Bewegung als Therapiebaustein in der Psychiatrie: Eine Übersicht

Psychische Erkrankungen sind häufig mit einem deutlich reduzierten Aktivitätsniveau verbunden, was zu Inaktivitätsraten von 40-86 % führt. Dies ist problematisch, da Bewegung nicht nur positive Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit hat, sondern auch eine evidenzbasierte, kostengünstige und risikoarme Behandlungsoption für psychische Störungen darstellt.

Dennoch bleibt Bewegung in der psychiatrischen Versorgung unzureichend integriert, was unter anderem auf Barrieren bei Behandelnden und Patient:innen zurückzuführen ist. Ziel des Artikels ist es, Bewegung als festen Bestandteil der psychiatrischen Behandlung zu etablieren und die Anwendbarkeit in der Praxis zu erleichtern. Durch die Integration von Bewegung können nicht nur die Lebensqualität und psychische Gesundheit der Betroffenen verbessert, sondern auch gesundheitliche Disparitäten reduziert werden.

Epidemiologische Studien zeigen, dass Menschen mit psychischen Störungen ein geringeres Ausmaß an körperlicher Aktivität aufweisen als die Allgemeinbevölkerung. Die Lebenszeitprävalenz für psychische Störungen wird weltweit auf 29,2 % geschätzt. Dabei beträgt die körperliche Inaktivität im Durchschnitt 31 % für die weltweite, erwachsene Allgemeinbevölkerung und etwa 40-86 % für Menschen mit psychischen Störungen.

Die Initiative "Exercise is Medicine®"

Die weltweit anerkannte Gesundheitsinitiative „Exercise is Medicine® (EIM)“, koordiniert vom American College of Sports Medicine, zielt darauf ab, körperliche Aktivität in Gesundheitsversorgung und Prävention zu integrieren. Aktuell befindet sich das österreichische Zentrum für „EIM®“ als Kooperation zwischen der Universität Innsbruck und der Medizinischen Universität Innsbruck in der Gründungsphase.

Das Modellprojekt EIM® Tirol ist Teil der internationalen Gesundheitsinitiative und es werden konkrete Umsetzungsmöglichkeiten mit den regionalen Gegebenheiten am Standort erarbeitet. Dazu gehört unter anderem die Förderung der Gesundheit der österreichischen Bevölkerung durch die Integration von körperlicher Aktivität in die klinische Versorgung und Prävention. Hauptziele sind die routinemäßige Empfehlung von Bewegung, evidenzbasierte Programme zu etablieren und die Zusammenarbeit zwischen Akteur:innen im Gesundheitswesen zu fördern.

Lesen Sie auch: Informationen zur Psychiatrie

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen im rehabilitativen und präventiven Bereich ist essenziell, um „Bewegung als Medikament“ gezielt einzusetzen. Zentrale Rollen übernehmen dabei neben Physiotherapeut:innen die Berufsgruppe der Trainingstherapeut:innen. Trainingstherapeut:innen verfügen über eine fünfjährige universitäre Ausbildung in Sportwissenschaft mit Schwerpunkt Trainingstherapie, die medizinische, trainingswissenschaftliche, psychologische und kommunikationsbezogene Kompetenzen umfasst.

Sie arbeiten auf Basis ärztlicher Anordnung vorwiegend in Rehabilitationszentren, Kliniken oder ambulanten Einrichtungen und sind in interdisziplinäre Behandlungsteams eingebunden. Auch bei psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen belegen aktuelle Studien die Wirksamkeit trainingstherapeutischer Maßnahmen, weshalb eine systematische Integration dieser Berufsgruppe in der psychiatrischen Versorgung hoch relevant erscheint.

Sie fördern gezielt Bewegung und stimmen sich mit anderen Behandelnden ab, um Patient:innen eine gesundheitswirksame Bewegung in Rehabilitation und Prävention zu ermöglichen. Seit 2012 ist die Trainingstherapie gesetzlich verankert. Seit Januar 2025 können Trainingstherapeut:innen auch selbstständig arbeiten.

Herausforderungen und Lösungsansätze

Ärzt:innen und Personen anderer medizinischer Berufsgruppen wissen häufig sehr gut über die vielschichtigen Vorteile von körperlicher Aktivität Bescheid. Dennoch kann es aus mehreren Gründen schwerfallen, ein Gespräch zum Bewegungsverhalten der:des Patient:in zu führen.

Aktuell raten Behandelnde in Schlüsselrollen (z. B. Fachärzt:innen für Psychiatrie, klinische Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen) ihren Patient:innen dann zu mehr Bewegung, wenn die Behandelnden selbst körperliche Aktivität als bedeutsam erachten, eine hohe eigene (intrinsische) Motivation für Bewegung haben oder selbst körperlich aktiv sind.

Lesen Sie auch: Umfassende Inhalte zur Dualen Reihe Psychiatrie

Tatsächlich schwieriger als das Aussprechen einer Empfehlung erscheint es Behandelnden, ihre Patient:innen zu mehr körperlicher Aktivität zu motivieren. Die häufigsten Schwierigkeiten von Fachpersonen in der Bewerbung körperlicher Aktivität sind Überzeugungen, dass die Patient:innen Hindernisse zur Durchführung körperlicher Aktivität nicht überwinden könnten - also mangelndes Zutrauen, sowie fehlende Schulung bzw. wenig Übung darin, wie man körperliche Aktivität bei Personen mit psychischen Störungen fördern und unterstützen kann.

In der Tat erleben Patient:innen vielfach Hindernisse, die häufigsten sind Müdigkeit, körperliche Einschränkungen und fehlende Fitness, Unsicherheit nach draußen zu gehen, finanzielle Hindernisse und fehlende Begleitung. So finden sich in ambulanten Settings durchaus hohe Abbruchraten bei „verordneten“ Bewegungsprogrammen.

Ziel dieses Artikels ist es, körperliche Aktivität und Bewegung als effektiven Therapiebaustein, zum Beispiel in Form von Trainingstherapie, für die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen sichtbar zu machen. Der Begriff „körperliche Aktivität“ bezeichnet alle Bewegungen der Skelettmuskeln, die mit einem Energieverbrauch - höher als der Grundumsatz - einhergehen. „Bewegung“ ist eine Unterkategorie von körperlicher Aktivität, die geplant, strukturiert und wiederholt ist, um eine oder mehrere Komponenten der Fitness zu steigern oder aufrechtzuerhalten. „Sport“ ist eine strukturierte, zielgerichtete, wettbewerbsorientierte, spielerische Form der körperlichen Aktivität.

Die Evidenz für Bewegung als Medizin

Die Initiative „Exercise is Medicine®“ betont die Bedeutung von Bewegung als integralen Bestandteil der medizinischen Behandlung. Ein gleichnamiger Review-Artikel fasst die wissenschaftliche Evidenz zur Verschreibung von Bewegung als wirksame Therapie zusammen und zeigt deren Nutzen für verschiedene Erkrankungen auf.

Im Folgenden werden Krankheitsbilder gelistet, bei denen Bewegung als „Medizin“ präventive und rehabilitative Wirkungsbelege aufweist. Evidenzen werden für die psychiatrischen Erkrankungen Angststörungen, demenzielle Erkrankungen, Depression, Schizophrenie, Suchterkrankungen und Zwangsstörungen angeführt. Im Bereich der neurologischen Erkrankungen werden die Störungsbilder, Multiple Sklerose, Parkinson und Schlaganfall beleuchtet.

Lesen Sie auch: Leistungen der Asklepios Klinik Brandenburg

Ebenso wird auf krankheitsübergreifende Symptome von Schlafstörungen und auf chronischen Schmerzen im Sinne des Bio-Psycho-Sozialen Modells eingegangen.

Positive Effekte von Bewegung bei verschiedenen Erkrankungen

ErkrankungenMaßnahmenPositive EffekteReferenzen
Bewegungsapparat
  • Osteoarthritis
Bewegung allgemeinSchmerzlinderung und funktionale Verbesserung[32]
Bewegungsapparat
  • Osteoporose
Kraft‑, Ausdauer‑, Gleichgewichtstraining, funktionelles Fitness-TrainingVerbesserung der Knochendichte und von allgemeinen gesundheitsbezogenen Variablen[33, 34]
Bewegungsapparat
  • Rheumatische Arthritis
Ausdauer, Krafttraining, Bewegung im Wasser sowie „Mind-Body-Training“ (Yoga)Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit, Schmerzreduktion[35]
Kardiovaskuläre Erkrankungen
  • Arterielle Hypertonie
Isometrische Kraftübungen und kombiniertes Kraft- und AusdauertrainingVerbesserung des Ruhedrucks und der arteriellen Steifheit[36, 37]
Kardiovaskuläre Erkrankungen
  • Claudicatio Intermittens (Schaufensterkrankheit)
Bewegung allgemeinErhöhung der Geh-Zeit und -Distanz[38]
Kardiovaskuläre Erkrankungen
  • Herzinsuffizienz
Strukturierte BewegungsprogrammeSteigerung der körperlichen Belastbarkeit und der Lebensqualität[39]
Kardiovaskuläre Erkrankungen
  • Koronare Herzkrankheit
Bewegungsbasiertes RehabilitationstrainingRisikoreduktion für kardiovaskuläre Mortalität[40]
Metabolische Erkrankungen
  • Adipositas
Kombiniertes Trainings- und ErnährungsprogrammLangfristige Gewichtsabnahme[41]
Metabolische Erkrankungen
  • Diabetes Typ 1 und 2
Ausdauer- oder Krafttraining und die KombinationSteigerung der VO2Peak und Senkung des BMI und des LDL[42]
Metabolische Erkrankungen
  • Metabolisches Syndrom
Kombination aus Ausdauer- und KrafttrainingMinimierung der kardiovaskulären Risikoparameter[43]
Metabolische Erkrankungen
  • Polyzystisches Ovarialsyndrom
120 min intensive körperliche Aktivität/Woche, kurze EinheitenBesserung der kardiorespiratorischen Fitness, Körperzusammensetzung und Senkung der Insulinresistenz[44, 45]
Neurologische Erkrankungen
  • Multiple Sklerose
Körperliche Aktivität allgemeinSteigerung der aeroben Kapazität und Muskelkraft, Mobilität und Lebensqualität[49]
Neurologische Erkrankungen
  • Parkinson-Erkrankung
Körperliche Aktivität allgemeinSteigerung der motorischen Fertigkeit, Gehgeschwindigkeit, -distanz, Alltagsfähigkeiten[17]
Neurologische Erkrankungen
  • Schlaganfall
Herzkreislauftraining, allgemeine körperliche AktivitätVerbesserung der allgemeinen Fitness, Mobilität, Gleichgewicht, Gehfähigkeit, -geschwindigkeit, Lebensqualität[50]
Onkologische ErkrankungenAngeleitete BewegungsprogrammeVerbesserung der Lebensqualität, Reduktion von Ermüdbarkeit sowie Fatigue-Symptome[51]
Pulmonale Erkrankungen
  • Asthma bronchiale
Atemtraining, Ausdauertraining, YogaBelastbarkeit steigt[46]
Pulmonale Erkrankungen
  • COPD
Anleitung kombiniertes Ausdauer- und KrafttrainingVerbesserte funktionale Kapazität, Leistungsfähigkeit, Lebensqualität und Dysnpnoe[47]
Pulmonale Erkrankungen
  • Mukoviszidose
Mind. Bewegungstherapie

Bewegungstherapie zur Behandlung von Angst- und angstassoziierten Störungen wie posttraumatische Belastungsstörung können die Angstsymptomatik signifikant verringern, wobei die Verbesserung meist im kleinen bis mittleren Bereich liegt (geringe bis mittlere Effektstärke). Für chronische Rückenschmerzen finden sich Evidenzen für einen signifikant schmerzreduzierenden Effekt bei geringer Effektstärke. Bewegung wirkt möglicherweise auch bei anderen chronischen Schmerzen schmerzlindernd und ist eine Intervention mit wenigen schädlichen Nebenwirkungen, die sich zudem positiv auf die Lebensqualität auswirken kann.

Körperliche Aktivität reduziert das Risiko an Alzheimer Demenz und vaskulärer Demenz zu erkranken um durchschnittlich 28 %. Bei der Teilnahme an mehrwöchigen Bewegungsprogrammen konnten depressive Symptome mit mittlerer bis großer Effektstärke signifikant reduziert werden. Damit erweist sich Bewegung als Therapeutikum als ebenso wirksam wie pharmakologische, psychotherapeutische und kombinierte Ansätze bei der Reduktion depressiver Symptome.

Die größten Effektstärken wurden dabei insbesondere bei Patient:innen mit Major Depression und bei supervidierten Bewegungsinterventionen beobachtet. Aktuelle Übersichtsarbeiten betonen, dass Bewegung vor allem als ergänzende Maßnahme zur Psychotherapie oder medikamentösen Behandlung wirksam ist und so zu einer verbesserten Gesamteffektivität beitragen kann.

Hier finden sich vielversprechende Auswirkungen von Bewegung mit Evidenzen seit dem Jahr 1981: Reduktion der Negativ- und Positivsymptomatik, z. B. auditive Halluzinationen, Reduktion von Angst, Depressivität, Distress, Abnahme des Appetits, Lebensqualitätssteigerung, Verbesserung des Kurzzeitgedächtnisses, der Konzentration und Aufmerksamkeit sowie der somatischen Gesundheitsparameter (z. B. Gewicht, Blutfette, Insulin).

Einzelne Trainingseinheiten zeigen sich sehr effektiv in der Reduktion von akutem Substanzcraving. Trotz dieses Wissens über die gesundheitlichen Vorteile von Bewegung bleibt ein großer Teil der Bevölkerung körperlich zu wenig aktiv. Dieses Phänomen, bei dem Wissen nicht in Handeln umgesetzt wird, bezeichnen wir als „Knowledge-Action-Gap“.

Diese Lücke zwischen Wissen und Verhalten stellt eine erhebliche Herausforderung für das Gesundheitssystem dar, da insbesondere chronische Erkrankungen häufig mit wiederholtem ungesunden Verhalten verbunden sind. So kann es beispielsweise sein, dass Patient:innen bereits früher schon einmal versucht haben, sich mehr zu bewegen, negative Vorerfahrungen mit Sport gemacht oder ein anfängliches Unbehagen haben.

Im Gesundheitswesen zeigt sich dieser Gap, wenn Behandlungsrichtlinien nicht umgesetzt werden, obwohl deren Vorteile bekannt sind.

Motivierende Gesprächsführung

Die Motivierende Gesprächsführung ist eine patient:innenzentrierte Methode, die darauf abzielt, die intrinsische Motivation zur Verhaltensänderung zu stärken, indem die Ambivalenz des Gegenübers aufgelöst wird. Im Kern der Motivierenden Gesprächsführung steht die Kooperation zwischen Behandler:in und Patient:in, die auf Augenhöhe erfolgt.

Dabei geht es nicht darum, den/die Patient:in zu einer Verhaltensänderung zu drängen, sondern vielmehr darum, seine/ihre eigene Motivation und Ressourcen zu aktivieren. Akzeptanz und Wertschätzung spielen eine zentrale Rolle; die Meinungen und Verhaltensweisen des Gegenübers werden respektiert und mit Empathie gewürdigt, unabhängig von unserer eigenen Meinung als Behandler:in. Mitgefühl ist ebenfalls entscheidend, da es darum geht, das Wohl des/der Patient:inn in den Vordergrund zu stellen, ohne eigene Interessen zu verfolgen.

Ein wichtiger Aspekt der Motivierenden Gesprächsführung ist der sogenannte Change Talk, bei dem gezielt Aussagen des/der Patient:in zur Veränderung gefördert werden. Beispielsweise könnte der/die Behandler:in fragen: „Was müsste passieren, damit Sie in Erwägung ziehen, sich regelmäßig zu bewegen?“ oder „Welche Vorteile könnten Sie sehen, wenn Sie diesen Schritt gehen?“ Diese Fragen regen die Person dazu an, über ihre eigenen Gründe für eine Veränderung nachzudenken und diese auszusprechen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Veränderung tatsächlich umgesetzt wird.

Wenn ein:e Patient:in beispielsweise sagt: „Ich denke, es wäre gut für meine Gesundheit, wenn ich Sport mache,“ könnte der/die Behandler:in antworten: „Was hält Sie davon ab, diesen Schritt jetzt zu gehen?“ Dadurch wird die Motivation zur Veränderung weiter gestärkt.

tags: #psychiatrie #werneck #ärzte