In den USA sprechen Kritiker bereits von "Sadcoms". Diese neue Welle der Depri-Komik im Fernsehen nimmt die Traurigkeit ernst und spiegelt die desillusionierte Publikumsgeneration wider.
BoJack Horseman: Depression als Leitmotiv
Die Netflix-Produktion "BoJack Horseman" hat sich als eine der interessantesten Serien etabliert, die sich mit existenziellen Fragen auseinandersetzt. In "BoJack Horseman" ist die Depression kein Beiwerk, sondern das inhaltliche Leitmotiv.
Die Serie wirft Fragen auf wie: Kann man seinem Selbst entkommen, oder ist man dazu verdammt, immer wieder dieselben Fehler zu machen? Gibt es einen Ausweg aus der Unglücksspirale, oder ist das Leben nichts als eine Reihe sich schließender Türen? Das sind Fragestellungen, die man nicht unbedingt mit Fernsehunterhaltung assoziiert.
Die ersten Folgen scheinen das Bild einer zwangsoriginellen Kreuzung aus "Californication" und "Family Guy" zu bestätigen. Der pferdeköpfige Titelheld, ein abgehalfterter Sitcom-Star mit Hang zu Alkoholexzessen und zynischen Sprüchen, laviert Absurditäten des Alltags und popkulturelle Anspielungen in einer von Menschen und menschenähnlichen Tieren bevölkerten, quietschbunt-knuffigen Los-Angeles-Karikatur.
Die dunklen Schattierungen der Show treten von Episode zu Episode deutlicher hervor: BoJack verdrängt traumatische Kindheitserinnerungen, leidet an Depressionen, ist als narzisstischer Ungustl eher beziehungsunfähig und hadert mit seinem unerfüllten Dasein. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal wirklich glücklich war, und seinen Mitmenschen und -tieren - der pinkfarbenenen Katzenagentin Princess Carolyn, BoJacks Ghostwriterin Diane, sogar seinem naiven Strahlemann-Widersacher, dem schauspielenden Labrador Mr. Peanutbutter - geht es nicht viel besser.
Lesen Sie auch: Liste: Lieder über Depression
Was nicht heißen soll, dass die Sendung keinen Humor hat, im Gegenteil - sie erfüllt alle Kriterien einer guten Sitcom. Spöttische Schlagabtäusche zwischen markanten Figuren sorgen für schwungvolles Erzähltempo, und es gibt regelmäßig Abstecher ins Satirische: Aufs Korn genommen werden die Scheinheiligkeiten Hollywoods, der mediale Umgang mit Promi-Skandalen oder die unlösbaren Dilemmata von Tierethik.
Die Gag-Dichte ist hoch: im Dialog, der seine Bissigkeit mit absurden Sprachspielereien auflockert (BoJack macht Werbung für "Urban German Bourbon") ebenso wie im Bild, wo keine Gelegenheit ausgelassen wird, um sich ein ulkiges Rand- und Hintergrundspäßchen auf Kosten der Tierhaftigkeit des Serienuniversums zu genehmigen - das reicht von "tierischen" Verwurstungen berühmter Gemälde bis zu rasenmähenden Schafen.
Viele Folgen enden auf einer existenziellen Note, der Erkenntnis einer tief gehenden Einsamkeit oder dem Scheitern eines Versuchs, Dinge besser zu machen. Die amerikanische Kritik hat diese Mischung aus klassischer TV-Komik und radikaler Bitternis Sadcom getauft - weitere Vertreter wären etwa "Louie" oder die Sci-Fi-Groteske "Rick and Morty".
BoJacks Depression ist kein Beiwerk, sie steht im Fokus der emphatischen TV-Psychotherapie: Rückblenden falten die Ursachen auf, mögliche Lösungsansätze werden durchprobiert und verworfen, langsam bahnt sich trotz Rückschlägen eine Entwicklung zum Positiven an. "Man muss sich jeden Tag anstrengen, aber es wird leichter", heißt es am Ende der zweiten Staffel.
Euphoria: Unverblümte Darstellung psychischer Probleme
Drogenkonsum, Sexualität, Gewalt, psychische Probleme, gesellschaftlicher Druck - die Welt der gefeierten HBO-Serie "Euphoria" ist unverblümt und unbarmherzig. Die Handlung, die einer Gruppe Teenagern in der Highschool auf ihrem Weg zur Selbstfindung durch Höhen und (sehr) vielen Tiefen folgt, hat vor allem in der sogenannten Gen Z eine breite Fangemeinde gefunden.
Lesen Sie auch: Einführung in die Psychologie
Die fiktive Serienwelt bricht Stigmen und weist in überspitzter Weise auf Probleme hin, die trotz der offeneren Gesprächskultur noch immer oft unter den Teppich gekehrt werden. Vor allem in den prägenden Jugendjahren sind starke Seriencharaktere und Menschen, die in den sozialen Medien ihre persönlichen Geschichten teilen, oftmals ein Anker im Selbstfindungsprozess.
Grundsätzlich als eine sehr positive Entwicklung empfindet die Grazer Kinder- und Jugendpsychologin Petra Pölzl das Ausbrechen aus Stigmen im Fernsehen und auf Social Media, rät allerdings zur Vorsicht. Obwohl ich das als positiv empfinde, ist es wichtig, reflektiert mit den Informationen umzugehen, das kann vor allem für junge Menschen in schwierigen Phasen eine Herausforderung sein."
Verfügbare Informationen zu differenzieren und einzuordnen, sei essenziell, müsse aber auch erlernt werden, sagt Pölzl. "Umso wichtiger wäre, dass die Bezugspersonen den Umgang mit Medien anleiten und Jugendliche unterstützen, das Gesehene auch einzuordnen. Ein Schritt, der ebenfalls Offenheit erfordert."
Mentale Tiefs sind auch normal Drogen, zwischenmenschliche Beziehungen und psychische Probleme stehen in der Welt von "Euphoria" im Vordergrund - und werden zur Charaktereigenschaft der jeweiligen Protagonisten hochstilisiert. Es ist einer der Faktoren, die die Serie so erfolgreich machen - und trotzdem gefährlich sein können.
"Vor allem in der Pubertätskrise erleben Jugendliche immer wieder Phasen, in denen ihre mentale Gesundheit ein Tief erlebt. Vor allem durch die Coronakrise hat sich das in den letzten Jahren noch verstärkt. Allerdings sage ich immer: Nicht jeder, der sich über einen gewissen Zeitraum schlecht fühlt, hat auch gleich eine psychische Erkrankung wie eine Depression", so die Psychologin.
Lesen Sie auch: Zur Sendung über Depressionen
Serien wie "Euphoria" und Erfahrungsberichte Betroffener in den sozialen Netzwerken können Unsicherheiten noch verstärken, sagt Pölzl. Umso wichtiger sei es, die Jugendlichen in ihren Unsicherheiten abzuholen. "Es ist wichtig, mit ihnen einzuordnen, was normal ist und was nicht, und klarzustellen, dass jeder Mensch anders ist und anders reagiert. Die überspitzte Welt der Medien kann den psychischen Zustand mancher junger Menschen, wenn unreflektiert, im schlimmsten Fall sogar verschlechtern. Bei länger anhaltenden Zweifeln und Sorgen sollte jedenfalls auch fachlicher Rat eingeholt werden."
"Euphoria" schlägt mit dem unter die Haut gehenden Plot am Puls der Zeit und weist auf schrille Weise darauf hin, dass Jugendliche aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zwar alle individuellen Herausforderungen gegenüberstehen und dennoch am Ende nur eines wollen - wissen, wer sie sind.
Tote Mädchen lügen nicht: Kontroverse Thematisierung von Suizid
Slut Shaming, Stalking, (Cyber-)Mobbing, Depression: Die Schülerin Hannah Baker hat es als "Neue" in ihrer Highschool nicht leicht. Nach zahlreichen Attacken ihrer Mitschüler fasst sie den Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Bevor sie diesen Schritt setzt, nimmt sie ihre Beweggründe auf 13 Kassetten auf. Eine Kassette für jede Person, die verantwortlich an ihrem Tod ist. Jeder ihrer Peiniger muss sich die Aufzeichnungen anhören - sonst droht sie aus dem Jenseits mit der Veröffentlichung der Aufnahmen.
Selbstmord ist ein Thema, über das nicht oft geredet wird - dabei war 2016 die Zahl der Suidzidfälle zweieinhalb Mal so hoch wie jene der Verkehrstoten. In Neuseeland wurde die Serie für unter 18-Jährige verboten - nur im Beisein von Erwachsenen dürfen sich jüngere Jugendliche die Serie ansehen. In Deutschland wird von Kinder- und Jugendärzten ein generelles Verbot der Serie gefordert, da "große Gefahr insbesondere für psychisch kranke und labile junge Menschen" geortet wird.
Auch in Österreich ist die Serie heftig umstritten. Sogar das Bildungsministerium hat deshalb einen Verhaltenskodex für Lehrer verfasst, wie mit der Serie umgegangen werden soll. In einer Broschüre wird Pädagogen empfohlen, die Netflix-Produktion nur dann zu thematisieren, wenn sie mitbekommen, dass Schüler die Serie auch wirklich sehen: Von selbst sollen sie das Thema nicht anschneiden. Der Grund: Da "keine adäquaten Hilfsmöglichkeiten dargestellt werden, sodass leicht der falsche Eindruck entstehen kann, dass es keine Hilfe gibt oder dass Hilfesuchen keinen Sinn macht".
Auch der Bundesverband für Psychotherapie warnt vor der Serie, weil keine Lösungsansätze für die Hauptfigur Hannah aufgezeigt werden. "Wichtig ist die Vermittlung, dass es kein Problem gibt, dass nicht lösbar wäre", schreibt der Verband in einer Aussendung. Er rät Eltern, genau zu beobachten, was für Inhalte Kinder im Internet aufrufen und im Fall der Fälle das Gespräch darüber zu suchen: "In diesem aktuellen Fall sollten die Erwachsenen hellhörig werden, wenn gerade diese Serie zum Lieblingsprogramm des Nachwuchses wird," heißt es.
Die Macher der Serie rechtfertigen sich damit, dass sie die Zuschauer schonungslos mit der Realität konfrontieren und verdeutlichen, dass Selbstmord keine Erlösung, sondern qualvollen Horror darstelle. Autor Nic Shef führte in einer Kolumne in "Vanity Fair" aus, dass er das Thema Suizid zum Gesprächsthema machen wollte.
Die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" (13 Reasons Why, USA 2017) handelt von einer Jugendlichen, die sich suizidiert und vor ihrem Tod 13 Gründe auf Kassetten aufzeichnet, die sie zu ihrer Entscheidung geführt haben. Im Verlauf der Handlung werden vor allem Mitschüler:innen, denen sie schwere Vorwürfe macht, mit den Aufnahmen konfrontiert.
Hannah hinterlässt sieben Audiokassetten bzw. führt auf 13 Kassettenseiten 13 Gründe an, weshalb sie sich dazu entschlossen habe, sich das Leben zu nehmen. Wie sich nach und nach herausstellt, macht sie hauptsächlich das Verhalten ihrer Mitschüler:innen und des Vertrauenslehrers für ihren Suizid verantwortlich.
Als Hannah bei einer Party von ihrem Mitschüler Bryce Walker vergewaltigt wird (Folge 12), sieht sie sich in einer ausweglosen Situation. Sie ist davon überzeugt, dass ihr Leben sich nicht mehr zum Besseren wenden kann. Als letzten Hilferuf sucht Hannah das Gespräch mit dem Vertrauenslehrer der Schule, Mr. Porter (Folge 13). Sie versucht Porter klarzumachen, dass es ihr sehr schlecht geht und deutet Suizidgedanken an.
Die Serie wurde nach ihrem Erscheinen vielfach kritisiert: Psycholog:innen und Suizidpräventionsorganisationen problematisierten v. a. die explizite Darstellung des Suizids und befürchteten Nachahmungstaten. Neben dem Thema Suizid werden in der Serie weitere schwierige Themen wie sexuelle Gewalt oder Drogenkonsum angesprochen. Die in der Geschichte vorkommenden Helfersysteme (Eltern, Vertrauenslehrer) wirken jedoch nicht vertrauenswürdig oder versagen gänzlich.
Musik ist über weite Strecken der Serie und auf verschiedenen Ebenen präsent. Im Wesentlichen gibt es zwei Arten von Musik: original für die Serie komponierte Tracks des Musikers Eskmo und Songs, die von der Musik-Supervisorin der Serie, Season Kent, ausgewählt und mit Eskmos Tracks zusammengestellt wurden.
Die Originalmusik von Eskmo besteht aus elektronischen Tracks, die vereinzelt auch akustische Musikinstrumente (Gitarre, Klavier u. a.) miteinbeziehen. Sie nehmen Bezug auf die Protagonist:innen oder auf wiederkehrende Elemente der Serie, z. B. die Highschool oder die 13 Kassetten. Daneben enthält die erste Staffel rund 70 Songs, wovon viele aus den 1980er-Jahren stammen, u. a. von den Bands Joy Division, The Cure oder Ultravox.
Insgesamt sind die Songs hauptsächlich den Genres Indie, Alternative (Rock), Synth-Pop, New Wave und Post-Punk zuzurechnen und fügen der Erzählung weitere Ebenen hinzu; dies betrifft sowohl die Gestaltung von Grundstimmungen als auch die inhaltliche Metaebene. Viele der Titel handeln von Einsamkeit oder Tod. Während die Songs vielfach kommentierend wirken, dimensioniert die für die Serie geschriebene Originalmusik die Protagonist:innen emotional.
Um die Rolle der Musik in der Serie beurteilen zu können, ist es außerdem wichtig zu unterscheiden, für wen die Musik hörbar ist: ob die Protagonist:innen sie in der betreffenden Szene selbst hören können - im Fachjargon wird dies als »diegetische Musik« bezeichnet - oder ob sie ausschließlich für die Zuschauer:innen wahrnehmbar ist - sogenannte »extradiegetische Musik«.
Eskmo, ein US-amerikanischer Produzent und Komponist elektronischer Musik, produzierte für die erste Staffel 16 Tracks bzw. Themen, die sich v. a. auf die Protagonist:innen der Serie (»Hannah«, »Clay«, »Justin«, »Jessica« usw.) sowie auf den zentralen Handlungsort (die Schule »Liberty High«) oder wiederkehrende Aktionen bzw. Gegenstände (»Riding«, »13 Tapes«) beziehen.
Hannahs Thema ist wie alle Tracks von Eskmo durch elektronische Sounds geprägt. Zentrales Element ist ein auf einem Klavier gespieltes, melancholisch wirkendes und klangtechnisch verzerrtes Thema über einer durchlaufenden einfachen Begleitfigur. Die Aussage von Eskmo, dass er Hannahs Musik einen ›unschuldigen‹ Charakter geben wollte, lässt sich beim Hören nachvollziehen.
Justins Thema liegt ein statischer, wabernder Sound auf dem Ton d zugrunde. Dazu werden nach und nach weitere, zeitweise auch rauhere Sounds entfaltet. Am markantesten ist eine sehr schlichte Tonfolge, die auf einem mit Stanniol und Papier präparierten Klavier gespielt wird: Zunächst hört man nur ein langsam wiederholtes a, später kommt auch ein Wechsel mit dem Ton g dazu.
Das Grundmotiv dieses langsamen und ebenfalls düster-traurigen Tracks bilden drei absteigende Klavierakkorde auf den Basistönen g-fis-e und der anschließenden aufsteigenden Folge g-a-h.
Das US-Fernsehen hat sich neu erfunden und bringt nun schon seit 1999 Serien mit komplexeren Handlungen.
PUR-Abo
Sie entscheiden darüber, wie Sie unsere Inhalte nutzen wollen. Z.B. Sie haben ein PUR-Abo?
tags: #serien #über #depression #themen