Die Frage nach den Ursachen für Gewalttaten, insbesondere Amokläufe, ist komplex und vielschichtig. Oft werden psychische Erkrankungen als Hauptgrund angeführt, doch die Realität ist differenzierter. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Faktoren, die zu solchen Taten beitragen können, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Rolle von Männlichkeit und gesellschaftlichen Einflüssen liegt.
Die Trigger-Triade bei Amokläufen
Die forensische Kinder- und Jugendpsychiaterin Kathrin Sevecke hat die Gründe für Amokläufe in einer sogenannten Trigger-Triade aufgeschlüsselt:
- Die leichte Verfügbarkeit von Waffen.
- Eine psychische Grunderkrankung.
- Eine akute Kränkung, die eine akute emotionale Reaktion hervorgerufen hat, wie z.B. eine romantische Zurückweisung, sozialer Ausschluss oder Mobbing.
Der Faktor Männlichkeit
Ein Faktor, der oft vergessen wird, ist der Umstand, dass die Täter fast immer Männer sind. Alle Erhebungen und Studien zum Thema belegen bei Amokläufen einen Männeranteil von deutlich über 90 Prozent. Ein Bericht des FBI, der alle Amokläufe in den USA zwischen 2000 und 2019 untersucht hat, zeigt, dass 97,7 Prozent aller Amokläufer männlich waren. Jackson Katz, ein Forscher, der sich seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt, beziffert den Anteil männlicher Täter mit 99 Prozent.
Statt aber darüber zu sprechen, warum das so ist, statt über Männlichkeit zu sprechen, wenn es um männliche Gewalt geht, wird lieber über psychische Erkrankungen und den Zugang zu Waffen gesprochen. Dass psychische Erkrankungen als Grund für Amokläufe angegeben werden, ist vor allem insofern erstaunlich, als dass Frauen von einer ganzen Reihe psychischer Erkrankungen in wesentlich höherem Maße betroffen sind als Männer - von Depressionen, von Angsterkrankungen, von Essstörungen.
Auch Mädchen und Frauen sind psychisch krank (öfter als Männer), erleben Belastung, Kränkung, Enttäuschungen, Verletzungen, Zurückweisungen, Misserfolge, Ängste, Schicksalsschläge, Traumata (öfter als Männer), Ausschluss und Mobbing. Aber sie laufen nicht Amok.
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Indes werden „psychisch krank“ und „belastendes Lebensereignis“ als Gründe ins Treffen geführt, als wäre es ein Naturgesetz, dass Männer auf Belastung und Erkrankung mit Gewalt gegen andere reagieren. Als würde zwischen der Krankheit, dem belastenden Lebensereignis und der Tat nicht noch die Entscheidung zur Gewalt stehen. Eine Entscheidung, die andere - Frauen nämlich - in aller Regel nicht treffen.
Es ist nicht das negative Gefühl oder die negative Erfahrung, die linear zu einem Gewaltakt führen, es ist die Unfähigkeit, mit negativen Gefühlen oder Erfahrungen gewaltfrei umzugehen. Und es ist kein Zufall, dass vor allem Männer diesen Umgang nicht finden.
Katz verweist darauf, dass Männlichkeit bei Amokläufen eine zentrale Rolle spielt. Die Zahlen verweisen ebenso darauf - mit erdrückender Eindeutigkeit. Zeit, über sie zu sprechen. Zeit, gewaltvolle Männlichkeit ins Zentrum der Analyse zu stellen und nicht weiter so zu tun, als wäre sie ein unveränderlicher Naturzustand, der eben, naturgesetzlich, durch psychische Erkrankung oder Belastung getriggert nach außen bricht, ohne dass irgendjemand etwas dagegen tun könne.
Männliche Gewalt als Naturgesetz?
Der bereits zitierte Jackson Katz versteht Amokläufe als einen Versuch, sich in einem Gefühl von tatsächlichem oder imaginiertem Kontrollverlust, tatsächlichem oder imaginiertem Abgehängt-Sein patriarchale Männlichkeit zurückzuerobern. Es ist eine Männlichkeit, die in hohem Maße von Dominanz über andere und Kontrolle anderer geprägt ist, von der Macht, seinen Willen durchzusetzen und über andere zu verfügen, auch gegen den Willen und gegen den Widerstand anderer: „Gewalt ist ein männlicher Akt der Selbstbehauptung. Ich bin ein Mann, ich bin verletzt. Aber jetzt habe ich eine Waffe und jetzt habe ich Kontrolle. Ich tue, was ich will, und ich will, dass ihr leidet.“ Der Amoklauf selbst ist dabei nicht als direkter, persönlicher Racheakt, sondern eher als eine männliche Machtinszenierung zu verstehen, als eine mörderische Performance mit dem Täter in der Hauptrolle.
Psychische Erkrankungen und ihre Rolle
Laut einer Studie des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen sind Amokläufer sogar „nur in Einzelfällen im klinischen Sinne psychisch gestört.“ Manche Amokläufer erleben akute Kränkungen, manche werden gemobbt, andere aber auch nicht. Manche werden zurückgewiesen, andere nicht, manche imaginieren sich lediglich in der Rolle des zurückgewiesenen Opfers. Eines zieht sich aber durch, egal ob gemobbt oder nicht, egal ob psychisch krank oder nicht, egal ob zurückgewiesen oder nicht: So gut wie immer sind die Täter Männer.
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Traumata und ihre Auswirkungen
Ein Trauma geschieht unerwartet - eine Vorbereitung ist daher nicht möglich. Betroffene Menschen sind Erfahrungen von extremer Angst, Kontrollverlust und Ohnmacht ausgesetzt. Die meisten Menschen sind zunächst kaum in der Lage, solche Situationen „extremer“ Hilflosigkeit zu verarbeiten.
Verschiedene Ansätze versuchen zu erklären, warum es nach einem traumatischen Ereignis bei manchen Menschen zu einer Traumafolgestörung kommt und bei anderen nicht und - was ein Trauma eigentlich ausmacht. Es scheint einen direkten Zusammenhang zwischen der Schwere des traumatischen Ereignisses und dem Auftreten und der Schwere einer Traumafolgestörung zu geben. Die individuelle Lebenssituation und ihre Rahmenbedingungen dürften eine wesentliche Rolle spielen. Biologische, psychische sowie soziale Faktoren spielen mit traumaspezifischen Umständen zusammen.
Wird jemandem Gewalt von einem nahestehenden Menschen zugefügt (z.B. aus der Familie bzw. dem Freundeskreis), hinterlässt dies besonders tiefe Spuren, da es einen massiven Vertrauensbruch darstellt. Auch das Vorliegen von bereits vorbestehenden psychischen Störungen oder Erkrankungen (z.B. Angsterkrankungen) oder früherer Traumatisierungen (besonders in der Kindheit) erhöhen das Risiko an einer Traumafolgestörung zu erkranken.
Gewisse Umstände und Eigenschaften wirken hingegen wie ein „Schutzschild“ gegenüber traumatischen Einflüssen. Dazu gehören etwa gute Bindungen an andere Menschen, sozialer Rückhalt, Schutz vor weiteren Belastungen und Selbstwirksamkeit. Dies bedeutet, dass sich ein Mensch frei fühlt, über seine Handlungen zu entscheiden, und daran glaubt, seine Vorhaben gut in die Tat umsetzen zu können. Selbstwirksamkeit bedeutet somit Kontrolle über das eigene Leben und über Ereignisse in der eigenen Umwelt zu haben.
Die Rolle des Gehirns bei Traumata
Im Falle eines Traumas handelt es sich um Extrembelastungen, die auch im Gehirn Spuren hinterlassen können. In akuten, massiven Belastungssituationen ist das stressverarbeitende System überfordert. Als Folge können die typischen sogenannten peritraumatischen Symptome auftreten. Dazu zählen etwa ständiges Wiedererleben des Traumas, Albträume, allgemeine Alarmiertheit, massive Angst oder Betäubung und Erstarrung.
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So zeigen sich etwa nach Kriegserlebnissen, Unfällen, zivilen Katastrophen, Gewalttaten und kindlichen Traumata Veränderungen im Gehirnstoffwechsel manchmal sogar Strukturveränderungen des Hirns. Durch die übermäßige Ausschüttung von Stresshormonen und die stärkere Aktivierung des sympathischen Nervensystems (z.B. erhöhter Puls, hoher Stresshormonspiegel, Schlafschwierigkeiten) zu einer körperlichen Übererregtheit.
Eine durch das Trauma ausgelöste Störung im Hippocampus kann dazu führen, dass die Speicherung des traumatischen Erlebnisses im Gedächtnis unmöglich wird (vor allem im Kurzzeitgedächtnis), Lernen wird schwierig.
Die mit dem Trauma in Verbindung stehenden Sinneseindrücke, körperlichen Zustände und Gefühle werden also in den sogenannten Mandelkernen im Gehirn gespeichert. Sie zerfallen mitunter bei/nach einem Trauma wie die Splitter eines zerbrochenen Spiegels in viele Einzelteile und können daher nicht mehr als sinnvolles Ganzes wahrgenommen bzw. zugeordnet werden. Diese Fragmente beginnen ein Eigenleben und können auf allen Sinneskanälen als sogenannte Intrusionen (innere Bilder des traumatischen Erlebnisses) wiederkehren. Sie überlagern die aktuelle Realität.
Das Zusammenspiel von teilweisem Erinnern, Erinnerungslücken und immer wieder auftauchenden Bildern und Gefühlen stellt für Betroffene eine große Belastung dar. Schlafstörungen, Albträume, Gefühlseinschränkungen, Reizbarkeit sowie große Angst, um sich und die eigene Gesundheit können auftreten. Das plötzliche Wiedererleben des Traumas wird auch Flashback genannt.
Hilfe und Unterstützung
Ein frühzeitiges Hilfsangebot - unmittelbar nach dem Ereignis (möglichst noch vor Ort) - hilft bei der Bewältigung und setzt das Risiko für die Entwicklung späterer Traumafolgestörungen herab. Ist das Trauma sehr schwerwiegend oder ist die/der Betroffene sehr beeinträchtigt, sollte anschließend an die Erstintervention eine Krisenintervention Anspruch genommen werden.
Es kann im Zusammenhang mit traumatischen Belastungen auch zu Suizidgedanken bis hin zu einem Selbsttötungsversuch kommen. Es ist daher wichtig, Warnsignale rasch zu erkennen!
Traumatisierung kann - so erstaunlich es klingen mag - in manchen Fällen sogenanntes posttraumatisches Wachstum/posttraumatische Reifung nach sich ziehen. Das bedeutet, dass die betroffene Person das Erlebte verarbeitet und bewältigt hat und daraus für das weitere Leben Zuversicht bezieht.
Die Problematik der voreiligen Urteile
In einem „Amoktäter“ sofort einen psychisch Kranken zu sehen ist laut der Fachgesellschaft falsch: „Handlungen im Sinne von ‚Amok‘ werden von Menschen verübt, die zumeist nicht psychisch krank sind. ‚Psychische Probleme‘ sind keine Krankheit. Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung sind nicht mit psychisch krank gleichzusetzen“, so die ÖGPP.
Schnellschüsse seien nicht angebracht, stellten die Experten fest: „Unseriös sind spekulative diagnostische Mutmaßungen, die trotz unzureichender Erkenntnislage über die Medien transportiert werden. Diese führen zu Missverständnissen, Verwirrung und Verunsicherung und entspringen im besten Fall dem psychologisch gut nachvollziehbaren Erklärungsbedürfnis bei besonderen Gewalttaten.“
Im Endeffekt sei die rasche Suche nach Ursachen aktuell nicht das oberste Gebot: „Die ÖGPP stellt daher klar, dass in derartigen Krisensituationen hochprioritär die medizinische und psychologische Betreuung der Opfer, ihrer traumatisierten Angehörigen, Freunde und Bekannten im Fokus zu stehen hat.