Marginalisierung und Exklusion im Psychotherapiesystem: Eine kritische Analyse

Durch die Einführung der Richtlinienpsychotherapie in Deutschland im Jahr 1998 wurde eine psychotherapeutische Regelversorgung etabliert. Dies kann zunächst als Fortschritt betrachtet werden, doch mit der Finanzierung über gesetzliche Krankenkassenleistungen wurde eine Systemlogik eingeführt, die bestimmten Prämissen unterliegt.

Die Behandlung ist ausschließlich von einer spezifischen ICD-Diagnose abhängig, alternative Behandlungsansätze sind aus der Regelversorgung systematisch ausgeschlossen. Effektivitätsnachweise sind strikt an RCT-Studien gekoppelt. Dadurch werden Patient_innen mit komplexen psychischen Problemlagen von der psychotherapeutischen Versorgung nur marginal erfasst.

Der Artikel arbeitet anhand von Beispielen aus Forschung und Praxis heraus, wie die an medizinische Paradigmen angelehnte Institutionalisierung der psychotherapeutischen Versorgung - insbesondere in Deutschland - zur Herausbildung systemischer Eigenlogiken führt, die Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse befördern.

Historische Perspektive und Wertewandel

In den 1960er- und 1970er-Jahren, die von einem gesellschaftlichen Wertewandel geprägt waren, entwickelte sich eine Psychotherapie, die als gesellschaftspolitische Kraft Positionen aufgriff, debattierte und weiterentwickelte. Die Erkenntnis, dass psychische Problemlagen in objektive gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden sind, wurde zahlreich erforscht, diskutiert und beschrieben (vgl. Kupfer et al. 2021). In dem sich dann herausbildenden neoliberalen Klima globalisierter Lebenswelten sind diese Forderungen und Inhalte hinter Aspekten wie Symptomorientierung und Effizienz verschwunden (ebenda). Um dem aktuellen Versorgungsbedarf entlang von Globalisierung, Diversifizierung und der Auflösung verlässlicher sozialer Strukturen nachzukommen, sind diese Forderungen jedoch aktueller als je zuvor.

Soziologische Betrachtungen zeigen, dass der Mensch im Zuge von Beschleunigungs‑, Digitalisierungs‑, Flexibilisierungs‑, Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprozessen aktuell mehr denn je mit Herausforderungen konfrontiert ist, die mit belastenden Veränderungen der Lebenswelt einhergehen (vgl. u. a. Giddens 2001 [1999]; Sennett 2010 [1998]). Diese gesellschaftlichen Veränderungen, die sich auf die Zugänge und die Zielgruppen der psychotherapeutischen Behandlung auswirken, werden gegenwärtig in der psychotherapeutischen Forschung und Praxis jedoch nur unzureichend berücksichtigt (Keupp 2021).

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Strukturelle Barrieren und fehlende Zugänge

So erhalten zahlreiche Personengruppen trotz hoher psychosozialer Belastungen aufgrund von strukturellen oder individuellen Barrieren immer noch keinen Zugang zu notwendigen psychotherapeutischen Behandlungen, wodurch die psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen und sozialen Exklusionsprozesse dieser Zielgruppen weiter ansteigen.

Aber nicht nur durch die Krankenkassenlogik „Krankheit - Therapie - Heilung“ ergeben sich Probleme. Darüber hinaus öffnet sich durch die öffentliche Finanzierung privatwirtschaftlicher Praxisinhaber_innen ein Tor zur Ökonomisierung der Versorgung von Patient_innen mit psychischen „Störungen“. So ist es mittlerweile nicht unüblich, dass fachfremde Betriebswirt_innen oder Jurist_innen Versorgungszentren gründen und Ärzt_innen sowie Psychotherapeut_innen gewinnorientiert für sich arbeiten lassen (Krombholz et al.

Um sich gegenüber medizinischen und psychopharmakologischen Behandlungsmethoden zu etablieren, orientiert sich die Psychotherapieforschung beim Nachweis der Kosteneffizienz und Behandlungswirksamkeit seit vielen Jahren verstärkt an naturwissenschaftlichen Kriterien und Evidenzbasierung (Lambert 2013). Dies widerspricht einer bedarfsgerechten Versorgung und trägt dazu bei, dass ein Teil der behandlungsbedürftigen Patient_innen systematisch aus der psychotherapeutischen Versorgung ausgeschlossen wird.

Wer also sind diese angesprochenen Randgruppen, die nicht in das Raster eines medizinischen Ansatzes passen? Im klinisch-sozialwissenschaftlichen Bereich hat sich dafür die Bezeichnung „hard to reach“ (Giertz et al. 2021) etabliert. Genauer betrachtet jedoch stoßen diese Klient_innen auf Barrieren im Hilfezugang und sind in diesem Sinne weniger „hard to reach“ als vielmehr „selten gehört“ (vgl. Schaefer et al. 2021) oder in „ethical loneliness“ (Stauffer 2015). Hard-to-reach-Klient_innen zeichnen sich häufig durch komplexe psychosoziale und existenzielle Problemlagen aus. Dadurch benötigen sie institutionsübergreifende, auf die Person ausgerichtete und zentrierte Hilfen.

Beispiele für marginalisierte Gruppen

Neben einer kritischen Analyse zur aktuellen psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland arbeiten die Autor_innen die Folgen dieser Entwicklung am Beispiel von gewaltbetroffenen Patient_innen und onkologischen Patient_innen heraus.

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Gewaltbetroffene Patient_innen

Obwohl Gewalt einen erheblichen Risikofaktor für langwierige gesundheitliche Probleme darstellt (Mosser 2018), sind die Hürden für die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Angebote durch betroffene Menschen vielfältig. Ein „epistemisches“ Problem, das den Zugang gewaltbetroffener Menschen in das Psychotherapiesystem erschwert, liegt in einem weitgehenden „Desinteresse“ der Formaldiagnostik für die Vorgeschichte potenzieller Patient_innen (Mosser und Schlingmann 2013).

Gewalterfahrungen (im Kindes- und Jugendalter) üben einen erheblichen Einfluss auf das Verhältnis der Betroffenen zu ihrer sozialen und institutionellen Umwelt aus (Andrade und Gahleitner 2020; Helming et al. 2011). Diese innerpsychischen Probleme aufseiten der Hilfesuchenden korrespondieren mit schwerwiegenden Strukturproblemen des Psychotherapiesystems, die sich u. a. in langen Wartezeiten, unzureichenden Stundenkontingenten und überfordernden Rahmenbedingungen (in wöchentlicher, pünktlicher Inanspruchnahme) manifestieren (UKASK 2019).

Die hier genannten Versorgungshürden haben auch mit der Frage zu tun, ob Gewalt als individualisierbares gesundheitliches Problem oder als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichverhältnisse betrachtet wird (Gebrande 2018).

Onkologische Patient_innen

Eine weitere, in der kassenfinanzierten Versorgungsstruktur nicht entsprechend repräsentierte Gruppe sind onkologische Patient_innen. Ziele einer umfassenden Versorgung von Krebspatient_innen sind zwar im „Nationalen Krebsplan“ (BMG 2021) sowie in den S3-Leitlinien zur Psychoonkologie (Beutel et al. 2014) präzise formuliert, doch scheitern diese regelmäßig an ihrer Umsetzung.

Um diese Lücke zu schließen, übernahmen vor allem die Krebsberatungsstellen Unterstützungsleistungen, die zuvor jedoch nicht über eine regelhafte Finanzierung verfügten, deren Leistungen aber seit 2021 anteilig von den Krankenkassen übernommen werden. Durch die Krankenkassenfinanzierung werden Leid und Belastungen in krankheitswertige Störungen transformiert, die es zu therapieren gilt.

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Eine psychoonkologische Perspektive wird somit in eine psychotherapeutische verwandelt - mit all den Implikationen, wie z. B. der Notwendigkeit, dass bei einer Krebserkrankung eine psychische Störung diagnostiziert werden muss, um eine Behandlung (keine Begleitung) durchführen zu können.

Systemtheoretische Betrachtung

Seit der Einführung des Psychotherapiegesetzes in Deutschland im Jahr 1998 lässt sich die Bildung einer Struktur beobachten, die als „Psychotherapiesystem“ bezeichnet, sich immer wieder neu reproduziert und daher unter systemtheoretischen Aspekten beschrieben werden kann. Sehr vereinfacht lässt sich sagen, dass die laufende Selbstreproduktion des Psychotherapiesystems immer auch Vergewisserungen darüber erzeugt, was „zum System gehört“ und was nicht.

Wesentliche, das heißt für die Selbstreproduktion grundlegende Elemente dieser dynamischen Systembildung sind die Psychotherapeutenkammern, die Krankenkassen und der gemeinsame Bundesausschuss. Die Identitätsbildung des Psychotherapiesystems erscheint als ein Prozess, in dem die Anlehnung an das Medizinsystem immer wieder nützliche Anschlussoperationen produziert - sowohl in Bezug auf seine ökonomischen Grundlagen als auch hinsichtlich seiner identitätsbezogenen Selbstvergewisserung (u. a. Psychotherapierichtlinien, Approbationsordnung, evidenzbasierte Studien).

Aufgrund der in diesem Beitrag berichteten Beobachtungen lässt sich die These formulieren, dass die Selbstreproduktion des Psychotherapiesystems nicht darauf angewiesen ist, sich aktiv und unter Aufbietung erheblicher Ressourcen gegenüber gesellschaftlich marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu öffnen, weil weder die ökonomischen Grundlagen dieses Systems noch die professionelle Selbstvergewisserung der Systemmitglieder darauf angewiesen sind, eine solche Öffnung voranzutreiben.

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