Oft werde ich gefragt, wie es sein kann, dass in liberalen Wohlstandsgesellschaften so viele Menschen psychische Störungen entwickeln. Bevor man sich die Frage in dieser Form stellt, muss man sich zunächst grundsätzlich fragen, wie es zur Entwicklung psychischer Erkrankungen kommt.
Wie entstehen psychische Erkrankungen?
Im Wesentlichen findet sich heute weithin etabliert, ein dem wissenschaftlichen Zeitgeist adäquates Interaktionsmodell mit multifaktoriellen Bedingungen. Ganz grob gesprochen, findet sich eine Wechselwirkung aus biologischen Grundlagen, psychologischen und sozialen Faktoren.
Biologisch-genetische Faktoren
Etwas detaillierter ausgearbeitet, ist davon auszugehen, dass biologisch-genetische Faktoren mit bedingend sind. So wissen wir heute, dass zahlreiche psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, aber auch Suchterkrankung und Schizophrenien vererbt sind. Es handelt sich hier aber nicht um einen eindeutigen Erbgang, wie in der Vererbung bestimmter Merkmale, wie z. B die Farbe der Augen oder Ähnliches.
Noch in den 80-er Jahren ist man davon ausgegangen, relativ bald die jeweiligen Gene für die jeweilige psychische Erkrankung festmachen zu können, davon sind wir heute weiter entfernt denn je. Das heißt, das Verständnis geht in die Richtung, dass biologisch-genetische Faktoren mit bedingend sind, dass biologisch-genetische Faktoren den Verlauf der Erkrankung beeinflussen, dass biologisch-genetische Faktoren als Krankmacher durch die Erkrankung selbst entstehen können (z. B. pathologische Alterationen von Stoffwechselsystemen im Gehirn).
Soziale Faktoren
Darüber hinaus sind soziale Faktoren wesentlich für die Entwicklung der Erkrankung, für das Aufrechterhalten des Verlaufes. Dieser Denkansatz findet sich mittlerweile nicht nur auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen, sondern auch auf der Ebene der somatischen Erkrankungen. Hier seien als Beispiel Herzkrankheiten angeführt, bei denen psychische-individuelle Faktoren eine wesentliche Rolle in der Ausprägung der Erkrankung und im Schweregrad der Erkrankung spielen und wo auf der anderen Seite natürlich auch ganz konkrete biologische Ursachen wie zum Beispiel entzündliche Veränderungen der Herzkranzgefäße eine sehr große Rolle spielen können, aber eben nicht die alleinige.
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Bei diesen Überlegungen ist natürlich zu berücksichtigen, dass das Individuum auf bestimmte Grundbedingungen und Rahmenfaktoren reagiert, das heißt das Individuum reagiert und versucht auszugleichen. Eine erhöhte Verletzbarkeit in eine bestimmte Richtung bei gegebenen Risikobedingungen führt zu einem Adaptationsprozess. Manchmal kann dieser erfolgreich sein, und es kommt nicht zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung, manchmal sehr wohl.
Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen
Wie diese Adaptationsvorgänge dann letztlich zum Erfolg führen, hängt maßgeblich davon ab, unter welchen Bedingungen Menschen leben bzw. Besondere Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen sind:
- Ein niedriger sozioökonomischer Status
- Schlechte Schulbildung der Eltern
- Schlechte Wohnverhältnisse
- Psychische Erkrankungen innerhalb der Familie (hier nicht im Sinne der genetischen Weitergabe, sondern im Sinne des Miterlebens der Erkrankung der Eltern)
- Schwerwiegende körperliche Erkrankungen der Eltern
- Pathogene Kommunikationsstrukturen mit ausgeprägten emotionalen Spannungen, die oft über lange Zeit (oft über Jahre und Jahrzehnte) bestehen
- Verluste von wichtigen Bezugspersonen
- Die Rolle der allein erziehenden Mutter ohne soziale Einbettung
- Geringer Altersunterschied zwischen Geschwistern, wenn dieser weniger als 1 ½ Jahre ist
Gesellschaftliche Entwicklungen und psychische Gesundheit
Eine ganz wesentliche, psychisch belastende, soziale Entwicklung dürfte darin liegen, dass sich die familiären Strukturen in unserer Gesellschaft völlig verändern. Die Entwicklung geht eindeutig hin zu immer weniger Kindern in den Familien. Der Anteil an Familien mit 3 und mehr Kindern liegt bereits deutlich unter 10%, Ehepaare ohne Kinder machen bereits fast 40% aus.
Oben wurde ausgeführt, dass aus Studien bekannt ist, dass die Rolle der allein erziehenden Mutter ohne soziales Netz tatsächlich ein Belastungsfaktor für die Entwicklung psychischer Erkrankungen darstellt, sowohl bei der Mutter als auch bei den Kindern. In Österreich fand sich im Jahr 2001 eine Anzahl von 252.900 allein erziehenden Müttern und 45.100 allein erziehenden Vätern. Das ist in Summe eine Anzahl von 300.000 Personen. Das Problempotential hier und die Auswirkungen für die Gesellschaft in der Zukunft sind gar nicht abschätzbar.
Erschwerend kommt noch hinzu, dass diese allein erziehenden Personen in aller Regel aus ökonomischen Zwängen berufstätig sind. So findet sich eine Frauenerwerbsquote bei den Alleinerzieherinnen mit Kindern unter 15 Jahren von 87%. Dies stellt eine unglaubliche Belastung für die allein erziehende Mutter dar, zum einen, um den Lebensalltag zu schaffen, die ökonomischen Grundlagen für das Überleben zu sichern, zum anderen in der ambivalenten Haltung leben zu müssen, bei den Kindern in der Erziehung nicht genügend präsent zu sein bzw.
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Neben diesen individuellen Bedingungen, die natürlich auch gesellschaftspolitisch mit bedingt sind, gibt es zahlreiche gesellschaftspolitische Entwicklungen und Faktoren, die wesentlich zur Entwicklung psychischer Störungen beitragen. Dazu gehören, und dies sei hier nur schlagwortartig aufgelistet, vor allem die Reizüberflutung durch Medien und die Sexualisierung der Gesellschaft. Es geht aber auch um das Erleben einer ohnmächtig machenden, überbordernden Bürokratisierung, es geht um die Schnelllebigkeit der Zeit, mit der wenige Personen fertig werden können.
Es geht aber natürlich auch um einen Säkularisierungsprozess, den Verlust an Werten ethisch-moralischer, aber natürlich auch religiöser Natur, was sicherlich Hand in Hand mit einer ausgeprägten Individualisierung der Gesellschaft geht. Es entsteht eine solipsistische Welthaltung, wo es nur mehr noch um die Befriedigung von Bedürfnissen im Sinne der Lustbarkeit geht. Diese Entwicklungen führen zum gesellschaftlichen Zerfall.
Gesellschaftliche Kosten und Auswirkungen
Gewalt, Kriminalität, Drogen sind nur einige Beispiele für die Folgen des gesellschaftlichen Zerfalls:
- Kriminalität (Schäden weltweit mehr als 1.000 Mrd. US-$ p. a.)
- Schmiergelder und Korruption verursachen ca. 3-5 Prozent der Wirtschaftskosten (weltweit etwa 1.000 Mrd. US-$)
- Alkohol (mehr als 600 Mrd. US-$ Umsatz p. a. Für Alkohol wird mehr ausgegeben als für Forschung. Schaden durch Alkohol ist höher als der Umsatz)
- Umweltzerstörung und Energieverschwendung: jährliche Zerstörung entspricht ca. 10% des Weltsozialprodukts (mehr als 2.800 Mrd. US-$ p. a. in 1996). Verschwendung: 80% aller fertigen Produkte werden nach einmaliger Benutzung weggeworfen, jährliche Rohstoff- und Energievergeudung weltweit mindest. 2.500 Mrd. US-$
- Ausgaben für Militär, innere und private Sicherheit
- Soziale Kosten (Streiks, Arbeitslosigkeit)
- Zerfall der Familien
- Gesundheitsschäden
- Psychische Störungen: 14 Prozent der Bevölkerung in den ökonomisch entwickelten Ländern sind psychisch schwer krank. Mindestens 25% der Patienten, die einen Arzt aufsuchen, leiden vorwiegend an psychischen Störungen. 60 Prozent der deutschen Führungskräfte leiden unter Neurosen. Angst verursacht in Deutschland jährliche Schäden von etwa 100 Mrd. DM (Mobbing etwa 30 Mrd. DM), weltweit mehr als 1.000 Mrd. US-$
- Krankheitskosten verursacht durch schlechte Wasserqualität, Schlafstörungen, Luftverunreinigungen, Lärm, Rauchen, Scheidungen, Medikamentenmissbrauch = ? US-$
- Informationsdefizite
Diese angesprochenen Faktoren sind geopolitisch betrachtet in der Ausprägung nicht überall gleich wirksam. Es gibt Länder, wie z. B. in Afrika, wo Hunger, Fehlernährung und Kriege eine ganz wesentliche Rolle spielen, was z. B. in Mitteleuropa keine große Rolle spielt.
Die viel gepriesene und heute standardmäßig geforderte „Flexibilisierung“ führt im individuellen Bereich zur Katastrophe. Das tief verwurzelte Sicherheitsbedürfnis aller wird immer seltener befriedigt. Man kann sich auf nichts mehr verlassen. Es gibt keine eindeutigen Karrieremodelle mehr. Der Lebensweg wird zum Lotteriespiel, da man sich auf nichts mehr verlassen kann.
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Diese Entwicklungen haben in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen. In der so genannten Wohlstandsgesellschaft finden sich Auswüchse aller Art, die als mögliche Ursachen letztlich natürlich im Sinne eines Mosaiks zum Ansteigen psychischer Erkrankungen führt.
Zunahme psychischer Erkrankungen?
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass immer mehr, und dafür gibt es Zahlen, Menschen die Diagnose einer psychischen Erkrankung erhalten und auch die Gesundheitssysteme zur Behandlung eben dieser Erkrankungen in Anspruch nehmen. Das kann damit zu tun haben, dass diese Krankheiten tatsächlich häufiger auftreten, aber auch damit, dass sie einfach häufiger erkannt und häufiger behandelt werden. Es wird möglicherweise, dies ist nur eine Vermutung, eine Mischung aus beidem sein.
Schwierig ist es epidemiologische Untersuchungen aus früheren Zeiten direkt mit den heutigen zu vergleichen. Dies deshalb, weil die Standards in der Erhebung völlig verschieden waren und daher eine direkte Vergleichbarkeit nur bedingt gegeben ist. Dennoch gibt es Versuche in dieser Richtung. Als Beispiel sei hier in der folgenden Grafik die Entwicklung hinsichtlich wesentlicher psychischer Erkrankungen über 10 Jahre dargestellt (Abbildung VI).
Völlig außer Zweifel steht die Zunahme an Erkrankungen aus dem Demenzkreis. Durch die Überalterung der Bevölkerung in den zivilisierten Staaten nehmen Alterserkrankungen generell zu und hier natürlich im Speziellen die Demenzen. So nimmt die Alzheimererkrankung dramatisch zu. Wenn man so will, ist auch diese Entwicklung eine gesellschaftlich bedingte, weil es durch die sozialen Rahmenfaktoren zu einer Zunahme der Lebenszeit gekommen ist und damit auch zur Entwicklung dementieller Erkrankungen.
Dies ist aber ein negativer Aspekt aus einer prinzipiell positiven Entwicklung, nämlich einer Zunahme des Lebensalters. Die anderen psychischen Erkrankungen, welche zunehmen, sind ja das Ergebnis negativer Entwicklungen, die oben ausgeführt wurden, die aus individuellen, aber auch aus gesellschaftspolitischen Faktoren bedingt sind.
Eine methodisch sehr saubere Arbeit kommt zu dem Schluss, dass sich keine Veränderungen zwischen 1990 und 2003 finden lassen. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine aufwändige nordamerikanische Studie, wobei im Mitarbeiterstab angelernte Interviewer waren, was eine Beeinträchtigung der Diagnosegenauigkeit bedingen kann.
Handlungsbedarf
All dies dürfte dramatischer Ausdruck der aufgezeigten Fehlentwicklungen sein.
Ganz wesentlich ist es natürlich im Primärbereich, das heißt niederschwellig bei praktischen Ärzten, bei psychosozialen Einrichtungen entsprechend professionelle Hilfe anzubieten. Es ist wichtig, dass weltweit ein Zugang zu Psychopharmaka besteht, dass auch in Ländern der Dritten Welt alle modernen Präparate zur Verfügung stehen. Es geht darum gemeindenah Hilfe anzubieten.
Dazu bedarf es aber auch entsprechend geschulten Personals, um dies zu bewerkstelligen. Dies kann wieder nur in die Wege geleitet werden, wenn es einen entsprechenden politischen Willen gibt, sich damit auseinanderzusetzen und auch Schwerpunkte zu setzen.
Dazu bedarf es einer differenzierten Forschung, die gesundheitspolitisch äußerst relevant ist, im Sinne einer modernen Technikforschung, aber sicherlich nicht vergleichbare „gut verkaufbare“ Ergebnisse bringt.
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