Im letzten Jahr jährte sich am 3. November der Todestag Wilhelm Reichs (1897-1957) zum 60. Mal. Bereits 2007 gab es in Berlin zum 50. Todestag von der dortigen Wilhelm-Reich-Gesellschaft (WRG; Vorläufer: Wilhelm-Reich-Initiative) eine achtbare Gedenk- und Erinnerungsveranstaltung in den Räumen des Koch-Instituts an der Charité.
Nach Reichs Tod hatte die erstgeborene Tochter Eva Reich (1924-2008) den Nachlass ihres Vaters zur Verwahrung an Mary Boyd Higgins als Treuhänderin übergeben. Bereits in den 1980er Jahren kam es zwischen Eva Reich und den in Berlin an der Wiederentdeckung von Wilhelm Reichs wissenschaftlichem Werk arbeitenden und beteiligten Personen zu einer aktiven Zusammenarbeit und einem regen Austausch.
Teilweise heftige Auseinandersetzungen innerhalb des Berliner Aktiven-Kreises im Zuge einer kontroversen Debatte über den Umgang mit einer in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Studie zur Bestätigung der Existenz der Orgonenergie führten innerhalb der WRG zu einer schweren Belastungsprobe.
Einer dieser Aktiven, John Joachim Trettin, berichtete dem Verfasser von einem Brief Eva Reichs, den sie im August 1997 an die Berliner Freunde gerichtet haben soll: “Es ist erforderlich, dass ich mich formell von allen Wilhelm Reich-Organisationen zurückziehe, denen ich zusammen mit euch 1986 beigetreten bin.
Die gegenwärtige Aufsplitterung der deutschen Gruppen, die orgonomisch arbeiten, in Fraktionen, ist schmerzhaft für mich. Ich wünschte, ihr hättet eine Art Dachorganisation geschaffen, unter der verschiedene Personen, die orgonomisch arbeiten, sich freundschaftlich und in konstruktiver Kritik austauschen. Ich glaube nicht, dass irgendeine einzelne Person oder Gruppe der ausschließliche Nachfolger von Wilhelm Reich sein kann. Ich selbst arbeite für eine Welt, in der jeder Studierende, der interessiert ist, die grundlegenden Erkenntnisse der Entdeckungen Wilhelm Reichs lernen kann.”
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Einer der erfahrensten und besten Kenner des wissenschaftlichen Werks von Reich im deutschsprachigen Raum war der Arzt und Orgontherapeut Heiko Lassek (1957-2011). Eingeweihte Kenner des Lebenswerks von Reich muss die filmische Umsetzung jedoch eher enttäuschen.
Der vorliegende Beitrag nimmt ganz bewusst die Zeit nach Reich in den Blick. Er ist keine chronologische Werkdarstellung und auch keine Beschreibung der vielseitigen Anfeindungen gegen Reich, die ihn im 20. Jahrhundert quasi zu einem modernen Giordano Bruno machten, der am Ende im “freiesten Land” der Welt zu Gefängnis verurteilt, dessen wissenschaftliche Apparaturen auf staatliches Geheiß zerstört und Bücher und Schriften verbrannt wurden.
Reich hatte in seinem Testament genau 50 Jahre lang ab Todesdatum den Verschluss seines gesamten wissenschaftlichen Nachlasses verfügt. Wohlgemerkt: des nicht veröffentlichten Nachlasses und nicht dessen, was zu dem Zeitpunkt an Forschung allgemein bekannt war und schriftlich niedergelegt vorlag. Schon darum herum bestand lange Zeit eine Art Mantel der Verschwiegenheit.
Reichs Ertrag sollte für eine neue, seinem Werk gegenüber unvoreingenommene Welt zum Studium aufbewahrt und konserviert werden. Wie das meiste öffentliche Echo 2007 zeigte, waren noch viele der Reich-Vorurteile (antiautoritärer Guru der 68er-Studenten; Idol einer ungehemmten freien Sexualität; kommunistischer Sex-Papst) präsent und wirkten wie verstaubt aus einer Ecke hervorgeholt.
Wie kaum ein anderer bedeutender Mensch, dem aufgrund seines Rüttelns an zivilisatorischen Grundfesten Gegner- und Feindschaft entgegenschlug, reagierte Reich auf wichtige Einschnitte in seinem Leben und Angriffe mit rationalen persönlichen Konsequenzen nach vorne. Gleichwohl bemühte sich eine wachsende Zahl von an Reich ernsthaft interessierten Menschen darum, den Abstand zwischen dem Reichschen Gedanken- und Arbeitskonzept und einer praktischen, angewandten Lebensenergie-Wissenschaft zu verringern.
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Auch in der etablierten Sozialwissenschaft gibt es Beispiele, wie Reichs Werk noch immer ignoriert und verdrängt wird. Auf der Basis einer “Theorie der fraktalen Affektlogik“ des Schweizer Psychiaters Luc Ciompi analysierte die Soziologin Elke Endert in ihrer Dissertation 2006 die “emotionale Dimension sozialer Prozesse“ am Beispiel der Rechtsextremismus- und Faschismusforschung.
Das magische Jahr hielt nicht das, was sich viele versprachen. Heiko Lassek dämpfte im Vorfeld bereits Erwartungen, sich davon allzu spektakuläre Eröffnungen und Erkenntnisse zu erhoffen. Dies zeichne sich nicht ab. Der Nachlass lagert heute in der Bibliothek der Harvard Medical School in Boston.
Was würden Reichs Aufzeichnungen dafür an verwertbaren Erkenntnissen noch liefern? Zum Beispiel für die Auffassung des menschlichen Organismus als wandelnder, lebendiger Orgonakkumulator? Komplexe, unverständliche orgonmathematische Formeln, wie im Text Creation, an dem Reich angeblich zuletzt in der Gefängniszelle schrieb, der dann unauffindbar blieb?
Auf der Jahrestagung der Berliner Wilhelm-Reich-Gesellschaft am 1./2. Juni 2013 wurde über die Ergebnisse erster Nachforschungen im Bostoner Nachlass-Archiv offiziell berichtet. Zwei Mitglieder der WRG, darunter der damalige Vorsitzende Thomas Harms, waren zuvor nach Boston gereist und hatten über Wochen eine Sichtung vorgenommen.
Es stellt sich die Frage, ob wir sie bis zum absoluten Kuriosum der in Kapitel VII von Contact with Space (ORANUR-Report II) beschriebenen “Ea-Schlacht von Tucson” (“Ea” ist Reichs Begriff für UFO) jemals mit unserem heutigen Begriffs- und Wahrnehmungshorizont ganz erfassen, geschweige denn vollständig verstehen können. Reich verstehen heißt sein Denken, Wahrnehmen und Fühlen selbständig nachvollziehen.
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Der Umgang mit originärem Reichschem Forschungswissen ist fürwahr diffizil, ein sozusagen heißes Eisen. Wer ist berechtigt dazu, wem ist es erlaubt, darüber wie und wo zu sprechen? Wie viel darf zu welchen Zwecken offengelegt werden?
Die Biografie Reichs als Verkörperung eines “heiligen Zorns des Lebendigen” (Myron Sharaf, 1926-1997) ist mithilfe von mehreren erstrangigen, authentischen Quellen, Erinnerungen und Zeugnissen (Ilse Ollendorff-Reich, A.S. Neill, Walter Hoppe, Peter Reich, Ola Raknes, David Boadella, James E. Strick) weitgehend erschlossen und ausgeleuchtet. Erweitert auch um Selbstauskünfte Reichs, zum Beispiel frühe Erinnerungen in Menschen im Staat (dt.
Ferner gibt Die Funktion des Orgasmus, Teil I: Die Entdeckung des Orgons als wissenschaftliche Autobiographie (revid. Fassung), das teils wie ein biblischer Offenbarungstext verschlüsselte Buch Der Christusmord und das bittere Anklagepamphlet Rede an den kleinen Mann (Listen, Little Man), Reichs tiefen, Nietzsche-haften Einblick in die Abgründe des menschlichen Wesens. Reich ist daher einigermaßen transparent, ohne irgendwas an seiner Person zu mystifizieren.
Studentenrebellische Wiederentdeckung und „Antipolitik“
Weniger als zehn Jahre nach seinem Tod wurde Reich bereits zum Wiederentdeckten von einer Seite, mit der er vermutlich selbst am wenigsten gerechnet hätte: Der vor allem deutschen Studentenbewegung. Sie hat Reich von Beginn an repolitisiert.
Seine kleinen Schriften Was ist Klassenbewusstsein? Ein Beitrag zur Diskussion über die Neuformierung der Arbeiterbewegung (1934) und zur Arbeitsdemokratie (enth. in Massenpsychologie des Faschismus, revid.) waren sein politisches Vermächtnis als Alternative zu den ideologisch verbogenen Standpunkten der strammen orthodoxen Kommunisten.
Natürliche Arbeitsorganisation vs. Politik
Ein Konzept, das durchaus Nähe und Bezüge zu “technokratischen” wie anarchistischen Vorstellungen aufweist. Auch wenn Reich in der Massenpsychologie die Anarchisten scharf kritisierte, sie würden das Problem der tief sitzenden Freiheitsangst und Freiheitsunfähigkeit des seelisch blockierten Menschen verkennen und könnten keinen Ausweg weisen.
Die genannten Quellen begründeten später in den 1980er/90er Jahren das, was man den “sexualökonomischen”, also soziologischen Neuansatz der Reichschen Gesellschaftskritik nennen könnte. Sexualökonomie = Soziologie auf biologischer Grundlage. Eine Art “biologischer Humanismus”. Sie entsprang seinem Versuch der dialektisch-materialistischen Kombination von Marxismus und Psychoanalyse und ihrer konsequenten Weiterentwicklung.
Es ist die Erkenntnis Reichs, statt privilegierter Individualtherapie à la Freud Massenprophylaxe gegen die gesellschaftliche Neurose durch breite Sexualaufklärung und Sexualberatung zu betreiben. Das wurde zu Reichs revolutionärem Bruchpunkt mit der bürgerlichen Lehre Freudscher Analyse und ideeller Libido-Theorie. Reich dachte in der Kategorie der Natur, Freud in der der Idee.
Reichs Sexpol-Organisation
Reich rekrutierte und bildete im eigens hierfür gegründeten proletarischen Reichsverband für Sexualökonomie und Politik (kurz Sexpol) junge Kader wie Ernest Borneman (1915-1995) in Berlin aus. Diese sollten sich auf der Ebene von alltäglicher Agitation und sozialistischer Bewegung informierend und aufklärend vor allem unter der Jugend und Frauen betätigten und kostenlos Verhütungsmittel verteilten.
Diese, wie auch eine fortschrittliche neue Sexual- und Ehegesetzgebung fielen der inneren bürokratischen Parteireaktion Stalinscher Prägung bald wieder zum Opfer. Borneman blieb auch später als Psychoanalytiker, Autor und Forscher dem Thema der Sexualität und Liebe eng verbunden und verfasste dazu eine Reihe von bedeutenden Büchern: Lexikon der Sexualität und Liebe (1968); Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen (1974; 2 Bde.); Sexuelle Marktwirtschaft.
Mit seiner umfassenden anthropologischen Studie Das Patriarchat (1979) stellte er kritische historische Untersuchungen an, die sich an Reichs Einbruch der sexuellen Zwangsmoral anschlossen und das Thema weiter ausführten und faktisch unterfütterten. Als eine Art Vermächtnis steht das letzte Werk des Wahl-Österreichers Die Zukunft der Liebe (posthum 1997) da. Ein heute vergessener, feministisch orientierter Autor, den es freilich nach wie vor noch zu entdecken und zu würdigen gilt.
Damals, in den bewegten Sechzigern, mochte sich zunächst so gut wie kein angesehener bürgerlicher Verlag zu einer Neuauflage von Reichs revolutionären Büchern und Schriften entschließen. Wenige, wie 1966 zuerst die EVA mit Die sexuelle Revolution und dann der Fischer Verlag bildeten die Ausnahme, Kiepenheuer & Witsch zog bald nach.
So wurden die kleineren, darunter auch die Agitationsschriften Reichs wie Der sexuelle Kampf der Jugend oder Sexualerregung und Sexualbefriedigung einfach zu Tausenden raubgedruckt und billig auf den Markt gebracht.
Die Charakteranalyse (revid.) gilt noch immer als klassisches Lehrbuch in der psychoanalytischen Ausbildung. Was noch wenig interessierte und vielleicht verwunderte, war, dass Reich eine Reihe seiner Hauptwerke wie die genannten in den USA umgeschrieben (revidiert) und mit einer neuen Terminologie versehen hatte.
Als “Linksfreudianer”, der ähnlich wie Fenichel, Ferenczi, Gross oder Fromm und Marcuse fortschrittliche Psychoanalyse mit marxistischer soziologischer Analyse verband, wurde Reich zunächst zum wichtigsten Garanten derer, die für eine neue sexuelle Revolution eintraten, Kommunen gründeten und das Private zum Politischen machen wollten. Lebensgewohnheiten, Erziehung, Geschlechterbeziehungen, usw. sollten radikal verändert werden.
Danach kam es zu einer zweiten Phase der sorgfältigeren Rezeption und Aufarbeitung. Man begann, sich mit Reichs Lebensgeschichte, politischen Biographie, dem biophysikalischen Reich und dem Spätwerk auseinanderzusetzen. Es entstanden verschiedene Reich-Zirkel und Arten, ihn zu rezipieren und auszuwerten.
Die 1990er Jahre bis zur Jahrtausendwende kann man publizistisch als Ergebnisernte der etwa 20 Pionierjahre davor betrachten. Ein gewisser Sättigungsgrad war erreicht.
Die Berliner Aktiven um die Zeitschrift emotion begannen damit, nicht nur Reichs vegeto- und körpertherapeutische Praxis nachzuvollziehen, sondern auch seine naturwissenschaftlichen Forschungen bis hin zu den Wetterexperimenten wieder aufzugreifen und molekularbiologische Experimente zunächst verifizierend zu reproduzieren.
Der Wirtschaftswissenschaftler und Dozent Bernd Senf (*1944) verstand es in didaktisch höchst ansprechenden Kursen anschauliche Einführungen in das Reichsche Denken und Forschen zu vermitteln. Senf arbeitete verständlich an der Tafel illustrierend und mit teils erheiternden körperlichen Demonstrationen.
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