Der Amoklauf von Winnenden und die Rolle der Psychiater

Der Amoklauf von Winnenden im Jahr 2009, bei dem ein 17-jähriger Schüler 15 Menschen und sich selbst erschoss, hat viele Fragen aufgeworfen, insbesondere hinsichtlich der Verantwortung der behandelnden Psychiater.

Gerichtsurteil entlastet Psychiater

Die Psychiater des Amokläufers von Winnenden müssen sich nicht am Schadenersatz für die Opfer und Hinterbliebenen der Bluttat mit 16 Toten beteiligen. Das Landgericht Heilbronn wies am Dienstag eine entsprechende Klage vom Vater des Täters voll umfänglich ab.

Die Experten des Zentrums für Psychiatrie in Weinsberg hätten die Amoktat des 17-jährigen Tim K. zu keiner Zeit vorhersehen können oder gar müssen, urteilte das Landgericht. Zwar seien damals Behandlungsfehler gemacht worden, diese seien aber nicht mitursächlich für die Tat.

Der Vater des Amokläufers hatte gefordert, dass die Ärzte und Therapeuten die Hälfte des Schadenersatzes übernehmen, den er an Opfer, Hinterbliebene, die Stadt Winnenden und die Unfallkasse zahlen muss. Das Landgericht hatte diese Summe auf vier Millionen Euro taxiert.

Details der Behandlung und des Urteils

Bei ersten Gesprächen mit den Experten wenige Monate vor der Tat hatte der Jugendliche gesagt, er habe oft Gedanken „andere umbringen zu wollen“. Auch von „alle erschießen“ sei die Rede gewesen. Er wiederholte diese Absichten aber in späteren Gesprächen nicht.

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Ein Gutachter erkannte zwar Behandlungsfehler. So hätten die Therapeuten nach diesen Äußerungen nicht ausreichend nachgefragt. Auch nach dem Zugang zu Waffen hätte gefragt werden müssen. Zudem seien Tests falsch ausgewertet worden.

Allerdings gebe es keine denkbare Diagnose, die ein solches Verbrechen auch nur ahnen lasse. Ursache für die Tat sei allein der freie Zugang zu Waffen im Elternhaus des Täters.

Auch bei fehlerfreiem Verhalten der Ärzte hätten sie die Gefahr, die von dem 17-Jährigen ausging, nicht erkennen müssen, urteilte das Landgericht weiter. Konkrete Ankündigungen für die Tat habe es nicht gegeben. Auch seien die Tötungsgedanken in späteren Gesprächen verneint worden. Selbst wenn die Experten gewusst hätten, dass der Jugendliche freien Zugang zu Waffen hat, hätte dies „nicht den Rückschluss zugelassen, dass eine Amoktat im Raum steht“.

Über eine Berufung gegen das Urteil sei noch nicht entschieden, sagte der Anwalt des Vaters. Die Fehler der Ärzte seien „gravierend genug, um eine Verurteilung des Klinikums und seiner behandelnden Ärzte und Therapeuten zu begründen“.

Die Rolle des Vaters und vorherige Urteile

Der 17-jährige Tim K. hatte am 11. März 2009 an seiner ehemaligen Schule in Winnenden und auf der Flucht im nahe gelegenen Wendlingen 15 Menschen und sich selbst erschossen. Die Tatwaffe hatte sein Vater, ein Sportschütze, offen im Kleiderschrank liegen.

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Das Landgericht Stuttgart verurteilte ihn später wegen 15-facher fahrlässiger Tötung zu einer 18-monatigen Bewährungsstrafe. Das Gericht entschied auch, dass der Mann für Behandlungskosten von Opfern und Hinterbliebenen aufkommen muss.

Mehrere Schadenersatz- und Schmerzensgeldforderungen sind bereits beglichen: Zwei Millionen Euro flossen von der Versicherung des Vaters an mehr als 30 Opfer und Hinterbliebene, 400.000 Euro an die Stadt. Forderungen der Unfallkasse für Heilbehandlungen von Schülern, Eltern und Lehrern über knapp eine Million Euro stehen noch aus.

Ein Jahr und neun Monate Haft auf Bewährung lautete das erste Urteil des Landgerichts Stuttgart gegen den Vater. Sein Verteidiger entdeckte einen formalen Fehler, der ein zweites Verfahren nötig machte. Bei diesem gelang es dem Vater, seine Strafe um drei Monate zu senken. Seine erneute Revision blieb dann erfolglos.

Nach Ansicht von Opferanwalt Jens Rabe war die Verurteilung des Vaters im Strafprozess dennoch wegweisend für die Regelung der Geldforderungen gegen ihn. Ohne Prozess gab die Versicherung des ehemaligen Unternehmers rund zwei Millionen Euro. Das Gros seiner mehr als 30 Mandanten bekam dem Vernehmen nach Summen zwischen 20.000 und 25.000 Euro. Ansprüche der Stadt Winnenden beglich die Versicherung mit 400.000 Euro.

Die Sicht der Opfer

Gisela Mayer hat am 11. März 2009 ihre Tochter Nina verloren, die als Referendarin an der Realschule war. Nina starb kurz vor ihrem 25. Geburtstag. „Auch sieben Jahre danach tut es noch genauso weh“, sagt ihre Mutter. Die Prozesse gegen den Vater seien hart, aus heutiger Sicht aber hilfreich gewesen. Hätten sie doch dazu beigetragen, die Bluttat eines jungen Menschen ein Stück weit zu verstehen. Heute wisse sie: Es war „purer Zufall“, dass ihre Tochter Opfer wurde. Amokschütze Tim K. habe Nina genau ein Mal im Leben gesehen.

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Forensische Psychiatrie und Gutachten: Der Fall Reinhard Haller

Reinhard Haller (* 25. September 1951 in Mellau, Bregenzerwald) ist ein österreichischer Psychiater, Psychotherapeut und Sachbuchautor. Außerdem ist er als forensisch-psychiatrischer Gerichtsgutachter bekannt.

Von 1983 bis 2017 war Haller Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene in Frastanz, einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit Schwerpunkt Suchtkrankheiten, und der zugehörigen Drogenstationen „Carina“ und „Lukasfeld“ sowie der Beratungsstellen „Clean“. Seither ist er weiter als Gutachter, Berater, Autor und Vortragender tätig. Mehrere seiner Sachbücher zu psychologischen Themen standen über Monate an der Spitze der Sachbuch-Bestsellerlisten.

Von 1971 bis 1976 studierte Reinhard Haller Medizin und von 1977 bis 1983 absolvierte er die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie. 1994 folgte die Habilitation an der Universität Innsbruck zum Thema „Psychische Störung und Kriminalität“.

Tätigkeiten und Konzepte im Bereich Sucht und Kriminalität

  • Von 1990 bis 2019 war Haller Drogenbeauftragter der Vorarlberger Landesregierung. Er entwickelte mehrere Drogenkonzepte für das Land.
  • So fungierte er als Sachverständiger für Fragen der Suchtprävention, -behandlung und -rehabilitation im Schwerpunktbereich der illegalen Drogen.
  • Haller organisierte Aufbau und Weiterentwicklung des umfassenden Suchtbetreuungsnetzes in Vorarlberg.
  • Von 1990 bis 2007 leitete Haller das Universitätsinstitut für Suchtforschung der Psychiatrischen Universitätsklinik Innsbruck. Dort lehrt er bis heute.
  • 1990 gründete Haller mit der Werkstatt für Suchtprophylaxe („Supro“) die erste Suchtpräventionsstelle Österreichs. Kampagnen wie „Kinder stark machen“ oder „Mehr Spaß mit Maß“ gehen auf Haller zurück.
  • In den letzten Jahren, in denen Haller bei der „Supro“ war, schuf er ambulante und stationäre Behandlungskonzepte für Spielsüchtige, Internetsüchtige, Kaufsüchtige und Nikotinabhängige.
  • Haller ist verantwortlich für die postpromotionelle Zusatzausbildung „Forensische Psychiatrie“ der Österreichischen Ärztekammer.
  • Seit 2006 war Reinhard Haller Präsident der Neuen Kriminologischen Gesellschaft.
  • Haller wirkt im Leitungsgremium (Bruderschaftsrat) der Bruderschaft St. Christoph am Arlberg mit, welche unverschuldet in Not geratene Familien und Personen unterstützt.

1994 wurde Haller zum psychiatrischen Gutachter im Schwurgerichtsprozess gegen Jack Unterweger, dem ersten großen europäischen Prozess gegen einen mutmaßlichen sexuellen Serienmörder, bestellt. Haller stellte fest, dass Unterweger an keiner Geisteskrankheit litt, wohl aber am Syndrom des malignen Narzissmus. Unterweger, der 1976 wegen eines sadistischen Sexualmordes zu einer lebenslangen Haft verurteilt worden war, wurde 1990 vorzeitig entlassen und tötete danach laut Gerichtsurteil innerhalb von eineinhalb Jahren elf Prostituierte.

Der Fall Franz Fuchs

Der kriminologisch und psychiatrisch Aufsehen erregende Politattentäter Franz Fuchs verweigerte sich lange Zeit einer psychiatrischen Begutachtung. Diagnostisch stellte Haller in seinem Gutachten eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden, paranoiden, fanatischen und narzisstischen Anteilen fest. Haller wies in mehreren späteren Publikationen auf die verblüffende Ähnlichkeit zum Fall des "Unabombers" Theodore Kaczynski hin. Er beschrieb die Bombenattentate als einen einmaligen Fall der Kriminalgeschichte, in dem alle Rollen eines Verbrechens - vom Täter über die Ermittler bis zum Richter und Henker - von einer einzigen Person wahrgenommen werden.

Der Fall Heinrich Gross

Nach der Weigerung zahlreicher Sachverständiger, die Beurteilung des österreichischen Euthanasiearztes Heinrich Gross zu übernehmen, übernahm Haller das Gutachten. Er bejahte in einem ersten Gutachten dessen Zurechnungsfähigkeit und Einvernahmefähigkeit. Bei einer neuerlichen Untersuchung kurz vor der Verhandlung im März 2000 wies Haller auf die zwischenzeitlich eingetretene vaskuläre Demenz von Gross hin. Infolge dieses Gutachtens wurde das Verfahren gegen Heinrich Gross im Jahre 2000 nicht wieder aufgenommen.

Kritik an Gutachten

2008 geriet Haller wegen seines Gutachtens über den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher Milivoj Ašner in die Kritik. Tatsächlich belegte ein Gutachter, dass der unter Betreuung stehende Ašner öfters zur Mittagsmahlzeit dorthin geführt wurde. Die österreichische Justiz versuchte daraufhin, dem Eindruck der Befangenheit durch Beauftragung ausländischer Gutachter entgegenzutreten.

Hallers psychiatrische Diagnosen sind in der Presse gefragt, oft auch als „Ferndiagnose“. Er stellte mehrfach fest, dass es immer schwierig sei, Diagnosen ohne persönliche Untersuchung zu erstellen. Haller betont die Schwierigkeit, Letzteres festzustellen. Der Wahn, so Haller, sei gefährlicher als die Schizophrenie: Wer im Wahn lebe, falle nicht auf, weil er im Alltag normal erscheine.

Ausgewählte Werke von Reinhard Haller

  • Die Macht der Kränkung. Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis.
  • Das ganz normale Böse.
  • (Un)glück der Sucht. wie sie ihre Abhängigkeit besiegen.
  • Die Seele des Verbrechers. Motive, Impulse, Lebensbilder.

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