Die Bedeutung von Musik und Gesang bei psychischen Erkrankungen

Musik hat eine tiefgreifende Wirkung auf unsere Psyche und kann uns in schwierigen Zeiten Trost spenden. Viele Musiker*innen verwandeln ihre eigenen Erfahrungen mit Ängsten, Depressionen und Selbstzweifeln in wunderbare Musik, die anderen Menschen aus der Seele spricht.

Die Kraft des gemeinsamen Singens

Kraftvoller Gesang und rhythmisches Klatschen können einen Raum erfüllen und eine positive Atmosphäre schaffen. „Singen ist Atmung, Ankommen im Hier und Jetzt, sich im Körper spüren, Schmerzen vergessen“, sagt die Musiktherapeutin Gerda Brock. Beim Singen können Patienten wieder in Kontakt mit ihrer Lebensfreude kommen, Gemeinschaft erfahren und neue Hoffnung schöpfen. Das gemeinsame Singen wirkt befreiend, angstlösend und aktivierend.

Um den Nöten der Kranken mit Noten beizukommen, initiierte Wolfgang Bossinger 2006 an der psychiatrisch-neurologischen Klinik Christophsbad in Göppingen eine offene Singgruppe. Neben Patienten aller Stationen waren auch ehemalige Patienten und Menschen aus der Umgebung zum Mitsingen eingeladen. Die Idee kam an, und drei Jahre später gründete Bossinger den gemeinnützigen Verein „Singende Krankenhäuser“.

Menschen mit psychischen Problemen - schweren Depressionen, Psychosen, Angstzuständen - bekommen mit der Singgruppe auch nach der Entlassung aus dem Spital ein tragfähiges soziales Netzwerk. Die Begegnung auf Augenhöhe ist auch für alle anderen Patienten wohltuend: Sie sind „normaler Teil“ der singenden Gemeinschaft, ihre Rolle als leidender Patient tritt in den Hintergrund. „Aus der neurobiologischen Forschung weiß man, wie wichtig soziale Wertschätzung ist, um wieder gesund zu werden“, betont Bossinger.

Die Wirkung von Healing Songs

Als besonders wirkungsvoll gelten die sogenannten Healing Songs. „Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie leicht erlern- und singbar sind und eine für die Patienten relevante Botschaft haben“, verdeutlicht Hermanns. Lieder mit einer klaren rhythmischen Struktur beispielsweise erden und geben Halt. Ruhig fließende Lieder wiederum, bei denen man die Stimme strömen lässt, fördern die Lösung der Angst. Durch die vertiefte Atmung wird der Parasympathikus aktiviert, jener Teil des Nervensystems, der für Entspannung und Beruhigung zuständig ist.

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„Indem der Atem zum Fließen gebracht wird, wird wieder Kontakt zum Gefühl hergestellt“, erläutert Hermanns. Freudig beschwingte Lieder wirken „aktivierend und antidepressiv“. Gerda Brock bestätigt: „Menschen mit Depressionen, Burn-out oder Angst-Symptomatik profitieren besonders von den heilsamen Liedern. Ihre Stimmung verbessert sich oft schon nach zwei Einheiten Singen deutlich.“

Musik als Therapie

Von der positiven Wirkung des Gesangs überzeugt sind auch Dr. Wilfrid Glantschnig und Dr. Gertraud Glantschnig. Seit Herbst 2010 bietet das Osttiroler Ärztepaar am Bezirkskrankenhaus Lienz, dem ersten von Wolfgang Bossinger zertifizierten Singenden Krankenhaus Österreichs, 14-tägig eine offene Singgruppe an. Stationäre und ehemalige Patienten „sind mit Begeisterung dabei“, berichtet Wilfrid Glantschnig.

Durch den Körpereinsatz wird zusätzlich Stress abgebaut. „Wenn Bewegung ins Spiel kommt in Form von rhythmischer Gestaltung oder einfachen Kreistänzen, verstärkt sich die Wirkung des gemeinsamen Singens, das Erleben von Glücksgefühl und Verbundenheit mit anderen“, ergänzt Gerda Brock.

Eine besondere Wirkung hat das Singen bei Schmerzen: „Es ist nachgewiesen, dass dabei körpereigene, schmerzstillende Opiate ausgeschüttet werden und dass von Herzen kommender Gesang von den Schmerzen ablenkt“, berichtet Norbert Hermanns. Auch bei Sprachstörungen, z. B. nach einem Schlaganfall, gilt der Gesang als wirksame Therapie.

Während das Sprachzentrum auf die linke, analytische Hirnhälfte beschränkt ist, aktiviert Musik beide Seiten des Gehirns. Ist das Sprachzentrum nach einem Schlaganfall geschädigt, so können durch die musikalische Behandlung neue, dauerhafte Verbindungen in der rechten Gehirnhälfte geschaffen werden.

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Singende Krankenhäuser und Forschung

In Deutschland machen rund 30 Spitäler und Gesundheitseinrichtungen mit, in Österreich gibt es bislang zwei zertifizierte „Singende Krankenhäuser“: das Bezirkskrankenhaus Lienz und das Diakonissenkrankenhaus Linz. „Über das gemeinsame Singen soll eine psychische und körperliche Mobilisierung hergestellt werden, um individuelles Wohlbefinden und empfundene Lebensqualität zu verbessern“, erklärt Gunter Kreutz.

In einem Projekt untersucht Kreutz derzeit gemeinsam mit dem Musiktherapeuten Wolfgang Bossinger und dem weltweit führenden Sing- und Gesundheitsforscher Stephen Clift die spezielle Wirkung des Singens in offenen Singgruppen.

Musik und psychische Gesundheit in der Popkultur

Was die Psyche mit einem Körper anstellen kann und wie das Leben mit einer psychischen Erkrankung ist, besingt Girl in Red auf ihrem Debütalbum „if i could make it go quiet“. Seit Jahren hat die 22-jährige Norwegerin eine Zwangs-und Angststörung. Auf ihrer ersten Platte spricht Girl in Red so ehrlich wie noch nie über ihre Erkrankung.

Wie sich das mentale Rauschen anhört, beweist Girl in Red unter anderem mit dem Song „Serotonin“, in dem sie von ihren Zwangsgedanken geplagt wird. „Es hat sich wirklich gut angefühlt, das alles in einen Song zu packen. Denn ich war irgendwie fertig mit meinem Prozess. Ich habe im letzten Jahr so viel über OCD (obsessive-compulsive disorder) und intrusive Gedanken gelernt. Und der Song hat sich quasi von selbst geschrieben!“

Auch andere Musiker*innen wie James Blake, Ed Droste von Grizzly Bear, Arlo Parks und Lulu Schmidt thematisieren psychische Gesundheit in ihren Songs und setzen sich für mehr Transparenz und Offenheit ein.

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Herausforderungen und Perspektiven

Stressige Arbeitsbedingungen, permanente Erreichbarkeit und mangelnde Beratungs- und Hilfsangebote machen den Job auf der Bühne auf Dauer zu einem Kraftakt, oft ohne nötigen Ausgleich. Die Pandemie hat diese Situation noch verschärft.

„Es wird leider immer noch viel zu sehr unterschätzt, wie wichtig die psychische Gesundheit ist“, beklagt der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP). Demnach seien bis zu fünf Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung von einer psychischen Erkrankung in schwerem Ausmaß betroffen.

Es sei an der Zeit, Handlungsräume zu eröffnen, die das Problem von der individuellen auf eine kollektive Ebene heben. Ein Punkt, den auch Sophie Lindinger macht, allerdings ist sie weitaus pessimistischer: „Es wird genauso weitergehen. Ein paar können es sich leisten, sich den Platz zu nehmen, und werden den auch einfordern, aber junge Künstler*innen werden keine andere Wahl haben, sich diesem Rad der Ausbeutung zu entziehen“, sieht sie die kollektive Aktion in Gefahr: „Agenturen und Medien spielen ebenfalls nicht mit. Es müssten alle machen, aber das wird es nicht spielen.“

Es drängt sich die Frage auf, wie sehr die Musikbranche tatsächlich für ihre Akteur*innen - die künstlerischen wie die ökonomischen - funktioniert oder inwiefern sie eher kränkelnd dahinsiecht. Während gerade im Pop so gerne über Aufstieg und Erfolg gesprochen wird, als wäre es der realistischere Vorgang, sind nicht-erfolgreiche Musiker*innen wesentlich in der Überzahl. Und um genau die solle es gehen, meint Weinmann, wenn sie eines Perspektivenwechsel der Branche fordert.

„Es ist wichtig, Musiker*innen klarzumachen, dass sie auf sich selbst schauen dürfen. Dabei kann der Glaubenssatz helfen, dass nicht nur Üben am Instrument ein Trainieren des eigenen Kunstschaffens ist."

Beate Wimmer-Puchinger, Präsidentin des österreichischen Berufsverbands für PsychologInnen, schreibt: „Erstens müssen psychische Erkrankungen stärker in den Fokus gerückt und mehr Wissen über psychische Erkrankungen verbreitet werden. Zweitens muss psychische Behandlung für jede*n leistbar sein."

Für Sophie Lindinger hat es Druck rausgenommen, Leyya ins Studio zu verlagern. „Der Erfolg ist es nicht wert, dass meine mentale Gesundheit darunter leidet.“ Und für die wichtigen ersten Schritte braucht es wohl auch gar nicht alle, sondern schlicht nur genügend Menschen, die sich zusammenschließen.

Daniela Weinmann beendet das Gespräch mit einem etwas kitschigen, aber dennoch kämpferischen Aufruf, der ebenso auch im Umweltaktivismus Platz fände: „Es braucht vor allem dich, jetzt! Wie viele wir sind - das müssen wir loslassen. Es kann sein, dass es die Mehrheit nicht fühlt. Es kann sein, dass wir es nicht schaffen, unsere Forderungen umgesetzt zu sehen."

Tabelle: Musik und psychische Gesundheit

Aspekt Wirkung
Gemeinsames Singen Befreiend, angstlösend, aktivierend, fördert soziale Kontakte
Healing Songs Leicht erlernbar, relevante Botschaft, rhythmisch erdend, beruhigend
Musiktherapie Mobilisierung, Verbesserung des Wohlbefindens und der Lebensqualität
Musik in der Popkultur Thematisierung psychischer Gesundheit, Abbau von Tabus

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