßigem Gebrauch der Finger zum Auslösen des Erbrechens entsteht.
Weiters führen das Erbrechen von Speisebrei zu einer blanden Hypertrophie der Speicheldrüsen sowie Elektrolytentgleisungen (Hypokaliämie mit Herzrhythmusstörungen und Hyper- oder Hyponaträmie mit zerebralen Krampanfällen), Schmelzdefekten der Zähne, Zahnfleischproblemen und Karies, Mundwinkelrhagaden und Ulcera der Mundschleimhaut, angestrengtes Erbrechen kann zu Petechien und Hämatemesis führen.
Im Rahmen von Konzepten, die die Wiederauffütterung von schwer kachektischen AN-Patienten zu einem wichtigen und vorrangigen Ziel haben, ist besonders auf die Prophylaxe des gefürchteten, aber dem Laien oft unbekannten iatrogenen Refeeding-Syndromes zu achten.
Dieses ist durch Symptome der Herzinsuffizienz, neurologische Symptome, periphere Ödeme und Schmerzen des Bewegungsapparates gekennzeichnet.
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