Statistik Depressionen Europa: Eine wachsende Krise der psychischen Gesundheit von Jugendlichen

Die psychische Gesundheit junger Menschen weltweit und hier in Österreich rückt immer mehr in den Fokus. Die negativen Auswirkungen von COVID-19 sind nur die „Spitze des Eisbergs“.

Fast zwei Jahre seit Beginn der Pandemie sind die psychischen Belastungen für Kinder und Jugendlichen nach wie vor schwerwiegend. Die Pandemie hat einen hohen Tribut von Kindern und Jugendlichen gefordert.

Das Ausmaß der psychischen Probleme in Europa

Eine eigene UNICEF-Analyse für Europa offenbart das Ausmaß der Probleme der psychischen Gesundheit von Jugendlichen in Europa. In Österreich ist die Lage sogar noch dramatischer. Hier zu Lande leiden 18,2 Prozent der 10-19-jährigen unter psychischen Problemen. Das sind knapp 160.000 Jugendliche in Österreich. 24% der Kinder und Jugendlichen in Österreich zeigen im Laufe ihrer jungen Leben zumindest Symptome einer psychischen Erkrankung.

Aktuellen Schätzungen zufolge lebt jeder siebte junge Mensch zwischen zehn und 19 Jahren weltweit mit einer diagnostizierten psychischen Beeinträchtigung oder Störung wie Angststörungen, Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten. Weltweit nehmen sich jedes Jahr rund 46.000 junge Menschen zwischen zehn und 19 Jahren das Leben - ein junger Mensch alle elf Minuten.

Die Rolle der Pandemie und anderer Krisen

Gerade unter der Coronavirus-Pandemie haben junge Menschen stark gelitten: Depressionen, Angstzustände und Suizidgedanken nahmen seit 2020 stark zu. Eine Verschnaufpause gibt es mit Krieg, Teuerung und Klimakrise nicht, sagen Fachleute gegenüber ORF.at. Sie fordern dringend Hilfe.

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Eine Studie unter Kindern der Tirolkliniken zeigt, dass COVID-19 den Verlust an Lebensqualität durch Quarantäne auch bei den drei bis 12-jährigen durch psychosomatische Beschwerden auf. Im ersten Halbjahr 2021 hat sich die Lage sogar weiter verschlechtert: Seit 2021 wurden ca. Jugendliche psychisch stark und nachhaltig betroffen.

Schulbezogene Sorgen, familiäre Probleme, Teuerung und Krieg würden Junge inzwischen mehr belasten als die Pandemie, sagte Christoph Pieh, der an der Donau-Universität Krems zum Thema forscht, über jüngste Erkenntnisse auf ORF.at-Anfrage. Von den befragten 18- bis 24-Jährigen in Deutschland sagten 90 Prozent, dass die steigenden Preise negativen Einfluss auf ihre emotionale Verfassung hätten. Drei Viertel der Befragten nannten auch Krieg und das eigene Körperbild als wichtige Einflussfaktoren auf ihre emotionale Verfassung. Fast zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen sehen sich zudem durch soziale Netzwerke belastet. Auch die Angst vor dem Klimawandel ist unter Jungen bekanntlich groß.

„Das Zusammentreffen dieser Krisen hat die Risikofaktoren für eine schlechte psychische Gesundheit erhöht und viele der Schutzfaktoren für eine gute psychische Gesundheit geschwächt“, sagte Wijker. Mit Risikofaktoren sind mitunter finanzielle Instabilität und Arbeitslosigkeit gemeint, mit Schutzfaktoren hingegen soziale Kontakte, Arbeitstätigkeit und Bildung.

Welche Rolle finanzielle Schwierigkeiten in dem Zusammenhang spielen, zeigte sich schon in der Pandemie. „Erhebungsdaten zeigen, dass im EU-Durchschnitt zwei Drittel der jungen Menschen (im Alter von 18 bis 29 Jahren) mit finanziellen Schwierigkeiten als depressiv eingestuft werden könnten, verglichen mit knapp der Hälfte derjenigen, die keine finanziellen Schwierigkeiten angaben“, erläuterte Wijker.

Besonders gefährdete Gruppen

Als besonders gefährdet galten dem OECD-Bericht zufolge im Laufe der Pandemie vor allem auch junge Frauen sowie Angehörige sexueller sowie ethnischer Minderheiten.

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Ähnliches zeigte sich laut Untersuchungen der Gesundheitsbehörde CDC auch in den USA. Fast drei von fünf Mädchen im Teenageralter verspürten im Jahr 2021 anhaltende Traurigkeit, doppelt so viele wie Burschen. Eines von drei Mädchen erwog demnach ernsthaft einen Suizidversuch. Die CDC verwies darauf, dass sich depressive Symptome bei Mädchen und Burschen unterschiedlich äußern. Burschen neigen demnach zu mehr Aggressivität.

Die Ergebnisse, die auf Umfragen basieren, die unter Teenagern in den gesamten USA durchgeführt wurden, zeigten auch ein hohes Maß an Gewalt, Depressionen und Selbstmordgedanken unter lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen. Mehr als jeder Fünfte dieser Gruppe gab an, im Jahr vor der Umfrage einen Suizidversuch unternommen zu haben.

Handlungsbedarf und Initiativen

In den USA wie auch in Europa reißen Klagen über den Mangel an Hilfsangeboten sowie monatelange Wartezeiten nicht ab.

In der EU gibt man sich indes im Kampf gegen psychische Erkrankungen entschlossen: Im September kündigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union einen EU-Aktionsplan für psychische Gesundheit an. Für viele war das ein historischer Moment. Es sei ein erster Schritt, um gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen anzukämpfen, betonte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides jüngst bei einem Gespräch mit jungen Menschen aus der ganzen EU und der Ukraine.

Bis Juni will die Kommission die Strategie in ihren Grundzügen erarbeiten und präsentieren. Der Dialog mit Betroffenen liegt der Zypriotin nach eigenen Angaben am Herzen. Die Initiative könne nicht auf alle Fragen Antworten finden, sie würde aber erstmals in allen Mitgliedsstaaten Aufmerksamkeit für das Thema schaffen. Die Initiative sei nur ein Anfang, räumte die Kommissarin auch ein.

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Konkret forderte sie mehr Forschung und Budget für das Thema. Unter den Vorschlägen der NGO, die die Koalition für psychische Gesundheit und Wohlbefinden im EU-Parlament unterstützt, zählen auch ein zentralisiertes Datensystem in der EU, die Einführung von Koordinatoren sowie die Umsetzung des psychosozialen Modells.

Es müsse viel mehr communitybasierte Unterstützungssysteme geben, so Awil. Sie forderte weiters die Entwicklung einer europäischen Strategie. Psychische Gesundheit müsse in allen Bereichen berücksichtigt werden. Die aktuelle Initiative könne ein Anfang sein, aber nicht mehr.

Für einen bereichsübergreifenden und ganzgesellschaftlichen Ansatz sprach sich auch OECD-Forscherin Wijker aus. Zu ihren Empfehlungen zählt auch die Stärkung von Telemedizin, die psychische Betreuung niederschwellig und zu einem niedrigen Preis verfügbar mache. Lobend erwähnte Wijker zudem Island und Finnland, wo sozioemotionale Fähigkeiten an der Schule gelehrt werden.

Die Situation in Österreich

Dass es auch hierzulande Handlungsbedarf gibt, verdeutlichen nicht zuletzt die 138.000 Unterschriften für das Jugendvolksbegehren im vergangenen Frühjahr. In einem Entschließungsantrag wurden Mitte Februar eine bessere psychosoziale Versorgung und mehr Bewusstsein für das Thema psychische Gesundheit in Schulen gefordert.

Laut einer Datenerhebung der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit (Kinderliga) waren 2020 knapp 39.000 Kinder bei Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Behandlung, 41.000 bei klinischen Psychologinnen und Psychologen. Sie mussten allerdings im Schnitt rund vier beziehungsweise dreieinhalb Monate auf ihre Termine warten.

Die „Therapielücke“ müsse geschlossen werden, fordert auch Diakonie-Sozialexperte Martin Schenk. Es gehe um „kassenfinanzierte Therapie, um bessere regionale Versorgung und um diversere Formen der Angebote“ wie Primärversorgungszentren, regionale Therapiezentren oder mobile Teams, heißt es in einem Statement an ORF.at.

Forderungen und Appelle

„Kinder und Jugendliche haben sich in der Corona-Pandemie unglaublich kooperativ, rücksichtsvoll und solidarisch gezeigt. Aber ihre Bedürfnisse wurden die längste Zeit übersehen. Viele der wichtigsten Entwicklungsaufgaben konnten nicht vollzogen werden: Schritte Richtung Selbständigkeit, außerfamiliäre Freundschaften, Abnabelungsprozesse u.v.m.… Es fehlten auch Erfolgserlebnisse, die so wichtig für den Selbstwert sind,“ erklärt Dr.in Caroline Culen.

Ali Mahlodji, der einen sehr intensiven Draht zu jungen Menschen hat und sich selbst im Leben in seiner Vergangenheit mit psychischen Problemen konfrontiert sah, unterstreicht nochmals: „Das Thema Mental Health ist deshalb so wichtig, weil es uns alle betrifft aber wir immer noch nicht genug darüber sprechen. Es kann uns einfach alle treffen, genau wie wir einen Schnupfen bekommen oder uns den Fuß brechen.

Zu Kindern und Jugendlichen selbst, möchte ich sagen: Wenn du manchmal das Gefühl hast, dass du dir zu viele Sorgen machst oder ständig traurig bist oder oft Angst hast, dann möchte ich dir einfach sagen: Du selbst, du bist mehr als in Ordnung und du bist auch nicht kaputt oder musst repariert werden. Wenn du aber merkst, du kommst da alleine nicht heraus - dann hol dir Unterstützung!

„Schulen sollten nicht nur akademisch sein, sie sind Orte, an denen wir lernen können, eine gesunde Gesellschaft aufzubauen. Unterstützende Programme in den Schulen, damit wir offen mit Gleichaltrigen darüber sprechen können, was uns belastet und was uns gut tut.

Es braucht dringend mehr Investitionen in die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in allen Bereichen der Gesellschaft, nicht nur im Gesundheitswesen. Evidenzbasierte, übergreifende Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung sollten ausgeweitet werden. Dazu gehören Elternprogramme, die eine flexible, liebevolle Unterstützung und Betreuung der Kinder und die psychische Gesundheit von Eltern und Erziehenden fördern.

Das Schweigen über psychische Erkrankungen muss gebrochen, Stigmata bekämpft und Aufklärung im Bereich der psychischen Gesundheit gefördert werden.

„Dieser Bericht kommt zu einem sehr wichtigen Zeitpunkt für Kinder und Jugendliche. Er dokumentiert eine Krise, die sich leider schon länger anbahnt, aber ich habe Angst vor dem, was noch kommen wird. Diese Krise wird durch die Pandemie noch verschärft. Die politischen Entscheidungsträger und die Erwachsenen haben jetzt die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Investieren Sie jetzt in uns, bevor es zu spät ist.

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