Unter Open Science (OS) versteht man den Ansatz, “of making the content and process of producing evidence and claims transparent and accessible to others” (Munafò u. a. 2017). Dieser Ansatz hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem der bestimmenden Themen in allen Wissenschaftsdiziplinen entwickelt. Die Ursachen dafür liegen in drei eng miteinander verbundenen Faktoren: einem generellen Verständnis von Wissenschaft als einer Institution organisierter Kritik, den neuen, rasant wachsenden und sich verändernden Möglichkeiten und Herausforderungen der Technik und ethischen Aspekten.
Ramachandran, Bugbee, und Murphy (2021) definieren Open Science als “collaborative culture enabled by technology that empowers the open sharing of data, information, and knowledge within the scientific community and the wider public to accelerate scientific research and understanding.”
Wie Abbildung 2.1 zeigt, wird diese kollaborative Kultur von drei Facetten geprägt:
- der Forderung, dass die Ergebnisse von Forschung in Form von Publikationen (open access) oder Daten, Materialien und Code (open data) frei zugänglich gemacht werden sollen (Crüwell u. a. 2019, pp. 239-241);
- dem Anspruch, dass Forschungsergebnisse überprüfbar und nachvollziehbar gemacht werden müssen (Crüwell u. a.
Die Wesensmerkmale von Wissenschaft nach Merton
Robert K. Merton, ein US-amerikanischer Wissenschaftssoziologe, argumentierte, dass die Wissenschaft durch vier Wesensmerkmale gekennzeichnet sei.
- Das erste Wesensmerkmal nach Merton (1973, p. 270) ist der Universalismus von Wissenschaft. Der Gehalt wissenschaftlicher Behauptungen, so seine Überzeugung, hänge nicht von dem Prestige der Person ab, die diese äußert.
- Das zweite Wesensmerkmal von Wissenschaft ist die “common ownership of goods” (Merton 1973, p. 273). Substantielle wissenschaftliche Erkenntnisse sind selten bis nie das Ergebnis von Einzelnen, sondern immer das Produkt der Zusammenarbeit von mehreren. King (1995, p. 444) spricht daher auch zu Recht davon, dass die Politikwissenschaft ein “community enterprise” sei. Wissenschaftliche Erkenntnisse gehören damit auch nicht Einzelnen oder gewissen Institutionen (wie Universitäten oder Forschungseinrichtungen), sondern der Allgemeinheit (Edwards 2016, p. S70).
- Drittens war Merton (1973, p. 275-276) überzeugt, dass sich Wissenschaft durch Selbstlosigkeit bzw. Uneigennützigkeit (“disinterestedness”) auszeichne.
- Schlussendlich bezeichnete Merton (1973, p. 274) die Wissenschaft als ein System der “organized criticism”. Wissenschaft müsse als ein normatives System verstanden werden, das die Kritik einfordert und überhaupt erst ermöglicht (Schlitz 2018b, p. 1; Janz und Freese 2021, p. 305).
Nur durch die Selbstverpflichtung von Wissenschaft zur vollkommenen Transparenz (Dafoe 2014, p. 60), ist das Prinzip des Universalismus überhaupt aufrechterhaltbar und können Ergebnisse hinterfragt und kritisiert werden.
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Technische Entwicklungen und Herausforderungen
Open Science wird aber nicht nur durch diese vier Wesensmerkmale von Wissenschaft befördert. Es sind auch die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die neue Möglichkeiten aber auch Herausforderungen für den Wissenschaftsbetrieb bringen. Es ist daneben aber besonders der technische Fortschritt in der rasant steigenden Rechenleistung von Computern bei gleichzeitig sinkenden Kosten, der zu einem Wandel in allen Wissenschaftsdisziplinen und zu neuen Fragestellungen geführt hat (Lazer 2009; Grimmer 2015; Liu und Guo 2016; Salganik 2018, p.3; Qui, May Chan, und Chan 2018). Begleitet wird dieser Wandel durch das Aufkommen neuer (digitaler) Daten, die noch dazu in bisher kaum vorstellbarer Größe vorhanden und zugänglich sind - so genannter “big data” (Jagadish 2015). Dieser “computational turn” der Wissenschaft hat mittlerweile auch die Sozial- (Lazer 2009) sowie die Geistes- und Kulturwissenschaften (Berry 2011) erreicht und zu einem Wandel des Forschens in diesen Bereichen geführt.
Das heißt also, dass die Forderung Mertons, wonach Wissenschaft als Gemeinschaftsunternehmen zu verstehen sei, das auf der permanenten Selbstkritik fußt, durch die technischen Entwicklungen einerseits erst ermöglicht wird. Das zeigt sich schlussendlich auch in der dritten Entwicklung, die ethische Aspekte in die Debatte einbrachte und Open Science zum Durchbruch verhalf.
Ethische Aspekte und Replikationskrise
Dazu gehört zunächst die Kritik an dem Geschäftsmodell, das das wissenschaftliche Publizieren derzeit beherrscht. Die Forschung an den Universitäten und Forschungseinrichtungen wird vielerorts überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanziert. Wissenschafter:innen übermitteln die Ergebnisse ihrer Forschung in Form von Publikationen (Artikel oder Bücher) unentgeldlich an Journals und Verlage. Journals und Verlage veröffentlichen diese Beiträge und verkaufen das finale “Produkt” (entweder in gedruckter Form oder zunehmend mehr über digitale Lizenzen) wiederum an die Universitäten und Forschungseinrichtungen, die dafür hohe Geldsummen investieren müssen. Dieses Modell ist aus ethischer Sicht nicht vertretbar, weil es die Prinzipien des Universalimus bzw. der “common ownership of goods” verletzt. Nur ein kleiner und privilegierter Teil der Menschheit hat damit ungehindert Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Neben der Kritik an diesem Geschäftsmodell war es aber vor allem die Beobachtung über alle Wissenschaftsdisziplinen hinweg, dass viele wissenschaftliche Erkenntnisse oft einer genauen Überprüfung nicht standhielten oder erst gar nicht überprüfbar waren, und damit die betreffenden Disziplinen in eine Legitimationskrise brachten. Diese sogenannten “Replikationskrisen” betrafen nahezu alle Disziplinen, von den Natur- und Lebenswissenschaften (Ioannidis 2005; Prinz, Schlange, und Asadullah 2011), über die Psychologie (Open Science Collaboration 2015; Anderson und Maxwell 2017; Lilienfeld 2017) und Wirtschaftswissenschaften (Camerer u. a. 2016) bis hin zu den Sozialwissenschaften (Camerer u. a. 2018). Auch in der Politikwissenschaft (Graham u. a. 2023; Janz und Freese 2021, p. 305) wurde diese Problematik offenkundig und zwar sowohl bei quantitativ ausgerichteten Studien als auch bei jenen, die auf ein qualitatives Forschungsdesign setzen (Rohlfing u. a.
Sehr anschaulich wird diese Problematik am Beispiel einer Studie von Breznau u. a. (2022). Dabei wurden 161 Forscher:innen in 73 Forschungsteams gebeten, unabhängig von einander die Frage zu untersuchen, welchen Zusammenhang es zwischen Immigration einerseits und der öffentlichen Meinung zu staatlichen Sozialprogrammen andererseits gibt. Alle Forscher:innen arbeiteten dabei mit den gleichen “cross-country survey data”. Die Ergebnisse reichten von “large negative effects” (Immigration reduziert die positive Einstellung der Bevölkerung zu staatlichen Sozialprogrammen) bis hin zu “large positive effects” (Breznau u. a. 2022, p. 1).
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Um diesem Problem zu begegnen, wird daher gefordert, mehr “Metascience” (Maxwell, Lau, und Howard 2018; Schooler 2014) zu betreiben, also zu erforschen, wie Wissenschaft überhaupt betrieben wird.1 Daneben wird auch der Ruf nach der “pre-registration” (Shrout und Rodgers 2018) von Forschungsvorhaben immer lauter. Damit ist die Anmeldung von Forschungsprojekten und der Übermittlung von Forschungsdesigns gemeint, bevor diese tatsächlich umgesetzt werden, um die nachträgliche Manipulation von Datenerhebung und -auswertung bzw.
Somit wird letztendlich gefordert, dass man sich wieder stärker auf Mertons Wesensmerkmale von Wissenschaft konzentriert und ihnen folgt. Genau deshalb braucht es Open Science.
Vorteile von Open Science
Vor diesem Hintergrund fordert die Open Science Bewegung, alle Phasen eines Forschungsprozesses transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Alle Ergebnisse von Forschung, sowie die ihr zugrundeliegenden Daten und Methoden, sollen offen und frei verfügbar gemacht werden.
Als ersten Vorteil von Open Science wird die Stärkung des Prinzips der Universalität genannt (Schlitz 2018a, p. i). Damit wird der Zugang zu Forschungsergebnissen für arm und reich wieder möglich (BOAI 2002) und ein Gegenmodell zur Monetarisierung von Forschungsergebnissen präsentiert (Schlitz 2018a, p. i). Open Science sorgt damit für ein Mehr an Inklusion (Rinke und Wuttke 2021, pp. 281-282). Mehr Menschen können an den Ergebnisse von Wissenschaft teilhaben bzw. Forschungsergebnisse kommen mit Hilfe von Open Science aber nicht nur schneller ans Licht der Welt, sondern auch deren Qualität steigt (Engzell und Rohrer 2021, p. 300; Lupia 2021, p. 301).
Forderungen im Zuge des Wandels hin zu Open Science
Um diesen Mehrwert von Open Science auch wirklich generieren zu können, wird ein Bündel von Forderungen gestellt, die im Zuge des Wandels hin zu OS umgesetzt werden sollen.
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- Die erste und grundlegendste dieser Forderungen ist der Anspruch, dass Forschungsergebnisse von Grund auf offen und frei verfügbar sein sollen, das heißt also “open access by default” (EOSC 2017, p. 1). Der freie Zugang zu Forschungsergebnissen muss somit nicht erst argumentiert werden, sondern es kommt zu einer Umkehr der Logik.
- Dazu braucht es zweitens die Gründung neuer und den Wandel bereits bestehender Zeitschriften zu Open Access Journals (BOAI 2002). Nur wenn Wissenschafter:innen Qualitätsjournals zur Veröffentlichung zur Verfügung haben, die nach dem Prinzip von Open Science organisiert sind, kann die Transformation gelingen. Diesen Schritt hat die Österreichische Gesellschaft für Politikwissenschaft (ÖGPW) bereits vor einigen Jahren unternommen und ihre im Web-of-Science indizierte Zeitschrift - die Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) - mit Hilfe einer Förderung des Wissenschaftsfonds FWF zur Open Access Zeitschrift gemacht.
- Drittens wird die Etablierung einer “common culture of data-stewardship” gefordert. Jede Phase eines Forschungsprozesses und jede Art von Output von Forschung (auch Zwischenergebnisse und Methoden bzw. Code) sollen transparent, frei und öffentlich zugänglich gemacht werden. Es geht als nicht nur um Bücher oder Artikel, sondern auch um die zugrundeliegenden Daten; die Wege und Tools der Datenerhebung und -auswertung; die Software und den Code, der dafür benutzt wurde; sowie Leitfäden und Kodierschema, die für den Forschungsprozess essentiell waren (EOSC 2017, p. 1; Wilkinson u. a. 2016, p. 1; Stratmann 2003, p. 2; The Declaration on Research Assessment 2012).
- Um diesen Kulturwandel zu schaffen, braucht es viertens Anreizsysteme im Wissenschaftsbetrieb, Schulungen von Wissenschafter:innen und die Aufnahme von Open Science in die Ausbildung von Studierenden sowie den Aufbau von Forschungsinfrastruktur, die den Anforderungen von Open Science gerecht wird. Um Anreizsysteme für Open Science im Wissenschaftsbetrieb zu schaffen, muss die Forschungsförderung schrittweise Fördernehmer:innen dazu verpflichten, die Ergebnisse ihrer geförderten Projekte nach den Prinzipien von Open Science frei zur Verfügung zu stellen. Mit Hilfe des Plan S (cOAlitionS 2018) ist das innerhalb Europas schon auf den Weg gebracht worden. Aber auch auf Ebene von Universitäten und ihren Organisationseinheiten müssen Anreizsysteme geschaffen werden.
Neben diesen Anreizsystemen braucht es die Aufnahme von Open Science in die Weiterbildungsprogramme auf universitärer Ebene, bzw. die Einbeziehung von Open Science als Grundprinzip in die Curricula von Studienprogrammen. Open Science muss zum selbstverständlichen Teil der (Aus)Bildung einer neuen Generation von Studierenden werden (EOSC 2017, p. i).
Schlussendlich braucht es für die Transformation die notwendige Forschungsinfrastruktur, um Open Science überhaupt betreiben zu können. Allen voran braucht es Forschungsdatenrepositorien und das Wissen um die Erstellung und Nutzung von Data Management Plans, sogenannten DMPs (EOSC 2017, p. 1). Während solche Repositorien in den Naturwissenschaften schon weit verbreitet sind (zB Zenodo welches von CERN, der europäischen Organisation für Kernforschung, betrieben wird), sind diese Systeme in den Geistes- und Kulturwissenschaften oder den Sozialwissenschaften2 erst im Aufbau. In Österreich gibt es aber mittlerweile mit ARCHE und GAMS bereits solche Systeme für die Geistes- und Kulturwissenschaften.
Neben dieser Forschungsdateninfrastruktur braucht es noch das Wissen um die Erstellung und Nutzung von DMPs. Daten Management Pläne sind Anleitungen, die am Beginn des Forschungsprozesses gemacht werden.
FAIR-Prinzipien
Um Forschungsdatenrepositorien und DMPs aber effizient und nachvollziehbar nutzen zu können, haben sich die von Wilkinson u. a. (2016) vorgeschlagenen FAIR-Prinzipien (siehe Tabelle 2.1) etabliert.
Prinzip | Beschreibung |
---|---|
Findable (Auffindbar) |
|
Accessible (Zugänglich) |
|
Interoperable (Interoperabel) |
|
Reusable (Wiederverwendbar) |
|
Das übergeordnete Ziel muss laut Wilkinson u. a. Auf diese Art und Weise wird es nämlich möglich, Forschungsergebnisse überprüfbar und nachvollziehbar zu machen. Damit können die Wesensmerkmale von Wissenschaft nach Merton auch wirklich eingehalten werden.
Unter “reproducibility” versteht man den erfolgreichen Versuch, mit Hilfe derselben Daten und derselben Analyseschritte (also zB des gleichen Codes) zu denselben Ergebnissen wie die Ausgangsstudie zu kommen (Engzell und Rohrer 2021, p. 297; Alvarez und Heuberger 2022, p. 149; Rohlfing u. a. 2021, p. 292). Die Alternative dazu ist “replicability”, bei der die Analyseschritte einer Studie verwendet werden, um Daten neu zu generieren und auszuwerten (Engzell und Rohrer 2021, p. 297; Alvarez und Heuberger 2022, p. 149; King 1995, p.451).
Aus einem solchen Replikationsstandard leitet sich allerdings auch die Notwendigkeit ab, dass die Praktiken des Speicherns und Tauschens von Forschungsdaten langfristig harmonisiert werden (Stall 2019, p. 28) bzw. dass es allgemein (oder zumindest Disziplinen-spezifisch) verbindliche Richtlinien gibt, wie man mit Forschungsdaten im weiteren Sinne umgehen soll (Alvarez und Heuberger 2022, p. 149; Shrout und Rodgers 2018, p. 407). Wie solche Richtlinien ausschauen könnten, hat Dafoe (2014, p. 64) am Beispiel von Forschung mit Hilfe statistischer Datenanalyse versucht darzulegen (siehe Tabelle 2.2).
- Der Code sollte einfach gestaltet und klar kommentiert und dokumentiert werden.
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