Bei der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, war man bis vor wenigen Jahren der Annahme, dass diese lediglich im Kindes- und Jugendalter auftritt und sich später „auswächst“.
Historischer Hintergrund von ADHS
1902 hat der britische Kinderarzt George Frederick Still die erste Arbeit über „Hyperaktivität“ veröffentlicht. Still vermutete hinter dieser Störung einen angeborenen oder perinatal erworbenen Defekt. 30 Jahre später, 1932, publizierten die deutschen Psychiater Kramer und Pollnow die Arbeit „Über eine hyperkinetische Erkrankung des Kindesalters“. 1980 wurde die „Störung mit Aufmerksamkeitsdefizit bei Hyperaktivität“ in die amerikanische Nomenklatur DSM-III aufgenommen. 1992 wurde sie schließlich auch als „Hyperkinetisches Syndrom“ ins ICD-10 hinzugefügt. Im ICD-10 wird ADHS unter F90.0 „Hyperkinetische Störung“ diagnostiziert.
ADHS im Erwachsenenalter
Die Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter basiert im Wesentlichen auf Berichten funktioneller Beeinträchtigungen der Kindheit. Auch finden wir bei Erwachsenen häufig weitere komorbide psychische Störungen, die die Diagnostik erschweren. Gerade bei der Depression gibt es viele Überlappungen von Symptomen wie vermindertes Interesse, Erschöpfungsgefühl oder Konzentrationsstörungen. Vor allem hier ist der anamnestisch eruierende Verlauf für die Diagnosestellung besonders wichtig. Auch körperliche Erkrankungen können ADHS-ähnliche Symptome wie Schilddrüsenerkrankungen oder Diabetes hervorrufen.
Symptome und Diagnose
Wichtig für die Diagnosestellung der ADHS ist ein früher Beginn der Erkrankung, nämlich vor dem sechsten Lebensjahr. Außerdem müssen sich Symptome aus den drei Bereichen „Unaufmerksamkeit“, „Überaktivität“ und „Impulsivität“ finden. Beim Erwachsenen zeigt sich die ADHS oft in modifizierter Form. Die Unaufmerksamkeit zeigt sich hier in Form von Konzentrationsproblemen, vor allem im Beruf. Überaktivität finden wir in häufigem Wechsel zwischen verschiedenen Aktivitäten und die Impulsivität kann durch ein schlechtes Zeitmanagement festgestellt werden oder auch durch impulsive Entscheidungen. Erwachsene mit ADHS haben meist eine geringere Schulbildung, häufigere Arbeitsplatzwechsel, oft kriminelle Delikte und mehr Scheidungen.
Differenzialdiagnose
Aufgrund von Überschneidungen der Symptome ist eine Differenzialdiagnose zu anderen psychischen Störungen oft erschwert. Unaufmerksamkeit kann auch bei affektiven Störungen, bei Angststörungen und bei psychotischen Störungen auftreten. Impulsivität finden wir ebenfalls bei der Manie bzw. Hypomanie, bei Substanzgebrauch oder bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen.
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ADHS im Erwachsenenalter ist nicht immer leicht zu diagnostizieren, da es viele Überschneidungen mit anderen psychischen Störungen, wie depressive Erkrankungen, gibt. Hier gilt es den diagnostischen Blick zu schärfen und eventuell auch psychologische Testungen zur genaueren Abklärung einer ADHS zu verwenden.
Ein weiteres Problem der Diagnostik kann sein, dass ADHS mittlerweile einen hohen Bekanntheitsgrad hat und Symptome eventuell manipuliert werden, um eine ADHS-Diagnose zu erlangen.
Die depressive Störung ist eine der häufigsten komorbiden psychischen Erkrankungen der ADHS im Erwachsenenalter. Es zeigt sich hier eine Korrelation zwischen dem Schweregrad der ADHS und dem Auftreten komorbider depressiver Episoden. Da sich manche Kernsymptome der ADHS sowie der Depression, wie vermindertes Interesse, Erschöpfungsgefühl oder Konzentrationsstörungen, bei beiden Krankheitsbildern finden, ist eine exakte Diagnose oft erschwert. Entscheidend für die Differenzierung ist hier der anamnestisch zu eruierende Verlauf. Uncharakteristisch für ADHS ist eine durchgehend niedergeschlagene Stimmung für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen.
Während bei der Depression Antidepressiva eine deutliche Besserung der Symptomatik bewirken, ist dies bei der ADHS als komorbider Störung meist nicht der Fall. Hier sollte eine kombinierte Behandlung mit spezifischen ADHS-Medikamenten erfolgen. Naturgemäß sind diese retrospektiven Angaben dann oft ungenau und unvollständig. Sie können zudem an körperlichen Erkrankungen leiden, die ADHS-ähnliche Symptome hervorrufen, wie Schilddrüsenerkrankungen oder Diabetes.
Pharmakotherapie bei ADHS
Zur Pharmakotherapie der ADHS stehen unterschiedliche Substanzgruppen zur Verfügung; zum einen Stimulanzien wie Methylphenidat (Concerta®, Ritalin®, Equasym®, Medikinet®) und Amphetamine mit einem vorwiegend dopaminergem Angriffspunkt und zum anderen Atomoxetin (Strattera®) mit vorwiegend noradrenergem Angriffspunkt. Stimulanzien wirken rasch und sicher, jedoch besteht die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung, wobei ein Missbrauch dieser Medikamente bei ärztlich behandelten ADHS-Patienten eher selten zu finden ist.
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Atomoxetin ist das erste Medikament, das gezielt zur Behandlung von ADHS entwickelt wurde. In Österreich ist Atomoxetin seit 2013 zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen zugelassen. In Studien zeigt sich eine vergleichbare Wirkung gegenüber Methylphenidat.
Die Behandlung mit ADHS sollte leitliniengerecht erfolgen, d.h. von Prim. Dr.
Weitere Behandlungsmethoden
Neben der pharmakologischen Behandlung der ADHS sind psychotherapeutische Maßnahmen unumgänglich, wobei sich hier die kognitive Verhaltenstherapie bewährt hat.
Serotonin und ADHS
Die Symptome der ADHS sind eng mit der Funktionsweise der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin verbunden. Die hier beteiligten Hirnnetzwerke sind vor allem der präfrontale Cortex (v.a. Dopaminaktivität), der hintere parietale Cortex (v.a. Noradrenalinaktivität) sowie das Kleinhirn (Motorik) und der Bereich der Basalganglien („Timing“).
Serotonerge Antidepressiva gehören mit 1,8 Mrd. definierten Tagesdosen pro Jahr für Deutschland im Jahr 2022 zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten. Dennoch hinkt unser Verständnis für die Wirkungsweise dieser Medikamente trotz der extensiven Verschreibungspraxis nach wie vor deutlich hinterher. Serotonin ist ein evolutionär uraltes Molekül, das für die Gehirnentwicklung und die Ausformung neuronaler Schaltkreise entscheidend ist.
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Die Existenz von mindestens 12 verschiedenen 5‑HT-Rezeptortypen im menschlichen Gehirn deutet auf die enorme Bandbreite seiner Wirkungen hin.
Fallbeispiele
Fallbeispiel 1: Frau Y.
Frau Y., 28 Jahre alt, kommt bei gegebenem Kinderwunsch mit dem Wunsch nach Absetzen der laufenden Therapie. Seit einer depressiven Episode im Alter von 16 Jahren nimmt die Patientin Fluoxetin ein. Die anfängliche Tagesdosis von 20 mg wurde 2 Jahre später aufgrund erneuter depressiver Beschwerden sowie auch einer subklinischen Essstörung auf 40 mg erhöht. Unter dieser Dosis sei die Patientin seither anhaltend stabil remittiert. Seit 8 Jahren erfolgt die weitere Verschreibung durch den Hausarzt, eine fachärztliche Betreuung wurde nicht mehr wahrgenommen. Zumindest drei lange zurückliegende Absetzversuche führten nach Wochen bis Monaten zur Verschlechterung. Nach erneuter Aufdosierung kam es jedoch immer rasch wieder zur Besserung, sodass die Therapie dann letztlich unverändert fortgeführt wurde. Es wird ein langsames Ausschleichen verfolgt, womit die ab etwa einer Tagesdosis von 10 mg zunehmend erkennbaren Absetzbeschwerden ohne zusätzliche Maßnahmen auf ein Minimum reduziert werden können. Das Ausschleichen erfolgt über insgesamt 14 Monate, wovon mehr als 10 Monate benötigt werden, um ohne Schwierigkeiten von 10 mg auf null zu gelangen. Dennoch kommt es fünf Monate nach vollständigem Absetzen zum Auftreten zunehmend deutlicher depressiver Symptome, sodass schließlich die Therapie erneut begonnen werden muss.
Fallbeispiel 2: Herr R.
Herr R., 54 Jahre alt, kämpft seit vielen Jahren mit anhaltenden depressiven Beschwerden. Wiederholte Versuche psychotherapeutischer Behandlung wurden vom Patienten als nicht hilfreich abgebrochen. Auch frühere medikamentöse Behandlungsversuche mit Citalopram (bis 40 mg), Mirtazapin 30 mg plus Venlafaxin (bis 225 mg) und auch Duloxetin (bis 120 mg) führten zu keiner subjektiven Besserung der depressiven Symptomatik. Stattdessen schildert der Patient unter allen diesen medikamentösen Einstellungen, die jeweils über mehrere Monate und bis über 1 Jahr fortgeführt worden seien, eine deutliche zusätzliche Belastung durch sexuelle Störungen, wie auch subjektive Dämpfung und eine Verstärkung der Anhedonie. Unter Mirtazapin plus Venlafaxin kam es darüber hinaus auch zu einer deutlichen Gewichtszunahme. Eine nun zur Abklärung des V. a. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) durchgeführte testpsychologische Diagnostik ergibt die Diagnosen einer Dysthymie mit rezidivierender depressiver Störung sowie eine deutliche Persönlichkeitsakzentuierung mit narzisstischen und emotional-instabilen Merkmalen. Die vermutete ADHS kann nicht bestätigt werden. Der Patient willigt in einen Behandlungsversuch mit Bupropion ein, wobei 150 mg innerhalb von Tagen als verträglich und hilfreich erlebt werden, die Aufdosierung auf 300 mg führt zu einer weiteren deutlichen Besserung.
Das Prinzip der freien Energie und Serotonin
Ein umfassenderes Verständnis kann durch die Integration verschiedener wissenschaftlicher Ebenen geboten werden. Den fundamentalen theoretischen Rahmen bildet das von Karl Friston entwickelte Prinzip der freien Energie. Es besagt, dass das Gehirn ständig versucht, die Diskrepanz zwischen seinen Vorhersagen über die Welt und den tatsächlichen sensorischen Informationen (den „Vorhersagefehlern“) zu minimieren. Ein zentrales Konzept ist die „Präzision“: das Vertrauen, das das Gehirn entweder seinen eigenen Vorhersagen (Priors) oder neuen sensorischen Daten beimisst.
5-HT Rezeptoren und ihre Funktion
5‑HT1A-Rezeptoren werden mit passivem Coping und Stressmilderung in Verbindung gebracht. Ihre Aktivierung fördert emotionale Stabilität. Klassische Antidepressiva (SSRIs - Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer) erzeugen eine tonische Verstärkung serotonerger Wirkung und bewirken damit eine Umgewichtung serotonerger Signalübertragung hin zu diesem Wirkungsweg. 5‑HT2A-Rezeptoren sind dagegen mit aktivem Coping und erhöhter neuronaler Plastizität assoziiert und das primäre Ziel klassischer Psychedelika.
Tabelle: Rezeptor-Assoziierte Funktionen
| Rezeptor | Assoziierte Funktion (nach Carhart-Harris) | Wirkung im Predictive-Coding-Modell | Subjektives Erleben | Pharmakologische Wirkung durch |
|---|---|---|---|---|
| 5‑HT1A | Passives Coping, Stressmilderung, Stabilität | Erhöht die Präzision von Priors (bestehenden Modellen) | Sicherheit, Stabilität, Berechenbarkeit, „Abgeklärtheit“ | Gewichtung der Serotoninwirkung in diesem Pathway wird verstärkt durch SSRIs |
| 5‑HT2A | Aktives Coping, erhöhte Plastizität, Flexibilität | Verringert die Präzision von Priors | Verunsicherung, Zweifel, „Risikogefühl“ |
Serotonerge Antidepressiva (SSRIs, SSNRIs-Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) verstärken demnach die tonische serotonerge Transmission und verschieben damit initial häufig (aber abhängig von der vorbestehenden Gewichtung) zunächst die Balance in Richtung 5‑HT2A-Achse. Damit können viele der anfänglichen Eindosierungsbeschwerden gut erklärt werden, die häufig wie ein mildes Serotoninsyndrom imponieren können.
Unter anhaltender tonischer Aktivierung kommt es im Verlauf zur Herabregulation der Transmission über die 5‑HT2A-Rezeptorachse ebenso wie über die präsynaptischen 5‑HT1A-Autorezeptoren, nicht aber über die postsynaptische 5‑HT1A-Achse. Eine übermäßige Signalgebung über diese Achse könnte aber auch andere Nebenwirkungen wie das Gefühl emotionaler Abgestumpftheit, subjektive Dämpfung oder Müdigkeit, sexuelle Störungen oder auch Gewichtszunahmen (z. B. als Konsequenz eines verstärkten Parasympathikotonus) erklären.
Unter stabiler langfristiger Einnahme von serotonergen Antidepressiva kann es aber auch dazu kommen, dass der Organismus zunehmend einen neuen „Set-Point“ für die Balance zwischen 5‑HT1A- und 5‑HT2A-Wirkungsachsen heranzieht und entsprechende allostatische Reaktionsbildungen das Ausschleichen dieser Medikamente durch Hervorrufen von Absetzbeschwerden erschweren bzw.
Aber auch die Effekte anderer serotonerg wirksamer Substanzen können in diesem Modell besser erklärt werden, auch wenn ein entsprechendes Eingehen auf andere Substanzen aus Platzgründen im Rahmen dieses Artikels nicht möglich ist. Beispielhaft kann darauf hingewiesen werden, dass atypische Antipsychotika oft 5‑HT2A-Rezeptoren blockieren, was die Wahrnehmung stabilisiert und so zum antipsychotischen Effekt beiträgt.
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