Das Gefühl, nicht wirklich zu leben und daher nicht wirklich lebendig zu sein, sondern „irgendwie tot“, tritt ab einem Punkt des modernen Lebens häufig in Erscheinung.
Das heißt keineswegs, dass dieses Gefühl älteren Zeiten völlig fremd gewesen wäre, man denke an die spätrömische Misere der Adeligen und Reichen, die ihr nahendes Ende orgiastisch, unter Auskostung jeden Lasters, bis zum Koma zelebrierten.
Das Gefühl einer unabschüttelbaren Fadenscheinigkeit und Fahlheit der eigenen Existenz ist nämlich typisch für spätkulturelle Dekadenzzustände, wie sie in der Geschichte der Zivilisationen unter den vom Überlebenskampf abgeschirmten Oberschichten auftreten.
Sich nicht lebendig, sondern tot zu fühlen: Das eben wurde eine Gefühlslage, die ein Mentalitätscharakteristikum der Moderne bildet, welches keineswegs auf den Geistes- und Gefühlsadel beschränkt bleiben sollte.
Einst hatten die bürgerlichen Schichten darum gewetteifert, es dem Adel in Haltung und Verhaltensform gleichzutun, um sich auf diese Weise selbst im Erleben ein wenig weniger alltäglich, stattdessen mehr verfeinert und dadurch auch sozial emporgehoben zu fühlen.
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Ebenso wurde nun, gerade nach den Erregungen zweier Weltkriege, die „Fahlheit des Gefühls“ zu einer Diagnose, die - jedenfalls aus der Perspektive hellsichtiger Zeitkritiker - zunehmend die Individuen der Friedensmasse erfasste.
Der existenzielle Mangel an Lebendigkeit wurde gleichsam demokratisiert.
Es ist Frieden, die Sonne scheint, die Azaleen blühen vorm Haus, man hat Familie, Arbeit und ein Auskommen.
Und morgen wird die Sonne wieder scheinen, und auf dem Wege, den ich gehen werde, wird uns, die [Seligen], sie wieder einen inmitten dieser sonnenatmenden Erde.
Und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen, werden wir still und langsam niedersteigen, stumm werden wir uns in die Augen schauen, und auf uns sinkt des Glückes grosses Schweigen.
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Das ist aber schön!
Nun höre ich schon den Einwand: Wie kann man sein eigenes Streben nach Wohlbefinden, seine höchstpersönliche Idee vom guten Leben gegen einen Reflexionszusammenhang und einen Sensibilitätshintergrund stellen, die beide, weitab vom Topos „Trautes Heim, Glück allein“, auf die sozialen Makroverhältnisse reagieren?
Ich gestehe, dass ich diese Frage nur allzu gut verstehe.
Denn ich bin darauf trainiert, bei der Betrachtung intimer Angelegenheiten des Lebens gleichsam über meinen eigenen Gartenzaun hinauszublicken.
Es war Theodor W. Adorno, der sagte: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
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Derselbe Adorno genoss es dann freilich, mit Lotte Tobisch - das hat sie mir selbst erzählt - auf der Alm zu sitzen, ein Glas Milch zu trinken, übers Tal hin und in die untergehende Sonne zu schauen und dabei zu sagen: „Das ist aber schön!“
Lotte Tobisch, einst „Teddy“ Adornos adelige Wiener Muse, hatte wohl nicht den Eindruck, dass an der Zufriedenheit Adornos etwas brüchig oder unecht gewesen sei, was indes hätte der Fall sein müssen angesichts des Umstandes, dass man sich auch noch auf der schönsten Sonnenuntergangsalm mitten im schlechten Leben befindet.
Ich will mich hier nicht über Adorno lustig, sondern bloß darauf aufmerksam machen, dass selbst den tiefsinnigsten und sensibelsten Geistern ein Moment der Unglaubwürdigkeit anhaftet, wenn sie, einerseits zum Genuss schlichter menschlicher Freuden fähig, diese andererseits dann ihrem Publikum verderben wollen, indem sie versichern, noch im harmlosesten Vergnügen stecke der Wurm der Apokalypse, das Grauen des Holocaust, der Untergang des Abendlandes.
Kein Zweifel, die Welt ist voller Grauen.
Das ist nicht schwer zu begreifen, auch wenn man mit einem Glas Milch in der Hand auf einer friedlichen Alm sitzt und dem Kuhglockengebimmel lauscht.
Man muss sich bloß gedanklich an die Orte des Grauens begeben.
Man braucht sie nicht eigens aufzuzählen, jeder kennt sie.
Freilich, dass die Welt an sich ein grauenvoller Ort sein sollte - das zu realisieren tun wir uns schwer, und wir machen dabei keine besonders gute Figur, nachdem wir uns Jahrtausende lang bemüht haben, uns hierorts einigermaßen sicher und wohnlich einzurichten.
Jedes Zeitalter enthält seine spezifischen Notlagen und Missstände.
Deshalb sollte der Kritiker nicht über die Vorzüge seiner Zeit hinweggehen, als ob es sich um Nichtswürdigkeiten handelte.
Wer es nicht zu schätzen weiß, dass wir in einem liberalen Rechtsstaat leben, auf einem technischen Niveau und unter ökonomischen Bedingungen, von denen frühere Jahrhunderte nichts wussten und weite Teile der heutigen Welt kaum zu träumen wagen - wer all das abtut, und sei es mit den hochintellektuellen Mitteln des Dekonstruktivismus und der posthumanistischen Theorie, von dem sollten wir uns abwenden, statt uns beeindrucken zu lassen.
Wir sollten uns abwenden und weggehen, sobald uns wieder einmal gepredigt wird, dass es so auf gar keinen Fall weitergehen könne.
Wie gesagt: Entgegen all dem, woran unsere gerade modischen Denker verzweifeln, möchte ich vielmehr, dass es immer so weitergeht.
Natürlich weiß ich von den sozialen Ungerechtigkeiten und den menschverursachten Gräueln, die das Antlitz der Erde verunstalten.
Und natürlich möchte ich, dass dieses Elend aufhört.
Muss ich das wirklich eigens betonen?
Nun, ich betone es hier und jetzt, doch es schiene mir pure Scheinheiligkeit, wollte ich jemandem weismachen, ich wäre nicht bestrebt, die schönen Dinge des Lebens zu genießen, und nicht dankbar dafür, zur Zeit weder einsam noch elend leben zu müssen - auch wenn ich mich in meinen dummen, dunklen philosophischen Momenten nicht frei von der Illusion fühle, dass akkurat unsere Zeit die allererbärmlichste sei.
So kann es nicht weitergehen.
Es ist noch nicht lange her, da sah ich den Philosophen Peter Sloterdijk im Fernsehen.
Ich weiß nicht, wovon eigentlich die Rede war, aber das machte mir wenig aus.
Denn wenn ich auch nicht wusste, worüber Sloterdijk sprach, so sagte er das, was er zu sagen hatte, doch in seiner unnachahmlichen Art.
Er dachte schnaufend, als ob es gelte, einen Berg zu bewegen.
Er war eine Präsenz, während seine Worte ein Versprechen zu enthalten schienen: Gleich würde gesagt werden, worauf alle hier, in diesem immerfort am Rande des Untergangs dahinsiechenden Abendland, schon immer gewartet hatten.
Eine Wortoffenbarung stand unmittelbar bevor.
Und dann kam es.
Sloterdijk sagte - ich referiere glanzlos -, heute sei niemand, jedenfalls niemand mit Verstand und Gefühl, in der Lage, ernsthaft daran zu zweifeln, dass es so nicht weitergehen könne.
Hätte ich mich bei dieser Aussage in meinem professionellen philosophischen Normalzustand befunden, wäre mir nichts aufgefallen.
Denn dass es so nicht weitergehen könne, ist eine Sentenz, die, falls sie nicht gerade mit dem ganzen Schwergewichtigkeitspathos eines Hochleistungsdenkers vorgetragen wird, zu den Gemeinplätzen heutiger Geistesmenschen zählt.
Ich befand mich aber gerade in einem Zustand niederrangiger Geistigkeit, und zwar aus sentimentalisch-privaten Gründen.
Nur so viel: Je älter ich werde, desto deutlicher wird mir die Tragik, die darin liegt, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht ewig beisammen sein können.
Und da ich im Moment noch von schwerer Krankheit und Schmerz verschont bin, kann ich nicht umhin zu wollen, dass der Tag, den ich heute leben darf, auch wenn er so manches Ärgernis und etliche Ödnis birgt, sich wieder und wieder wiederholt.
Kurz: Ich kann von den Dingen des Lebens nicht genug kriegen.
Weit davon entfernt zu glauben, dass es so nicht weitergehen könne, möchte ich im Gegenteil, dass es immer so weitergeht.
Und in meinen trübseligen Momenten gründet meine Trübsal nicht unwesentlich darin, dass ich weiß, dass es so nicht weitergehen wird.
Ich versuche also, in der Zeit, die mir wie jedem endlichen Wesen meines Alters im günstigen Fall bleibt, ein Leben zu führen, von dem ich hoffe, dass es ein einigermaßen gutes, ein im Großen und Ganzen erfülltes Leben ist, und zwar besonders dort, wo es sich um die Routinen des Alltags dreht und jene zumeist unscheinbaren Situationen, die man mit anderen zusammen verlebt, vor allem mit jenen, deren Zuneigung und Gegenwart man nicht missen möchte.
Aus dieser Perspektive betrachtet - und ich weiß, dass es auch andere Perspektiven gibt -, kommt mir die Aussage, dass es so nicht weitergehen könne, dumm, arrogant und opportunistisch vor.