Psychotherapie in Deutschland: Systemische Eigenlogik und Marginalisierungsprozesse

Durch die Einführung der Richtlinienpsychotherapie in Deutschland im Jahr 1998 wurde eine psychotherapeutische Regelversorgung etabliert, die psychische Problemlagen auf der eindimensionalen Grundlage der ICD ohne Einbeziehung von wichtigen Konzepten wie Lebenswelt, Sozialraum oder Ressourcenorientierung betrachtet.

Gesellschaftliche Einflüsse auf psychische Gesundheit und Krankheit spielen nur eine marginale Rolle.

Die Behandlung ist ausschließlich von einer spezifischen ICD-Diagnose abhängig, alternative Behandlungsansätze sind aus der Regelversorgung systematisch ausgeschlossen.

Effektivitätsnachweise sind strikt an RCT-Studien gekoppelt.

Dadurch werden Patient_innen mit komplexen psychischen Problemlagen von der psychotherapeutischen Versorgung nur marginal erfasst.

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Der Artikel arbeitet anhand von Beispielen aus Forschung und Praxis heraus, wie die an medizinische Paradigmen angelehnte Institutionalisierung der psychotherapeutischen Versorgung - insbesondere in Deutschland - zur Herausbildung systemischer Eigenlogiken führt, die Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse befördern.

Interessanterweise widmete sich die psychotherapeutische Profession in ihren historischen Ursprüngen intensiv der Behandlung von benachteiligten gesellschaftlichen Personengruppen (u. a. Adler und Furtmüller 1914).

Die jeweiligen Behandlungsansätze und theoretischen Erklärungsmodelle entwickelten sich entlang der dortigen Herausforderungen und Forschungsinitiativen.

Soziologische Betrachtungen zeigen, dass der Mensch im Zuge von Beschleunigungs‑, Digitalisierungs‑, Flexibilisierungs‑, Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprozessen aktuell mehr denn je mit Herausforderungen konfrontiert ist, die mit belastenden Veränderungen der Lebenswelt einhergehen (vgl. u. a. Giddens 2001 [1999]; Sennett 2010 [1998]).

Die „Subjekte einer individualisierten und globalisierten Netzwerkgesellschaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr problemlos auf kulturell abgesicherte biografische Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken ungeheure Potenziale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber auch die leidvolle Erfahrung des Scheiterns“ (Keupp 2012, S. 46).

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Besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind dabei gesundheitlichen Risiken ausgesetzt.

So zeigen mehrere Bevölkerungsstudien, dass ein niedriger sozioökonomischer Status mit zahlreichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergeht (Mielck 2008).

Häufig verfügen sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen nicht über die Zugänge oder Ressourcen, um ausreichend an den sozial- und gesundheitsfördernden Möglichkeiten zu partizipieren oder gesundheitliche Belastungen zu kompensieren.

Sie drohen, aus vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen zu werden.

Um psychosoziale Versorgung am „aktuellen Bedarf“ zu orientieren, muss folglich neben einer Reihe anderer Aufgaben auch eine adäquate professionelle Antwort auf die Überforderungen durch psychosoziale Verarbeitungsprozesse aktueller Lebensverhältnisse wie z. B.

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Diese gesellschaftlichen Veränderungen, die sich auf die Zugänge und die Zielgruppen der psychotherapeutischen Behandlung auswirken, werden gegenwärtig in der psychotherapeutischen Forschung und Praxis jedoch nur unzureichend berücksichtigt (Keupp 2021).

So erhalten zahlreiche Personengruppen trotz hoher psychosozialer Belastungen aufgrund von strukturellen oder individuellen Barrieren immer noch keinen Zugang zu notwendigen psychotherapeutischen Behandlungen, wodurch die psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen und sozialen Exklusionsprozesse dieser Zielgruppen weiter ansteigen.

Durch die Einführung der Richtlinienpsychotherapie im Jahr 1998 wurde - in Deutschland - eine Struktur für eine Regelversorgung von Patient_innen mit psychischen Störungen etabliert.

Dies kann zunächst als Fortschritt betrachtet werden, doch mit der Finanzierung über gesetzliche Krankenkassenleistungen wurde eine Systemlogik eingeführt, die bestimmten Prämissen unterliegt: (1) Psychische Probleme werden als Diagnosen auf der Grundlage des Vorhandenseins klinischer Symptome beschrieben (ICD-10 F), ohne Einbeziehung wichtiger, vor allem soziologisch fundierter Konzepte wie Lebenswelt, Sozialraum oder Ressourcenorientierung.

(2) Für eine Finanzierung der Behandlung muss eine Diagnose nach ICD gestellt werden.

(3) Diverse Behandlungsansätze wurden aus den Versorgungsleistungen ausgeschlossen (z. B. Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie, körperorientierte Therapien, Soziotherapie).

(4) Fortan bedarf die Anwendung einer psychotherapeutischen Methode eines wissenschaftlichen Effektivitätsnachweises mittels RCT-Studien.

Auch die Durchführung genehmigter Psychotherapien gelingt nur, wenn Patient_in und Therapeut_in bestimmte Anpassungsleistungen vollbringen.

So müssen gewisse Fähigkeiten, Kompetenzen und Lebensumstände vorausgesetzt werden, um pünktlich jede Woche an der Veränderung der diagnostizierten Symptomatik arbeiten zu können.

Der Preis, den das deutsche Versorgungssystem durch die Einführung einer gesetzlichen Regelversorgung zahlt, ist daher ziemlich hoch.

Aber nicht nur durch die Krankenkassenlogik „Krankheit - Therapie - Heilung“ ergeben sich Probleme.

Darüber hinaus öffnet sich durch die öffentliche Finanzierung privatwirtschaftlicher Praxisinhaber_innen ein Tor zur Ökonomisierung der Versorgung von Patient_innen mit psychischen „Störungen“.

So ist es mittlerweile nicht unüblich, dass fachfremde Betriebswirt_innen oder Jurist_innen Versorgungszentren gründen und Ärzt_innen sowie Psychotherapeut_innen gewinnorientiert für sich arbeiten lassen (Krombholz et al.

Um sich gegenüber medizinischen und psychopharmakologischen Behandlungsmethoden zu etablieren, orientiert sich die Psychotherapieforschung beim Nachweis der Kosteneffizienz und Behandlungswirksamkeit seit vielen Jahren verstärkt an naturwissenschaftlichen Kriterien und Evidenzbasierung (Lambert 2013).

Dem „Goldstandard“ - also symptombezogenen, komparativen, randomisierten Kontrollgruppenstudiendesigns (RCT-Studien) - zufolge müssen im Rahmen der Manualisierung die Behandlungsverfahren und die Gruppen der eingeschlossenen Patient_innen diagnostisch genau beschrieben, das Behandlungssetting klar bestimmt und die interne Validität durch randomisierte kontrollierte Bedingungen gewährleistet werden.

Dies widerspricht einer bedarfsgerechten Versorgung und trägt dazu bei, dass ein Teil der behandlungsbedürftigen Patient_innen systematisch aus der psychotherapeutischen Versorgung ausgeschlossen wird.

Ebenso hat dies zu einem Ausschluss von psychotherapeutischen Verfahren geführt, die aufgrund des Komplexitätsgrads ihrer therapeutischen Interventionen oder Prozesse nur unzureichende Wirksamkeitsbelege im Sinne der strengen naturwissenschaftlichen Evidenzbasierung vorweisen können.

Wer also sind diese angesprochenen Randgruppen, die nicht in das Raster eines medizinischen Ansatzes passen?

Im klinisch-sozialwissenschaftlichen Bereich hat sich dafür die Bezeichnung „hard to reach“ (Giertz et al. 2021) etabliert.

Genauer betrachtet jedoch stoßen diese Klient_innen auf Barrieren im Hilfezugang und sind in diesem Sinne weniger „hard to reach“ als vielmehr „selten gehört“ (vgl. Schaefer et al. 2021) oder in „ethical loneliness“ (Stauffer 2015).

Brackertz (2007) arbeitet demografische, kulturelle, strukturelle sowie verhaltensbedingte Aspekte heraus, die dazu führen, dass diese Klientel von Hilfsangeboten kaum profitieren kann.

Hard-to-reach-Klient_innen zeichnen sich häufig durch komplexe psychosoziale und existenzielle Problemlagen aus.

Dadurch benötigen sie institutionsübergreifende, auf die Person ausgerichtete und zentrierte Hilfen.

Oft, aber nicht immer, geht die Lebenssituation dieser Klient_innen mit materieller Armut oder Benachteiligung einher.

Obwohl Gewalt einen erheblichen Risikofaktor für langwierige gesundheitliche Probleme darstellt (Mosser 2018), sind die Hürden für die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Angebote durch betroffene Menschen vielfältig.

Ein „epistemisches“ Problem, das den Zugang gewaltbetroffener Menschen in das Psychotherapiesystem erschwert, liegt in einem weitgehenden „Desinteresse“ der Formaldiagnostik für die Vorgeschichte potenzieller Patient_innen (Mosser und Schlingmann 2013).

Gewalterfahrungen (im Kindes- und Jugendalter) üben einen erheblichen Einfluss auf das Verhältnis der Betroffenen zu ihrer sozialen und institutionellen Umwelt aus (Andrade und Gahleitner 2020; Helming et al. 2011).

Diese innerpsychischen Probleme aufseiten der Hilfesuchenden korrespondieren mit schwerwiegenden Strukturproblemen des Psychotherapiesystems, die sich u. a. in langen Wartezeiten, unzureichenden Stundenkontingenten und überfordernden Rahmenbedingungen (in wöchentlicher, pünktlicher Inanspruchnahme) manifestieren (UKASK 2019).

Kooperationsprobleme des Psychotherapiesystems tragen dazu bei, dass häufig vorliegende komplexe Belastungslagen der Betroffenen nicht ausreichend behandelt werden können: Eine beeinträchtigte psychische Gesundheit interagiert dabei in vielen Fällen mit chronifizierten oder aggravierten sozialen und ökonomischen Problemen, die jeweils individuell zugeschnittene interdisziplinäre Hilfenetzwerke erfordern (Andrade und Gahleitner 2020; Helming et al. 2011).

Ein Qualifizierungsproblem aufseiten vieler Psychotherapeut_innen führt dazu, dass sich Gewaltbetroffene häufig nicht im oben beschriebenen Sinne wahrgenommen und anerkannt fühlen, da ihre spezifischen Bedarfe in psychotherapeutische Ausbildungen häufig nicht ausreichend in den Blick genommen werden (Helming et al.

Die hier genannten Versorgungshürden haben auch mit der Frage zu tun, ob Gewalt als individualisierbares gesundheitliches Problem oder als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichverhältnisse betrachtet wird (Gebrande 2018).

Eine weitere, in der kassenfinanzierten Versorgungsstruktur nicht entsprechend repräsentierte Gruppe sind onkologische Patient_innen.

Ziele einer umfassenden Versorgung von Krebspatient_innen sind zwar im „Nationalen Krebsplan“ (BMG 2021) sowie in den S3-Leitlinien zur Psychoonkologie (Beutel et al. 2014) präzise formuliert, doch scheitern diese regelmäßig an ihrer Umsetzung.

Um diese Lücke zu schließen, übernahmen vor allem die Krebsberatungsstellen Unterstützungsleistungen, die zuvor jedoch nicht über eine regelhafte Finanzierung verfügten, deren Leistungen aber seit 2021 anteilig von den Krankenkassen übernommen werden.

Krebspatient_innen und deren Behandler_innen kämpften lange Zeit gegen eine klischeehafte Pathologisierung der Betroffenen, wobei die im Zuge einer Krebserkrankung auftretenden psychosozialen Belastungen als Folgen eines kritischen Lebensereignisses und als eine durch den Diagnoseschock hervorgerufene existenzielle Bedrohung und nicht als psychische Erkrankung im engeren Sinn betrachtet werden sollten.

Durch die Krankenkassenfinanzierung werden Leid und Belastungen in krankheitswertige Störungen transformiert, die es zu therapieren gilt.

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