Borderline-Persönlichkeitsstörung: Ein umfassender Überblick

In der Geschichte der psychiatrischen Diagnostik gab es immer wieder Fälle, die "an der Grenze" ("on the border") existierender diagnostischer Kriterien lagen. Der englische Psychiater C.H. Hughes prägte für sie erstmals in dem im Jahre 1884 erschienenen Artikel "Borderland Psychiatrics Records" den Begriff "borderland patients". Seither wurde die davon abgeleitete Bezeichnung "Borderline" in verschiedensten Publikationen und Arbeiten - stets für Beschwerdebilder, die nicht eindeutig klassifiziert werden konnten - verwendet, wenn diese phänomenologisch im Grenzbereich von Neurose, schwerer Charakterstörung und Psychose angesiedelt waren.

Nach einer Vielzahl von Arbeiten und anderen Bemühungen (speziell seien jene von Kernberg, Kety, Rosenthal, Wender, Gunderson und Kolb erwähnt), die Borderline-Störung besser zu klassifizieren, gilt sie heute zu den empirisch am besten erforschten Störungsbildern, wobei als Begriffsebenen je nach Ausprägung und Dauer der Störung das Borderline Syndrom, die Borderline-Persönlichkeit und der Borderline-Zustand unterschieden werden. Während bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung davon ausgegangen wird, dass es sich um eine dauerhafte Störung der Erlebnis- und Verhaltensweisen handelt, werden Borderline-Syndrom und Borderline-Zustand für kürzere Verlaufsperioden oder 'Schübe' der jeweiligen Symptomatik diagnostiziert.

Diagnostische Merkmale der Borderline-Störung

Gemäss den klinisch-diagnostischen Leitlinien aus Kap. V (F) der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation WHO ist im Bereich "Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen" der "Borderline-Typus" (F60.31) definiert, welcher zu den emotional instabilen, schweren Störungen der charakterlichen Konstitution und des Verhaltens gezählt wird, die mehrere Bereiche der Persönlichkeit betreffen. Das die ICD-10 - Diagnose prägende Konzept stammt ursprünglich aus der psychoanalytischen Forschung und beschreibt eine eigene Störungsgruppe im Übergangsbereich zwischen Neurose und Psychose.

Die Einordnung der Borderline-Störung als Persönlichkeitsstörung beruht unter anderem auf von Gunderson und Otto F. Kernberg definierten Kriterien, wobei von Kernberg auch die bedeutsame Konzeptualisierung der sog. Borderline-Persönlichkeits-Organisation unter strukturellen Gesichtspunkten stammt. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Persönlichkeitsstruktur, die aber nicht notwendigerweise zu den - unten im Detail beschriebenen - Störungen führen muss. Diesem Konzept nach schwanken die Betroffenen auch nicht zwischen Neurose und Psychose, da es sich dabei um stabile Strukturmerkmale der Persönlichkeit handelt, und deren Realitätsbezug und Selbstkontrolle nur unter extremen Belastungen oder regressionsfördernden Bedingungen gefährdet sind.

Zu den untenstehenden diagnostischen Merkmalen einer Borderline-Störung sei noch ergänzend erwähnt, dass nach Kernbergs Auffassung die Erfüllung der diagnostischen Kriterien allein nicht ausreicht, sondern auch eine Ich-Störung (z.B. mangelhafte Angsttoleranz und/oder Impulskontrolle) vorliegen muss, damit von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gesprochen werden kann.

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Gemäss der Kategorisierung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV, Stand 1994) gehört Borderline zu den "dramatisch, emotional oder launenhaften" und damit zu den so genannten "emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen". Dieses Konzept stammt ursprünglich aus der psychiatrischen Forschung und beschrieb Randphänomene im Grenzbereich zu den schizophrenen Störungsbildern. Heute ist es von diesen diagnostisch klar abgegrenzt: die früher fallweise diagnostizierte "Borderline-Schizophrenie" (die sich auch im ICD-10 mit dem Überbegriff "schizotype Störung" als F21 codiert findet) wird ab dem DSM-III unter dem Begriff der schizotypischen Persönlichkeitsstörung (301.22, 301.20) beschrieben. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (301.83) dagegen wird in DSM-III und IV sowohl von ihr als auch der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (301.81) klar unterschieden.

Unter Zugrundelegung dieser beiden, heute etablierten Diagnoseschemata lässt sich folgendes über die Charakteristika von Borderline-Störungen sagen: die betreffenden Personen neigen zu starken Stimmungsschwankungen (von quälender Angst und Verzweiflungsgefühlen bis hin zu zorniger Erregung), deren Intensität mitunter soweit gehen kann, dass Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen ausagiert werden. Von aussen werden Borderline-Patienten deshalb häufig als unberechenbar erlebt.

Beim Vorausplanen haben sie Schwierigkeiten (phasenweise wird dies durch viel Planungsaktivität zu kompensieren versucht), und beim Ausbrechen intensiven Ärgers kann es fallweise zu explosivem, in Einzelfällen sogar gewalttätigem Verhalten kommen. Oft richten die Betroffenen ihre aggressiven Impulse aber jedoch gegen sich selbst statt gegen andere - Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist ein Symptom, das verhältnismäßig oft kombiniert mit einer Borderline-Störung auftritt.

Das eigene Selbstbild, die persönlichen Ziele und inneren Präferenzen (einschliesslich der sexuellen) sind meist unklar und gestört. Es fällt den Betroffenen schwer, Entscheidungen zu treffen oder ihr Leben so zu planen, dass sie sich auf ihren selbst gewählten Pfaden dauerhaft sicher fühlen und diese längerfristig verfolgen können. So empfinden sie oft auch ein chronisches Gefühl innerer Leere, unbestimmter Angst oder Traurigkeit. Ihre Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen kann zu wiederholten emotionalen Krisen mit übermäßigen Anstrengungen, nicht verlassen zu werden, führen, und mit Suiziddrohungen oder - siehe oben - selbstschädigenden Handlungen (die aber auch ohne äusserlich erkennbare Auslöser vorkommen können) einhergehen.

Beziehungspartner erleben mit den Betroffenen oft "Heiss-Kalt-Duschen" - ein sich wiederholendes Wechselspiel zwischen Phasen großer Leidenschaft, Nähe und sehnsüchtiger Bindung auf der einen, und harschen Zurückweisungen, Rückzügen und energiezehrenden Konflikten auf der anderen Seite. Der Beginn der Symptomatik wird meist im frühen Erwachsenenalter festgestellt. Früher getroffene Diagnosen haben sich als zu unsicher herausgestellt und werden heute unter dem Titel "Borderline" nur mehr selten ausgesprochen.

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Symptome im Überblick

Wenn mindestens 5 der folgenden Kriterien auf eine Person zutreffen, besteht Verdacht auf Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung:

  • instabile, aber auch intensive zwischenmenschliche Beziehungen (Wechsel zwischen extremer Überidealisierung und Entwertung)
  • Impulsivität in mindestens 2 potentiell selbstschädigenden Bereichen wie z.B. Verschwendung von Geld, Kleptomanie, Essstörungen, Sex, Substanzmissbrauch, Glücksspiel, leichtsinniges Fahren,..
  • Instabilität im Gefühlsbereich, z. B. ausgeprägte Stimmungsänderungen, überstarke emotionale Reaktionen, stark depressiven Phasen, Phasen starker Reizbarkeit oder Angst (mit Dauer von einigen Stunden bis wenigen Tagen)
  • übermässige, starke Wut oder Unfähigkeit, die Wut zu kontrollieren: häufige Wutausbrüche, körperliche Auseinandersetzungen u.dgl.
  • wiederholte Selbstmorddrohungen/-versuche oder Selbstverletzungen
  • Fehlen eines klaren Ichidentitätsgefühls mit Unsicherheit in Bereichen wie z.B. dem eigenen Selbstbild, Empfindungsstörungen, sexueller Orientierung, langfristigen Zielen, Art der Freunde und Partner, persönlichen Wertvorstellungen,..
  • chronische Gefühl von Leere oder Langeweile
  • verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vorgestelltes Alleinsein zu verhindern
  • vorübergehende, stressabhängige paranoide Phantasien oder schwere dissoziative Symptome (Kriterien ab DSM III, 1983 [301.83] sowie ab ICD-10, 1991; das zuletzt angeführte Item wurde als Ergänzung des DSM III in den DSM IV von 1994, 1996 aufgenommen.)

Häufige Nebenmerkmale:

  • schwere Regressionen nach therapeutischen Sitzungen oder Unsicherheit über den Therapieverlauf, "spontan entschiedene" Therapieabbrüche, unterbrochene Ausbildungen, Schulabbrüche kurz vor dem Abschluss u.dgl.
  • psychose-ähnliche Symptome unter Stress (Gefühl des "Überflutet-werdens", Depressionen, Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Empfindungsstörungen,..)
  • Sicherheitsgefühl kann eher in losen Beziehungen als in festen zwischenmenschlichen Beziehungen gefunden werden (sich ständig ändernder Freundeskreis)
  • Suizide oder Suizidversuche in persönlichen Krisen oder bei gleichzeitigen substanzbezogenen Süchten (zB. Drogenkonsum)
  • wiederkehrende Verluste der Arbeitsstelle
  • zerbrochene Ehen
  • in der persönlichen Geschichte finden sich oft physischer und/oder sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, Feindseligkeit, frühe Verluste oder Trennung von den Eltern (gem. DSM IV)

Häufig gemeinsam mit oder in Folge der Borderline-Symptomatik auftretend:

  • emotionales Ungleichgewicht, extreme Stimmungsschwankungen ("affektive Störungen")
  • substanzbezogene Störungen (zB. Drogenabhängigkeit)
  • Essstörungen
  • posttraumatische Stressstörungen
  • Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität (ADHS)
  • andere Persönlichkeitsstörungen
  • kurzfristige psychotische Episoden (z.B. Störung der Realitätsprüfung oder Wahrnehmungsstörungen), speziell unter Einfluss von Alkohol und anderen Drogen, unter persönlichem Druck, mitunter auch im Rahmen von Therapiestunden etc. Derartige Phasen "..klingen jedoch bei planvollem therapeutischem meist binnen kurzer Zeit wieder ab" (Otto F. Kernberg, "Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus", 1978, Kap.9, S.35)
  • spezifische Formen der Abwehr wie z.B. projektive Identifizierung (unbewusst wird bei Bezugspersonen das Verhalten ausgelöst, das auf sie projiziert wird), Neigung zu Verleugnung, Verdrängung und Ausblendung, Aufspaltung von Bezugspersonen in "gut" und "böse" (die dann entweder idealist oder entwertet werden) etc.
  • aufgrund der meist starken Verzerrung der zwischenmenschlichen Interaktion Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Fertigkeiten wie Diskretion, Taktgefühl, Einfühlungsvermögen und Selbstreflexion

Nur die wenigsten Betroffenen allerdings leiden unter allen Symptomen, die Symptome können darüber hinaus unterschiedliche Ausprägungen annehmen.

Vorsicht: Eine Diagnose setzt eine entsprechende Ausbildung, zu der auch klinische Erfahrung gehört, voraus. Die oben angeführten Kriterien sollen lediglich eine Übersicht über häufige Symptome von Borderline-Persönlichkeitsstörungen vermitteln. Im Verdachtsfall ist zur genauen Bestimmung der vorliegenden Störung unbedingt eine differentialdiagnostische Abgrenzung durch einen Psychiater, Psychologen oder erfahrenen Psychotherapeuten vorzunehmen - auch, um ggf. einer Verstärkung der Symptomatik möglichst frühzeitig entgegenwirken zu können.

Ursachen, Entstehung und Verlauf

Heute wird vor allem das multifaktoriale Modell von Zanaraini & Frankenberg herangezogen, um die Entstehung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen zu erklären. Demnach bedarf es dem kombinierten Auftreten bzw. Vorhandensein mehrerer Risikofaktoren, um BPS ausbrechen zu lassen. So ist diese Störung letztlich meist das Produkt einer komplexen Mischung von angeborenem Temperament, schwierigen und kaum verarbeitbaren Kindheitserfahrungen und relativ subtilen Formen neurologischer und/oder biochemischer Dysfunktionen (welche wiederum die Folge der o.e. Kindheitserfahrungen oder "angeborener" (genetisch vererbter) Anfälligkeit sein können).

Im wesentlichen ist demnach also das Zusammenspiel von 3 Faktoren erforderlich, um eine Borderline-Störung ausbrechen zu lassen:

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  1. ein Umweltfaktor (im weitesten Sinne traumatische Kindheitserfahrungen)
  2. ein konstitutioneller Faktor (z.B. familiäre Neigung zu psychi(atri)schen Störungen, neurologische Dysfunktionen, temperamentsbedingte Vulnerabilität
  3. ein Triggering-Faktor (Auslöser) wie z.B. starker Stress (oder andere, u.U. auch zunächst undramatisch erscheinende Auslöser) oder ein Zusammenspiel von a) und b)

Zur Häufigkeit des Auftretens von Borderline-Störungen existiert eine Vielzahl von Erhebungen und Arbeiten. Aufgrund der unterschiedlichen Befragungsmethoden, vor allem aber der diagnostischen Richtlinien schwankt die ermittelte Häufigkeit der Erkrankung in der Bevölkerung zwischen 0,2% und 2%. 19,5% der ermittelten Borderliner bedurften einer stationär psychiatrischen Behandlung (in der Gesamtbevölkerung sind dies nur 0,9%!). Das oftmals kombinierte Auftreten von Borderline- mit anderen Persönlichkeitsstörungen führt zu einem ebenso überdurchschnittlichen, bis zu 40%igen Anteil von Borderline-Persönlichkeitsstrukturen in psychiatrischen Anstalten.

Borderliner tendieren zu einem Leben in der Stadt, haben ebenso häufig einen höheren Schulabschluss wie der Bevölkerungs-Gesamtdurchschnitt, jedoch einen niedrigeren sozioökonomischen Status, sind überdurchschnittlich häufig geschieden bzw. vom Partner getrennt lebend, aber insgesamt seltener verheiratet. Das Erkrankungsrisiko wird in der Fachliteratur für Frauen größer als für Männer angegeben, wie die folgende Tabelle zeigt. Möglicherweise ist dies durch die zu vermutende Rolle von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung hinsichtlich der Ausbildung der Störung zu erklären.

Der Verlauf der Erkrankung wird als deutlich günstiger eingeschätzt als der der Schizophrenie - nach stationären Intensivtherapien konnte nach ca. 1 Jahr nach Stone, Stone und Hurt 1987 bei 42% der PatientInnen die Gesundheit wiedererlangt werden, bei 30,2% war immerhin ein guter Verlauf möglich. Die Suizidrate dagegen ist im Vergleich zu der der Schizophrenie bedeutend höher: sie wird mit bis zu 9,5% angegeben (Schizophrenie: 1%), auch die Suizidversuche sind mit (wieder je nach Untersuchung) 49-75% überdurchschnittlich häufig.

Borderliner Gesamtpopulation
Anteil der Frauen 73,2 % 52,2 %
stürmische Ehebeziehungen 50 % 29,9 %
körperliche Behinderung 7,8 % 0,3 %
Arbeitsplatzprobleme 31,1 % 21,1
Alkoholprobleme 57,1 % 17,6 %
Drogenprobleme 48,1 % 22,2 %
sexuelle Probleme 30,7 % 4,3 %
antisoziales Verhalten 16,3 % 18,1 %

(Quelle: Adelheid Kühn, "Borderline-Persönlichkeitsstörung", 05/2001)

Der Verlauf der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist unterschiedlich, was sich auch in der Literatur über die Therapie der Störung niederschlägt. Die grösste Übereinstimmung bei den meisten Betroffenen dürfte jedoch im Beginn - chronischer Instabilität im frühen Erwachsenenalter - bestehen, häufig gefolgt von Episoden schwerer affektiver und impulsiver Unkontrolliertheit. Ebenso häufen sich Inanspruchnahmen des Gesundheitssystems aus Gründen, die im Zusammenhang mit der oben erwähnten Symptomatik stehen.

Die Phase grösster Stabilität liegt zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr, den meisten Betroffenen gelingt es hier, in ihrem Leben zumindest grundlegende Stabilität zu erreichen, was Beruf und Privatleben betrifft. Frühestmögliche Erkennung ebenso wie ein frühestmöglicher Beginn mit therapeutischen Massnahmen haben sich als essentiell für die Therapie von Borderline erwiesen. Es ist heute möglich, der Symptomatik durch Psychotherapie (Verh...

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