Kachexie und Anorexie: Ein umfassender Überblick

Essstörungen sind relativ seltene, aber häufiger werdende, zumeist schwere psychiatrische Erkrankungen, die einen hohen Leidensdruck bei den Betroffenen und ihren Familien erzeugen.

Definitionen und Klassifikation

In der gültigen Klassifikation der WHO (ICD-10) werden im Subkapitel 50.x die Störungen Anorexia nervosa (AN; Code: F50.0), Bulimia nervosa (BN; F50.2), ihre atypischen Varianten (AN-atypisch; F50.1 und BN-atypisch; F50.3) sowie Essattacken bei anderen psychischen Störungen (F50.4), Erbrechen bei anderen psychischen Störungen (F50.5), sonstige spezifische Essstörungen (F50.8) und nicht näher bezeichnete Essstörungen (F50.9) definiert.

Die drei klinisch bedeutsamsten und am besten charakterisierten Essstörungen sind Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung.

  • Anorexia nervosa („Magersucht“) ist charakterisiert durch Diäthalten bzw. Vermeiden hochkalorischer Speisen, was in letzter Konsequenz zu gefährlichen körperlichen Folgen bis zum Tode führen kann.
  • Binge-Eating-Störung ist die häufigste Essstörung, die durch Heißhungeranfälle, die nicht mittels gegenregulatorischen Maßnahmen entschärft werden, definiert ist.

Epidemiologie

Bisher fehlen in Österreich für das gesamte Bundesgebiet repräsentative Daten über die Häufigkeit von Essstörungen im Kindes- und Jugendalter und im Erwachsenenalter.

Essstörungen treten zumeist zuerst im Jugendalter auf.

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Mädchen und Frauen sind häufiger von Magersucht, Bulimia nervosa und von „Unspezifischen Essstörungen“ betroffen als Knaben oder Männer.

Ähnlich wie in Deutschland 2006 fanden wir in unserer repräsentativen österreichischen Erhebung etwa 23 Prozent Verdachtsfälle für Essstörungen.

Diagnostik

Die Diagnosestellung erfolgt zuerst klinisch aufgrund der systematischen Erhebung der vorliegenden Symptome, wie sie in der internationalen Klassifikation ICD-10 dargelegt sind.

So ist ein diagnostischer Fallstrick, Symptome zu übersehen bzw. nicht ausreichend diagnostisch zu würdigen, weil die Betroffenen sie trotz direkter Befragung nicht angeben.

Differenzialdiagnostisch kommen für die Essstörungen alle Krankheiten infrage, die zu Gewichtsverlust (bis zur Kachexie), zu Erbrechen und fehlender Gewichts- und Größenentwicklung führen, allerdings ist die Motivation hinter dem gefundenen Verhalten das entscheidende Unterscheidungsmerkmal.

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Zudem sind psychische Störungen diagnostisch sowohl als Komorbiditäten als auch im differenzialdiagnostischen Prozess genauestens zu erfassen.

Komorbidität

Essstörungen sind nahezu immer - sowohl komorbid als auch im Lebenszeitverlauf - mit anderen Störungsbildern bzw. Symptomen anderer Störungen verbunden.

Bulimia nervosa geht häufiger als AN mit Erkrankungen aus dem Suchtspektrum einher (bis 50 Prozent), auch diverse Persönlichkeitsstörungen kommen bei bis zu 80 Prozent der Betroffenen vor.

Die Binge-Eating- Störung weist als häufigste Komorbiditäten Depressionen (etwa 50 Prozent) und Angststörungen (12-49 Prozent) auf.

Medizinische Komplikationen

Essstörungen können medizinische Komplikationen verursachen, die über zwei Wege zustande kommen: Einerseits kann Unterernährung gepaart mit motorischer Hyperaktivität den Organismus übermäßig belasten, andererseits können Erbrechen und Laxantienabusus zu kardialen und neurologischen Komplikationen führen.

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Als gefürchtete Langzeitkomplikation tritt Osteopenie bzw. manifeste Osteoporose auf, die aufgrund der Trias Hypokalzämie plus Östrogenmangel plus Kortisolerhöhung relativ rasch eintreten kann.

Typisch und pathognomonisch für BN sind Narben am Handrücken, das sogenannte Russell’s sign, welches durch Kallusbildung nach regelmäßigem Gebrauch der Finger zum Auslösen des Erbrechens entsteht.

Weiters führen das Erbrechen von Speisebrei zu einer blanden Hypertrophie der Speicheldrüsen sowie Elektrolytentgleisungen, Schmelzdefekten der Zähne, Zahnfleischproblemen und Karies, Mundwinkelrhagaden und Ulcera der Mundschleimhaut, angestrengtes Erbrechen kann zu Petechien und Hämatemesis führen.

Im Rahmen von Konzepten, die die Wiederauffütterung von schwer kachektischen AN-Patienten zu einem wichtigen und vorrangigen Ziel haben, ist besonders auf die Prophylaxe des gefürchteten, aber dem Laien oft unbekannten iatrogenen Refeeding-Syndromes zu achten.

Bei schweren Verläufen kann es zu Kaliummangel (<2mmol/l) (!) kommen, Hyponatriämie (durch Laxantien und Dursten) kann zu zerebralen Krampfanfällen führen, Hypophosphatämie zu Tetanie, eine Erhöhung des Bicarbonats (40mmol/l möglich) im Sinne einer metabolischen Alkalose kann ebenfalls zu zerebralen Krampfanfällen führen.

An Untersuchungen sind obligat: Anamnese, körperliche Untersuchung, neurologische Untersuchung, psychopathologischer Status psychicus, oben genannte Laborparameter, wöchentliche Bestimmung des Körpergewichts, EKG, Messung der Knochendichte, CCT bzw. craniales MRT zum Ausschluss von zerebralen Raumforderungen.

Ursachen und Risikofaktoren

Essstörungen haben keine isolierten Ursachen. Immer müssen verschiedene Risikofaktoren in einem Leben zusammentreffen, damit die Erkrankung ausbricht.

Als Risikofaktoren für die Entstehung der Anorexia nervosa gelten: Das weibliche Geschlecht (90-95 Prozent Frauen); Biologisch: Genetisch: Zwillingsstudien und Familienstudien zeigen, dass Essstörungen in Familien gehäuft vorkommen.

Psychologisch: Kindliche Angststörungen, niedriger Selbstwert und perfektionistische Haltung im Leben sind nahezu ubiquitäre Voraussetzungen für die Entstehung von Essstörungen.

Für die Binge-Eating-Störung stellen folgende Faktoren ein Risiko dar: sexueller Missbrauch, physische Vernachlässigung; Adipositas während der Kindheit; Selbstwertproblematik; negative Lebensereignisse; vermeidendes Coping; geringe soziale Unterstützung; Mobbing bzgl. Figur, Gewicht, Essverhalten.

Behandlung

Die Behandlung der Essstörungen ist multimodal und multidisziplinär ausgerichtet.

Neben unbedingt nötiger allgemeinmedizinischer bzw. pädiatrischer Diagnostik und regelmäßiger fachärztlicher Kontrolle ist in allen Fällen Psychotherapie indiziert.

Entscheidend sind die Erstellung eines Gesamtbehandlungsplanes und die Definition eines für die Therapie verantwortlichen „Case-Managers“, wofür der Kinder- und Jugendpsychiater/Psychiater der ideale Facharzt ist.

Kachexie und Demenz

Bei der senilen Demenz handelt es sich um eine irreversibel progredient verlaufende, unheilbare Erkrankung.

Bedingt durch den progredienten zerebralen Abbau nehmen die Betroffenen im fortgeschrittenen Krankheitsstadium Hunger- und Durstgefühle nicht mehr wahr, die Nahrung wird als solche nicht mehr erkannt, Schluckstörungen treten auf, es kommt zu einem Nachlassen des Lebenswillens und letztendlich zu einem Anorexie-Kachexie Syndrom, das oft auch durch eine künstliche Ernährung nicht mehr beeinflussbar ist.

Bevor man die Nahrungsverweigerung auf das Fortschreiten der Demenz zurückführt, sollten andere korrigierbare Ursachen für Probleme der Nahrungsaufnahme ausgeschlossen werden.

Die Entscheidung für oder gegen eine künstliche Ernährung kann vom hochgradig dementen Patienten nicht mehr eigenverantwortlich, sondern nur von seinem Sachwalter getroffen werden.

Die Indikation für oder gegen eine künstliche Ernährung soll vom behandelnden Arzt immer individuell und unter Berücksichtigung der Meinungen der Angehörigen und Pflegepersonen gestellt werden.

Folgende Aspekte müssen vor Indikationsstellung einer Sondenernährung überlegt werden:

  • Warum soll künstlich ernährt werden?
  • Hat die „artificial nutrition and hydration“ (ANH) für die vorliegende Krankheit medizinisch nachgewiesene Effekte?
  • Welchen Komplikationen und Beeinträchtigungen ist der Patient ausgesetzt?
  • In welchem Stadium der Erkrankung befindet sich der Patient und wie ist seine Lebenserwartung?

Die Anlage einer Ernährungssonde hat stets einem medizinisch begründeten Ziel zu folgen.

Ziel der Sondenernährung ist die Prävention der Folgen eines Nahrungs- und Flüssigkeitsmangels wie Infektanfälligkeit, Dekubitalgeschwüre, Stürze, Verwirrtheitszustände, ihr Zweck die Besserung des funktionellen Status und somit der Lebensqualität sowie die Verlängerung der Überlebenszeit.

Auch bei Ernährung über eine Sonde soll, falls dies noch möglich und medizinisch vertretbar ist, zusätzlich oral ernährt werden.

Unter Ärzten ist die Meinung weit verbreitet, dass auch bei kachektisch-anorektischen Patienten im fortgeschrittenen oder finalen Stadium einer Demenz durch eine Sondenernährung der Ernährungszustand und funktionelle Status verbessert werden kann, Aspirationspneumonien und Dekubitalulzera vermieden werden beziehungsweise rascher ausheilen und sich Lebensqualität und Überlebenszeit bessern.

Leider kann sich diese Annahme nicht auf die Mehrzahl der klinischen Untersuchungen stützen.

In rezenteren Publikationen konnte ebenfalls kein Effekt einer Sondenernährung auf den funktionellen Status oder auf die Überlebenszeit dementer Patienten nachgewiesen werden.

Ähnlich wie von Finunace et al. wird auch in neueren Übersichtsartikeln die Meinung vertreten, dass eine Sondenernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz nicht indiziert sei.

Nur eine Minderheit befürwortet eine Sondenernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz.

Einschränkend muss angemerkt werden, dass sich aus der Datenanalyse von Finunace et al. und auch aus den späteren Untersuchungsserien lediglich das Fehlen einer Evidenz für den Nutzen einer Sondenernährung ableiten lässt.

Die häufig diskutierte Frage, ob Patienten, die im Endstadium einer Demenz ihre Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme eingestellt haben, Hunger oder Durst erleiden, kann verneint werden.

Sollten sie dennoch vorhanden sein, reichen bereits kleinste Mengen von Nahrung und Flüssigkeit oder das Befeuchten des Mundes, um sie zu stillen.

Mögliches Leid durch Hunger und Durst ist bei Patienten, die im Terminalstadium einer Demenz ihre Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme eingestellt haben, somit nicht zu erwarten.

Bei Indikationsstellung zur PEG-Sonde sind auch Nebenwirkungen und Komplikationen zu beachten.

Um eine Eigenentfernung der PEG-Sonde zu verhindern, kann manchmal die Fixierung dementer Patienten erforderlich sein, eine Situation, die sicherlich negative Auswirkungen auf die Lebensqualität hat.

Im Terminalstadium der Demenz, wie im Terminalstadium aller anderen Krankheiten, wird die Sicherung von Lebensqualität zum wesentlichen Behandlungsziel.

Die Sondenernährung wird allgemein als medizinische Behandlung angesehen und bedarf daher der Zustimmung des Patienten.

Ein Patient ist einwilligungsfähig, wenn er in der Lage ist, Nutzen und Risiken, die Tragweite einer Maßnahme sowie deren Unterlassung zu erkennen und eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen.

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