Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen nimmt stetig zu. Laut WHO (2018: 1) sind psychische Erkrankungen eine der größten Herausforderungen im Gesundheitsbereich in Europa. Aktuellen Schätzungen zufolge lebt jeder siebte junge Mensch zwischen zehn und 19 Jahren weltweit mit einer diagnostizierten psychischen Beeinträchtigung oder Störung wie Angststörungen, Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten. Weltweit nehmen sich jedes Jahr rund 46.000 junge Menschen zwischen zehn und 19 Jahren das Leben - ein junger Mensch alle elf Minuten. In Österreich ist die Lage sogar noch dramatischer. Hier zu Lande leiden 18,2 Prozent der 10-19-jährigen unter psychischen Problemen. Das sind knapp 160.000 Jugendliche in Österreich. 24% der Kinder und Jugendlichen in Österreich zeigen im Laufe ihrer jungen Leben zumindest Symptome einer psychischen Erkrankung.
Epidemiologische Studien in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Das Wissen um die Prävalenz und Inzidenz von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter ist besonders wichtig zur Planung von Behandlungseinrichtungen. An dieser Stelle sollen die wichtigsten epidemiologischen Studien der drei Länder Österreich, Deutschland und Schweiz vergleichend dargestellt und ein Bezug zum jeweiligen Versorgungssystem hergestellt werden.
Österreich
In Österreich hat sich die „Mental Health in Austrian Teenagers“-Studie (MHAT) mit der Epidemiologie im Bereich der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beschäftigt. 3477 Jugendliche im Alter zwischen zehn und 18 Jahren nahmen daran teil. Die Punktprävalenz für eine psychische Störung lag in der MHAT-Studie bei 23,9 % und es wurde eine Lebenszeitprävalenz von 35,8 % ermittelt. Am häufigsten traten Angststörungen gefolgt von Störungen der neuronalen oder psychischen Entwicklung (inklusive Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und Ticstörungen) und depressiven Störungen auf. Auch ein Geschlechtsunterschied wurde ersichtlich.
Nur ca. 50 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen mit einer psychischen Störung erhielten auch eine entsprechende Behandlung, was im Umkehrschluss bedeutet, dass knapp 50 % unbehandelt blieben - obwohl sich 18,1 % eine Behandlung wünschten. Bei weiteren 12,7 % wurden zudem nicht die vollständigen Kriterien einer psychischen Störung erfüllt, aber es bestanden deutliche Symptome. Kaum jemand aus dieser Subgruppe gab an irgendeine Form von Unterstützung zu bekommen.
Die durchschnittliche Lebenszufriedenheit der österreichischen Schüler:innen vor der COVID-19-Pandemie betrug 7,8 auf einer Skala von 0 bis 10. Der Mittelwert für das emotionale Wohlbefinden lag in der HBSC-Studie 2018 bei 49,5 für Mädchen und 58,0 für Burschen.
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Deutschland
Auch in Deutschland werden im Rahmen der HBSC-Studie Prävalenzen zum subjektiven Gesundheitszustand, zur Lebenszufriedenheit und zu psychosomatischen Beschwerden von 11-, 13- und 15-jährigen Kindern und Jugendlichen erfasst. Im Jahr 2017/18 schätzten die meisten der N = 4347 deutschen Kinder und Jugendlichen ihre Gesundheit und Lebenszufriedenheit positiv ein. Nichtsdestotrotz litt etwa ein Drittel der Mädchen und ein Fünftel der Jungen unter mehreren (multiplen) psychosomatischen Beschwerden. Die Beeinträchtigungen im subjektiven Wohlbefinden zeigten sich vor allem bei Mädchen, älteren Jugendlichen, Jugendlichen mit geringerem familiären Wohlstand sowie bei hoher schulischer Belastung.
Neben der HBSC-Studie gibt es in Deutschland die BELLA-Studie („BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten“), die Teil der KiGGS-Studie („Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“) ist, und insbesondere psychische Gesundheit und Wohlbefinden erfasst. An der Basiserhebung nahmen 2863 Familien mit Kindern und Jugendlichen im Alter von sieben bis 17 Jahren teil. 14,5 % der untersuchten Teilnehmer:innen wiesen nach dem „Strenghts and Difficulties Questionnaire“ (SDQ) mindestens eine psychische Störung auf. Auch hier berichteten weniger als die Hälfte der Kinder eine entsprechende Behandlung zu bekommen.
Im Jahr 2020 wurden Ergebnisse eines elfjährigen Beobachtungzeitraums publiziert. 3492 Personen im Alter von sieben bis 31 Jahren nahmen daran teil. Das Wohlbefinden wurde von jüngeren und männlichen Teilnehmern besser eingeschätzt als von älteren und weiblichen. Psychische Probleme in jungen Jahren sagten auch Beeinträchtigungen nach elf Jahren voraus.
Schweiz
Die HBSC-Studie in der Schweiz kam zum Ergebnis, dass der Großteil der befragten Schüler:innen über eine hohe Lebenszufriedenheit verfügt. Jungen schätzten ihre Lebensqualität tendenziell etwas höher ein als Mädchen. In der Schweiz gibt es einzelne nicht-repräsentative Studien zu Prävalenzen psychischer Erkrankungen vor allem bei spezifischen Personengruppen, z. B. bei delinquenten Jugendlichen. Es gibt keine aktuellen national repräsentativen Zahlen zur Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen.
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Mit der COVID-19-Pandemie hat sich die Situation der Kinder und Jugendlichen noch verschärft. Schmidt et al. [20] führten im Frühling 2020 eine repräsentative Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (0-19 Jahre) aus Österreich, Deutschland, Liechtenstein und der Schweiz durch. Zwischen 2,2 % und 9,9 % der Kinder und Jugendlichen wiesen emotionale Probleme und Verhaltensprobleme auf. 15,3 bis 43 % berichteten, dass diese Probleme während der Pandemie angestiegen sind.
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In der „Tiroler COVID-19-Kinderstudie“ gaben die Eltern im Dezember 2021 sowohl für die Kindergarten- als auch die Grundschulkinder mehr internalisierende Probleme und posttraumatische Stresssymptome an als die Eltern zu Beginn der Pandemie im März 2020. Subjektives Bedrohungserleben und ökonomische Schwierigkeiten waren die besten Prädiktoren für eine verschlechterte psychische Gesundheit der Kinder.
Im September bis November 2021 wiesen 62 % der österreichischen Mädchen und 38 % der österreichischen Jungen klinisch relevante depressive Symptome auf. 49 % der Mädchen und 29 % der Jungen hatten klinisch relevante Ängste und 28 % der Mädchen und 17 % der Jungen waren von Schlaflosigkeit betroffen. Die Prävalenz von Suizidgedanken innerhalb der letzten zwei Wochen betrug 47 % bei den Mädchen und 32 % bei den Jungen
In Deutschland haben Ravens-Sieberer und Kolleg:innen in der Coronazeit die längsschnittliche, repräsentative COPSY-Studie („COrona und PSYche“) durchgeführt und die Daten aus der Coronazeit mit den Prä-Corona-Daten der BELLA-Studie verglichen. Vor der COVID-19-Pandemie wiesen 15 % der deutschen Kinder und Jugendlichen eine niedrige gesundheitsbezogene Lebensqualität auf. Dieser Prozentsatz stieg in der Pandemie stark an (Mai/Juni 2020: 40 %; Dezember 2020/Januar 2021: 48 %; September/Oktober 2021: 35 %). Auch die Gesamtprävalenz psychischer Gesundheitsprobleme stieg von 18 % vor der Pandemie auf 29 % zu Erhebungszeitpunkt 1, 31 % zu Erhebungszeitpunkt 2 und 28 % zu Erhebungszeitpunkt 3. Angstzustände und depressive Symptome nahmen zu.
Versorgungssituation in Österreich
Eine Einschätzung der Versorgungssituation für Österreich gelingt mit aktuell zur Verfügung stehenden Daten deutlich besser als noch vor einigen Jahren. Die stationäre und ambulante medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen wird im „Österreichischen Strukturplan Gesundheit“ (ÖSG) in der Letztfassung von 2017 geregelt. Als Bettenmessziffer (BMZ) wird die Zahl von Behandlungsplätzen pro 1000 Einwohner:innen definiert, die zu einer ausreichenden Versorgung notwendig ist.
Im Fall der KJP wurden im ÖSG folgende Richtwerte definiert: BMZ von 0,11 (geltend für alle intramuralen Angebote, also vollstationäre sowie tagesstationäre Plätze), Erreichbarkeit innerhalb von 60 min sowie eine minimale Bettenzahl von 30. Im ÖSG ist die real erreichte BMZ für 2018 mit 0,05 angegeben. Damit standen in Österreich 2018 weniger als die Hälfte der für eine ausreichende Versorgung notwendigen voll- bzw. teilstationären Plätze zur Verfügung.
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Der stationäre Bereich wird durch ambulante Angebote ergänzt. Diese können einerseits in Form von Ambulanzen bzw. Ambulatorien, andererseits durch niedergelassene Fachärzt:innen erfolgen. Fliedl et al. [8] geben als zu erreichende Versorgungsdichte ein Ambulatorium pro 250.000 Einwohner:innen an, d. h. einen Gesamtbedarf von 36 Ambulatorien für Österreich. Derzeit liegt die Gesamtzahl der verfügbaren Ambulanzen bzw. Ambulatorien in Österreich bei 22. Als dritte Säule der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung gelten niedergelassene Fachärzt:innen, die in Praxen, teils mit Kassenverträgen, teils als Wahlärzt:innen tätig sind. Hier besteht nach Fliedl et al. [8] österreichweit bevölkerungsbezogen ein Bedarf von 111 vollzeitäquivalenten Kassenstellen zur Minimalversorgung. Von diesen waren 2019 32 Stellen besetzt.
Zusammenfassung der Studien und Versorgungslage
| Land | Studie | Prävalenz psychischer Störungen | Versorgungslage |
|---|---|---|---|
| Österreich | MHAT-Studie | Punktprävalenz: 23,9 %, Lebenszeitprävalenz: 35,8 % | BMZ (2018): 0,05 (Bedarf: 0,11), Ambulatorien: 22 (Bedarf: 36), Kassenstellen: 32 (Bedarf: 111) |
| Deutschland | BELLA-Studie | 14,5 % (SDQ) | Weniger als die Hälfte der Kinder erhält Behandlung |
| Schweiz | HBSC-Studie | Keine aktuellen national repräsentativen Zahlen | - |
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