Essstörungen bei Kindern: Ursachen, Symptome und Therapie

Essstörungen sind komplexe psychosomatische Erkrankungen, die durch ein gestörtes Essverhalten gekennzeichnet sind. Sie zählen zu den am häufigsten vorkommenden psychischen Problemen bei Jugendlichen, können aber auch schon im Kindesalter auftreten. Es ist wichtig, Essstörungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, da sie schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben können.

Welche Arten von Essstörungen gibt es?

Die drei häufigsten Erkrankungsformen sind:

  • Anorexia nervosa (Magersucht)
  • Bulimie (Ess-Brech-Sucht)
  • Binge-Eating-Störung (Essattacken)

Dazu kommen noch weniger verbreitete Formen wie Nahrungsverweigerung, die vor allem bei kleineren Kindern zwischen einem und sieben Jahren zu finden ist. Diese Kinder essen nur bestimmte Nahrungsmittel oder verweigern überhaupt das Essen.

Unterformen der Magersucht

  • Orthorexia nervosa: krankhaftes Gesund-Essen.
  • Anorexia athletica: bewusste Verringerung des Körpergewichts, um eine bestimmte sportliche Leistung zu erreichen.

Nicht näher definierte Essstörungen (Eating Disorder Not Otherwise Specified = EDNOS): Darunter fallen jene Essstörungen, welche nicht alle Diagnosekriterien einer spezifischen Essstörung erfüllen.

Symptome von Essstörungen

Als markantestes Merkmal aller Essstörungen gilt die zwanghafte Beschäftigung mit dem Essen.

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Magersucht (Anorexie, Anorexia nervosa)

  • BMI unter 17,5
  • Extrem niedriges Körpergewicht durch Hungern, zwanghaftes Kalorienzählen und exzessive körperliche Belastung
  • Körperschemastörung (sich selbst bei Untergewicht als „zu dick“ erleben)
  • Ausgeprägte Angst vor dem Zunehmen

Ess-Brechsucht (Bulimie, Bulimia nervosa)

  • Häufig Normalgewicht
  • Panische Angst vor dem Zunehmen ("Gewichtsphobie")
  • Wiederholte Episoden von Heißhungerattacken
  • Ungesunde Maßnahmen zur Gewichtskontrolle (selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmittel- und Entwässerungsmittel, strenge Fastenkuren, übermäßige körperliche Aktivität)

Heißhungerattacken (Binge eating disorder)

  • Essanfälle mit Kontrollverlust
  • Essen großer Nahrungsmengen ohne physiologischen Hunger bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
  • Schuld- und Ekelgefühle nach dem Essen
  • Kein Purging-Verhalten (Fasten oder Erbrechen)

Essstörungen bei Kindern

Betroffen von Essstörungen sind in Österreich etwa acht Prozent aller Kinder und Jugendlichen, vor allem Mädchen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren. Bei etwa einem Viertel der Kleinkinder kann es - vorübergehend - zu Fütter­ und Essstörungen kommen. Essstörungen treten vor allem bei jungen Frauen auf. Der Frauenanteil an Betroffenen liegt bei über 90 %. Etwa 30 % aller Mädchen in Österreich zeigen ein kritisches Essverhalten, gut die Hälfte davon ist untergewichtig. Insgesamt geht man von über 200.000 Österreicherinnen aus, die zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung erkranken. Je nach Form können unterschiedliche Altersgipfel definiert werden, in denen vermehrt Anzeichen einer Essstörung auftreten. Bei der Magersucht liegt der Altersgipfel zwischen 14 und 18 Jahren, bei der Ess-Brechsucht (Bulimie) zwischen 16 und 18 Jahren.

Ursachen und Auslöser

Den meisten Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen liegt die Angst zugrunde, zu dick zu sein und dadurch nicht akzeptiert zu werden. Die dahinter liegenden Ursachen sind komplex.

Es gibt vielfältige Risikofaktoren, die in einer individuellen Konstellation begünstigen können, ob jemand in einem gewissen Lebensalter bedingt durch aktuelle Auslöser erkrankt oder nicht. „Einfache und monokausale Ursachen für Essstörungen gibt es nicht, die Modelle sind immer multidimensional“, stellt der Experte fest. Essstörungen können als Sprachrohr für einen tiefer liegenden, psychischen Konflikt angesehen werden. Der Ausbruch der Krankheit beruht dabei nie auf einer alleinigen Ursache. Viel eher kann man von einem komplexen Ursachengeflecht ausgehen, das zu Essstörungen führt:

  • Prädisponierende Persönlichkeitsmerkmale: Personen mit Essstörungen stellen oft hohe Ansprüche an sich selbst. Perfektion wird groß geschrieben, Kritik von außen wirft sie schnell aus der Bahn. Die Patienten haben ein hohes Harmoniebedürfnis und wollen alle um sich herum zufrieden stellen - Konflikten gehen sie gerne aus dem Weg. Nahezu alle Betroffenen haben ein geringes Selbstwertgefühl und ein mangelhaft ausgeprägtes Körpergefühl gemein.
  • Gesellschaftliche und soziale Einflussfaktoren: Das gesellschaftlich vorgegebene und medial untermauerte Schlankheitsideal spielt bei der Entstehung von Essstörungen eine große Rolle. Schlanksein ist an positive Attribute wie Attraktivität, Anerkennung und Glück gekoppelt. Gerade junge Mädchen und Frauen, die sich in einer Entwicklungs- und körperlichen sowie emotionalen Übergangsphase befinden, sind für diese Botschaften sehr empfänglich. Auch unter 10 Jährige erleben die Kluft zwischen Ist und Soll als bedrückend, was dazu führt, dass bereits Volksschulkinder ihren Körper als zu dick wahrnehmen und mit Diäten beginnen. Identitätsprobleme verschärfen die Problematik zusätzlich.
  • Familiäre Einflussfaktoren: Wirft man einen Blick auf die Herkunft, so fällt auf, dass Essstörungen oft in Familien gedeihen, die nach außen zu "perfekt" wirken. Der Schein trügt aber, denn nicht selten werden Konflikte zugunsten einer erzwungenen Harmonie "unter den Teppich gekehrt". Häufig müssen die Betroffenen schon im Kindesalter Verantwortung übernehmen. Stärke, Leistung und Selbstbeherrschung, sprich ein Nichtzugstehen von Schwäche werden dabei überidealisiert. Manchmal ist auch sexueller Missbrauch ein Thema - er kann aber nicht bei allen Menschen mit Essstörungen in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden.
  • Biologische Einflussfaktoren: Durch Fehlregulierungen im Gehirn - beispielsweise durch ein Geburtstrauma ausgelöst - kommt es zu Störungen im Hunger-Sättigungsmechanismus. Die Folge: manche Hormone, die an die Nahrungsaufnahme gekoppelt sind, werden nicht mehr freigesetzt. Das wiederum führt entweder zu einer vermehrten oder einer verringerten Nahrungsaufnahme. Auch Veränderungen im Neurotransmitterhaushalt kommen als Ursache in Frage. Zu den Neurotransmittern zählen unter anderem die "Glückshormone" Serotonin und Dopamin. Bei Menschen mit Essstörungen ist der Serotonin- und Dopaminspiegel erniedrigt. Diskutiert werden auch genetische Komponenten. Die genauen Wirkungsmechanismen sind hier wissenschaftlich jedoch noch nicht vollständig erforscht.
  • Diäten als Auslöser: Vielen Essstörungen geht häufig eine Diät voraus, die ab einem bestimmten Zeitpunkt außer Kontrolle gerät und eine Eigendynamik annimmt. Speziell dann, wenn sich die Gedanken nur mehr um das Essen und Nicht-Essen drehen, ist Vorsicht geboten.

Magersucht ist eine stark biologische Erkrankung mit einer Erblichkeit von knapp 60 Prozent. Auch ungesunde Familienstrukturen können krank machen. Einige Faktoren wie heftige Konflikte zwischen Eltern, erhöhtes Norm- und Leistungsdenken, impulsive Handlungen oder fehlende Emotionen im Familienumfeld begünstigen beispielsweise Bulimie.

Eine ebenso wichtige Rolle spielt der kulturelle Einfluss eines westlichen Schlankheitsideals und dessen Verbreitung über soziale Medien. Gerade junge Mädchen vergleichen sich mit den Vorbildern am Bildschirm. Kulturvergleichende Studien zeigen zudem, dass in nichtwestlich orientierten Ländern Mädchen und junge Frauen eher an einer Essstörung erkranken, wenn sie mit westlichen Körpernormen konfrontiert werden, in städtischen Zentren leben, sich früher in westlichen Ländern aufgehalten haben und ihr sozioökonomischer Status hoch ist. In Entwicklungsländern und sich entwickelnden Ländern ist die Häufigkeit von Essstörungen deutlich niedriger, jedoch auch dort im Steigen begriffen.

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Untersuchungen an Migrant:innen (darunter diese Studie) zeigen ein sogenanntes „culture-change syndrome“, d. h., junge Frauen entwickeln nach einem Wechsel in den westlichen Kulturkreis häufiger Körperbildprobleme und Essstörungen. Der Zusammenhang mit dem westlichen Körperideal zeigt sich in erster Linie bei Bulimie.

Diagnose von Essstörungen

Die Diagnosestellung erfolgt zuerst klinisch aufgrund der systematischen Erhebung der vorliegenden Symptome, wie sie in der internationalen Klassifikation ICD-10 dargelegt sind. Strukturierte Interviews werden psychodiagnostisch eingesetzt bzw. sind im Forschungskontext unerlässlich. Ihr Einsatz bedarf guter Schulung und ersetzt niemals die klinische Erfahrung.

Die Ärztin/der Arzt erhebt die ausführliche Krankheitsgeschichte (Anamnese). Zudem erfolgt eine körperliche Untersuchung. Auch eine neurologische Untersuchung kann notwendig sein. Bei Kindern und Jugendlichen achtet die Ärztin/der Arzt auch darauf, ob eine altersgemäße Entwicklung stattfindet. Zudem finden je nach Ausprägung der Symptome noch weitere Untersuchungen statt.

  • Laboruntersuchungen: Zum Beispiel Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte und Urinuntersuchung.
  • Bei Anorexie ist das Risiko für Osteoporose erhöht. Daher kann auch eine Knochendichtemessung notwendig sein.

Zudem können klinische Psychologinnen bzw. klinische Psychologen oder Psychotherapeutinnen bzw. Psychotherapeuten bei der Diagnosestellung mitwirken.

Folgen der Essstörungen

Die Folgen von Essstörungen sind von der jeweiligen Form abhängig. Sowohl bei Magersucht als auch bei Bulimie kommen allgemeine Schwäche, Müdigkeit, Schlaflosigkeit und verminderte Leistungsfähigkeit häufig vor. Typisch ist auch das Ausbleiben der Regelblutung bei jungen Mädchen und Frauen, welches auf den gestörten Hormonhaushalt zurückzuführen ist. Aufgrund einer Unter- oder Fehlernährung erhält der Körper nicht alle wichtigen Nährstoffe. Dadurch kann sich die Funktion von Geweben, Zellen und Organen einschränken. Die allgemeine Muskelabnahme kann bis zum Herzen übergreifen. Herzschwäche und Herzrhythmusstörungen sind die Folgen.

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Als gefürchtete Langzeitkomplikation tritt Osteopenie bzw. manifeste Osteoporose auf, die aufgrund der Trias Hypokalzämie plus Östrogenmangel plus Kortisolerhöhung relativ rasch eintreten kann. Sie kann im Extremfall zu pathologischen Frakturen führen. Ein Stopp des Längenwachstums ist, wenn die Erkrankung nicht vor Abschluss der Epiphysenfugen geheilt ist, letztlich irreversibel.

Essstörungen können medizinische Komplikationen verursachen, die über zwei Wege zustande kommen: Einerseits kann Unterernährung gepaart mit motorischer Hyperaktivität den Organismus übermäßig belasten, andererseits können Erbrechen und Laxantienabusus zu kardialen und neurologischen Komplikationen führen. Bei simultanem Auftreten beider Wege (wie z.B. bei der Diagnose F50.01) sind am häufigsten schwerwiegende Komplikationen zu beobachten.

Personen mit Essstörungen haben ein erhöhtes Risiko, sich das Leben zu nehmen (Suizidrisiko).

Therapie von Essstörungen

Nachdem die Nahrungsaufnahme lebensnotwendig ist, geht es bei der Therapie von Essstörungen nicht um das Weglassen der "Droge Essen". Viel mehr steht das Erlernen eines neuen Umgangs mit der Nahrungszufuhr im Vordergrund. Je nach Essstörungsform und je nach Krankheitsstadium stehen unterschiedliche Therapiemethoden zur Verfügung. Eine Vernetzung und ein Informationsaustausch des Fachpersonals bzw. der verschiedenen therapeutischen Maßnahmen (Psychotherapie, Arzt) sind für einen Therapieerfolg zielführend:

Psychotherapeutische Maßnahmen

Die bei Essstörungen zur Anwendung kommenden psychotherapeutischen Behandlungsmethoden unterscheiden sich voneinander vor allem in Punkto Richtung und Inhalt. Bei der Verhaltenstherapie liegt der Fokus auf der Veränderung des eigenen Essverhaltens. Auch wird dabei eine neue Einstellung zum Körper und zum Umgang mit dem sozialen Umfeld erlernt. Psychodynamische Therapiekonzepte richten den Schwerpunkt auf die Bewusstwerdung von Entstehungsbedingungen. Nachdem Essstörungen nie gänzlich ident verlaufen, sollte die Wahl der passenden Therapiemethode individuell entschieden werden.

Medizinische Betreuung

Die medizinische Kontrolle kann eine Psychotherapie nicht ersetzen. Insbesondere bei schweren Krankheitsverläufen kann ist sie jedoch begleitend dazu erforderlich. Eine Einschätzung des körperlichen Zustands ist wichtig, um typische Begleit- und Folgeschäden wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Störungen, Akne und Verdauungsstörungen einzugrenzen. Die Gewichtsstabilisierung ist Teil des medizinischen Behandlungskonzepts.

Ambulante oder stationäre Behandlung?

Bei akuter Gesundheitsgefährdung ist ein stationärer Klinikaufenthalt erforderlich. Dasselbe gilt, wenn die Patienten Abstand von der vertrauten Umgebung brauchen. Das ist manchmal notwendig, um neue Verhaltensmuster verinnerlichen zu können. Manche Kliniken bieten eine teilstationäre Behandlung an. Das bedeutet: Die Betroffenen kommen nur untertags in die Klinik und leben ansonsten in ihren normalen Wohnverhältnissen.

Tabelle: Überblick über Essstörungen

Essstörung Merkmale Therapie
Anorexia nervosa (Magersucht) Extremer Gewichtsverlust, Angst vor Gewichtszunahme, Körperschemastörung Psychotherapie, Ernährungsberatung, medizinische Betreuung
Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) Heißhungerattacken, Erbrechen oder andere Maßnahmen zur Gewichtskontrolle Psychotherapie, Ernährungsberatung, medizinische Betreuung
Binge-Eating-Störung (Essattacken) Wiederholte Essanfälle ohne gegensteuernde Maßnahmen Psychotherapie, Ernährungsberatung, Gewichtsmanagement

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