Stoffbezogene Suchterkrankungen gehen oft Hand in Hand mit anderen psychischen Störungen und Problemen (Komorbidität). Besonders häufig treten Depressionen und Sucht gemeinsam auf.
Neuesten Erhebungen zufolge leiden deutschlandweit pro Jahr rund 8 Prozent aller Menschen unter einer Depression. Dem stehen mehr als drei Millionen Menschen gegenüber, die einen riskanten Alkoholkonsum pflegen. Hinzu kommen noch einmal fast zweieinhalb Millionen Menschen, die von Medikamenten oder illegalen Drogen abhängig sind. Die Korrelation zwischen Depressionen und Suchterkrankungen ist auffällig.
Je nachdem, welche Statistik hinzugezogen wird, kann davon ausgegangen werden, dass zum Beispiel rund ein Viertel aller Männer sowie gut die Hälfte aller Frauen mit einer Alkoholsucht auch an einer Depression leidet. Dabei muss die Depression nicht zwangsläufig eine Folge der Abhängigkeit sein. Sehr häufig führen depressive Verstimmungen dazu, dass die Betreffenden überhaupt erst zu Alkohol oder anderen Drogen greifen. Umso wichtiger ist es, bei einer entsprechenden Doppeldiagnose „Depression und Sucht“ in einer Klinik gemeinsam zu behandeln.
Wie Alkohol Depressionen beeinflusst
Eine Depression ist eine affektive Störung, die mit einer fehlerhaften Ausschüttung von Neurotransmittern im Gehirn des Betroffenen einhergeht. Insbesondere Glückshormone wie Serotonin werden in zu geringem Umfang produziert und ausgeschüttet und führen zu einem mangelnden Antrieb, zunehmender Freudlosigkeit, einem sinkenden Selbstwertgefühl und einer verringerten Leistungsfähigkeit.
Alkohol und andere rauscherzeugende Substanzen verändern die Ausschüttung von Neurotransmittern und sorgen unter anderem dafür, dass mehr Serotonin produziert und freigesetzt wird. Patienten mit einer depressiven Erkrankung sind daher nach dem Genuss von Alkohol vermeintlich in der Lage, sich endlich wieder zu entspannen und Positives zu fühlen. Doch auch hier führt der Konsum des Suchtmittels in eine Sackgasse. Nach dem Abklingen der Wirkung der konsumierten Substanz wird die Produktion der Neurotransmitter wieder heruntergefahren und die Erregungsschwelle für das Belohnungszentrum ist plötzlich noch höher. Der Betroffene entwickelt eine depressive Verstimmung, da ihm nichts mehr Freude bereitet.
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In diesem Fall führt der fortlaufende Gebrauch großer Mengen Alkohol bzw. der Missbrauch psychoaktiver Medikamente und illegaler Rauschgifte zu einem Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn des Konsumenten. Da die Suchtmittel das Belohnungszentrum aktivieren und die dortige Erregungsschwelle immer weiter heraufsetzen, können „normale“ Erlebnisse irgendwann keine Glücksgefühle mehr hervorrufen.
Depressionen und Alkohol: Ein Teufelskreis
Depressionen und Alkohol stehen in einer wechselseitigen Beziehung. Das bedeutet, dass Depressionen sowohl eine Alkoholkrankheit begünstigen können, als auch umgekehrt ein langjähriger überhöhter Alkoholkonsum eine Depression auslösen kann. Mediziner sprechen in diesem Zusammenhang von einer Komorbidität.
Der Effekt scheint geradezu paradox. Auf der einen Seite werden alkoholhaltige Getränke wie eine Art Antidepressiva von Menschen konsumiert; auf der anderen Seite gehören depressive Störungen zu den häufigsten Folgeerkrankungen eines übermäßigen Alkoholkonsums. Bereits ein unregelmäßiger Alkoholkonsum kann dies verdeutlichen. Wer beispielsweise an einem netten Abend mit guten Freunden zu tief ins Glas geschaut hat, hat am nächsten Tag meist nicht nur mit Kopfschmerzen oder Übelkeit zu kämpfen, sondern fühlt sich darüber hinaus oftmals niedergeschlagen oder deprimiert. Das liegt daran, dass die Ausschüttung der Glückshormone unter der Einwirkung des Alkohols künstlich hochgehalten wurde.
Wenn eine depressive Störung vorliegt, kann der Konsum von Alkohol dafür sorgen, dass die Symptome sich verstärken und die negativen Gefühle sich ausweiten. Warum das so ist, lässt sich einfach erklären. Der Genuss alkoholischer Getränke hat - wie bereits erwähnt - einen direkten Einfluss auf die chemischen Vorgänge im Gehirn des Menschen und aktiviert das Belohnungszentrum, die entsprechenden Neurotransmitter auszuschütten. Sobald die Wirkung des Alkohols nachlässt, sinkt auch der Serotoninspiegel wieder ab. Dieser Zustand wird nun als noch erdrückender empfunden. Auf lange Sicht gerät der Neurotransmitter-Stoffwechsel aufgrund der Alkohol-Einwirkung völlig durcheinander. Eine Folge ist die sogenannte Toleranzwirkung, bei welcher der Betroffene immer mehr Alkohol trinken muss, um dieselben stimmungshebenden Effekte zu verspüren. Dies kann langfristig zu einem gefährlichen Alkoholmissbrauch und letztendlich in die Abhängigkeit führen.
Besonders gefährlich ist das gemeinsame Auftreten von Depression und Alkohol, wenn zusätzlich Antidepressiva konsumiert werden.
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Hin und wieder kann es vorkommen, dass Suchtkranke erfolgreich in einer Klinik oder im Rahmen eines teilstationären Angebots entziehen und erst im Anschluss an die Behandlung eine depressive Verstimmung entwickeln. Die Ursachen können in einer nicht gänzlich überwundenen psychischen Abhängigkeit und einem problematischen Umfeld liegen, die dem Suchtkranken die Abstinenz erschweren.
Hangxiety: Wenn der Kater auf die Psyche schlägt
Nach der Party ist vor der Party: Ach, das waren noch Zeiten in denen (übermäßiger) Alkoholgenuss - wenn überhaupt - nur zu körperlichen Verstimmungen am Tag danach führte. Gegen Kopf- und Magenschmerzen gibt es etliche Haus- und Schmerzmittelchen, die für rasche Abhilfe sorgen. Aber was, wenn sich der Kater auf die Psyche schlägt?
Der Begriff „Hangxiety“ stammt aus dem Englischen und setzt sich aus Wörtern „Hangover“ (Alkoholintoxikation, Kater) und „Anxiety" (innere Unruhe, Angstzustand) zusammen. Depressive Verstimmungen, Stimmungsschwankungen, Panikattacken, Weltschmerz, Überforderung und Angstgefühle sind Beschwerden beim Ausnüchtern gegen die man nicht so leicht ankommt wie gegen einen Brummschädel. Dazu gesellen sich häufig Schamgefühle, frei nach dem Motto: „Was habe ich unter Alkoholeinfluss bloß alles getan oder gesagt?“ All diese unangenehmen Gefühle, die „Hangxiety“ -Betroffene plagen, sind zumeist künstlich hervorgerufen - sprich sie betreffen auch psychisch stabile Personen.
Eines ist aber gewiss: je älter man wird, desto häufiger gesellen sich auch mentale Probleme zu den Auswirkungen eines Katers, der sich bereits nach geringen Mengen Alkohol einstellen kann. Mittlerweile ist es wissenschaftlich gut dokumentiert, dass die meisten von uns mit in der Lebensmitte die Fähigkeit verlieren, Alkohol effektiv zu verstoffwechseln. Das liegt unter anderem daran, dass mit der Zeit Antioxidantien abgebaut werden, die für die Entgiftungsarbeit der Leber wichtig sind. Mit zunehmendem Alter besitzen wir außerdem weniger Muskelmasse, was dazu führt, dass insgesamt weniger Wasser im Körper vorhanden ist, um die Auswirkungen des Alkohols zu verdünnen.
Auch GABA (Gamma-Aminobuttersäure), ein Neurotransmitter, der für seine beruhigende, enthemmende Wirkung bekannt ist, dürfte eine große Rolle bei „Hangxiety“ spielen. Leider sinkt der GABA-Spiegel sowohl bei intensivem Alkoholkonsum als auch mit zunehmendem Alter - wir verbrauchen unsere GABA-Reserven schneller, was zu einer Zunahme von Angst, Anspannung und Panikgefühlen führt. Das Gehirn versucht nun, das Gleichgewicht wiederherzustellen, indem es das GABA in einen anderen Neurotransmitter umwandelt: Glutamat. Und dieses lässt uns nach einer durchzechten Nacht frühmorgens nicht nur mit rasenden Gedanken und klopfendem Herzen aufwachen, es hindert uns auch daran wieder einzuschlafen. Und Schlafmangel ist ein Turbo-Booster für die „Hangxiety“.
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Frauen, vor allem solche in der Lebensmitte, sind besonders oft bzw. intensiv von „Hangxiety“ betroffen. Warum? Bei Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter spielt auch der Zeitpunkt des Zyklus eine Rolle, wie gut sie einen Kater verkraften - sie können Alkohol vor dem Eisprung, wenn die Hormone in Wallung sind, besser vertragen als in der Lutealphase (wenn die Blutung und damit das PMS näher rückt), da sich der sinkende Progesteronspiegel gegen Ende des Zyklus auf die Schlafqualität und Stimmung auswirkt.
Dieser Effekt scheint sich in den Wechseljahren noch zu verstärken - es ist also naheliegend, dass Frauen in der Perimenopause besonders anfällig für eine angstvolle Katerstimmung sind. Und dass mentale Probleme wie depressive Verstimmungen, Angstzustände und Gereiztheit ganz generell zu den Symptomen der Wechseljahre gehören, ist wissenschaftlich verbrieft - ein Rausch macht's nur noch schlimmer. Hinzukommt, dass ein ausgewachsener Kater im Alter immer länger dauert: Statt einem Tag der Selbstzerfleischung leiden manche Frauen oft bis zu einer Woche daran. Ihr Stimmungstief kann noch andauern, während die körperlichen Symptome bereits abgeklungen sind.
Tipps gegen „Hangxiety“? Besser nicht allein im Bett bleiben
Wer jetzt auf ein Allheilmittel gegen „Hangxiety“ wartet, den müssen wir leider enttäuschen. Den gängigen Anti-Kater-Tipps (gut essen, viel Wasser trinken, ausschlafen) zeigen keine Wirkung im Kampf gegen die psychischen Symptome. Wer an also häufig mit einem psychischen Hangover zu kämpfen hat, sollte Alkohol reduzieren oder ganz verzichten.
Bewegung ebenso wie soziale Kontakte können bei depressiven Störungen hilfreich sein, im akuten Fall von „Hangxiety“ kann ein Spaziergang mit der besten Freundin der Stimmung vielleicht wieder auf die Sprünge helfen - sicherlich besser als allein im Bett Panik zu schieben. Auch tiefes Atmen, Meditation und Yoga können dabei helfen, die alkoholbedingten Angstsymptome zu verringern.
Behandlung von Depressionen und Alkoholsucht
Eine Alkoholabhängigkeit, Medikamentensucht oder Drogenabhängigkeit sollten im Rahmen einer professionellen Behandlung niemals allein und von der Begleiterkrankung losgelöst therapiert werden. Gerade bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen ist es wichtig, dass eine Therapie auch diese Aspekte berücksichtigt. Andernfalls können die Erkrankungen schon kurze Zeit nach dem Ende der stationären Therapie einen Rückfall in die Sucht provozieren, weil die Patienten nicht wissen, wie sie mit Gefühlen von Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit und ähnlichen Symptomen umgehen sollen.
Empfehlenswert für die Entzugsbehandlung sind daher Kliniken für Doppeldiagnosen, die beide Krankheitsbilder - die Sucht und die psychische Erkrankung - parallel behandeln. Eine reine Suchtbehandlung wie sie in vielen öffentlichen Kliniken angeboten wird, ist dagegen eher ungeeignet, um Patienten mit einer Doppeldiagnose nachhaltig zu helfen.
Die Therapie rund um Suchterkrankung und Depression ist wie eine alleinige Suchtbehandlung von vier aufeinander folgenden Phasen geprägt. Der maßgebliche Unterschied besteht allerdings darin, dass die depressive Störung von Anfang an mitbehandelt und stets der Gesamtzusammenhang zwischen Sucht und Depression berücksichtigt wird.
Die Vor- oder Motivationsphase ist dem qualifizierten Entzug vorgelagert und beinhaltet die Krankheitseinsicht seitens des Patienten und den Willen, das Leben nachhaltig zu verbessern und auf das Suchtmittel zu verzichten. Sie ist der erste Schritt auf dem Weg in ein suchtfreies Leben.
Während der körperlichen Entgiftung wird der Körper vollständig vom Suchtmittel und seinen Metaboliten befreit; die Entzugssymptome können durch eine medikamentöse Behandlung gelindert werden. Die Entgiftung kann je nach Suchtmittel bis zu 3 Wochen dauern und wird kontinuierlich ärztlich überwacht. Gleichzeitig beginnt bereits die individuell auf die Bedürfnisse des Betroffenen abgestimmte Psychotherapie.
Nach der Entgiftung erfolgt in der Entwöhnungstherapie ein umfangreiches Therapieprogramm, im Zuge derer die Ursachen der Sucht ermittelt und bearbeitet werden und der Patient mittels Verhaltenstherapie neue Denkmuster und Verhaltensstrategien für ein Leben ohne Suchtmittel lernt. Gleichzeitig wird die Begleiterkrankung behandelt und ggf. mit nicht süchtig machenden Antidepressiva behandelt.
Nach dem körperlichen und psychischen Entzug erfolgt die Entwicklung individueller Rückfallpräventions- und Nachsorgekonzepte, die dem Patienten nach dem Aufenthalt in der Suchtklinik genügend Rückhalt und Verlässlichkeit bieten, um das in der Therapie Gelernte auch im Alltag erfolgreich anwenden zu können.
Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum, Burnout und Depression
Alkoholkranke Menschen sind erwiesenermaßen einem erhöhten Risiko für Burnout und Depression ausgesetzt. Gleichzeitig liegt ein Konnex aus umgekehrter Perspektive vor: Für depressive Personen fungiert Alkohol in vielen Fällen als Selbstmedikation, als Tranquilizer, als Spannungs- und Angstlöser. Kurzfristig wird diese Wirkung auch erzielt - die Betonung liegt hier jedoch auf „kurzfristig“.
Denn der Alkoholkonsum kann bei beginnenden oder latenten depressiven Verstimmungen in vielen Fällen rasch eine Eigendynamik entwickeln. Aufgrund der depressiogenen Eigenschaften verstärkt Alkohol sowohl Überlastungssyndrome als auch depressive Zustände mit der Folge, dass die Betroffenen in einen regelrechten „Teufelskreis“ geraten.
Wichtige Hinweise für Ärzte
Sowohl Mann als auch Musalek betonen dahingehend die Wichtigkeit eines gesteigerten Problembewusstseins von Seiten der Ärzte aller Fachdisziplinen. „Man sollte immer die Zahlenverteilungen vor Augen haben. Fünf Prozent der gesamten Bevölkerung sind alkoholkrank“, so Musalek. Außerdem können einige organmedizinische Marker auf Alkoholmissbrauch hinweisen. Dazu zählen erhöhte Leberenzyme, Leberzirrhose, Schädigungen des Gastrointestinaltrakts, Polyneuropathie, kardiovaskuläre Störungen (besonders die dilatative Kardiomyopathie) und das toxische Knochenödem.
Charakteristische Verdachtsmomente für Alkoholismus sind auch Hautveränderungen wie beispielsweise Rötungen oder Teleangiektasien auf Gesicht und Händen. Ein Arzt sollte vor allem im Zuge der Einstellung auf Antidepressiva eine Alkoholanamnese vornehmen. Denn Alkohol als depressiogene Substanz setzt die Wirkung eines Antidepressivums außer Kraft.
„Essentiell ist es allenfalls, dem Patienten neutral und in vollster Wertschätzung die Möglichkeit zu bieten, über sein Problem zu sprechen, indem man es als Arzt direkt anspricht“, betont Mann. Die meisten Patienten seien über diesen „Anstoß von außen“ erleichtert.
Fazit
Alkohol, der sogenannte „flüssige Mut“, ist eine Droge, und zwar keine sehr gute, denn er kehrt seine eigene Wirkung um - und zwar in zunehmendem Maße.