Down-Syndrom und Autismus-Spektrum-Störung: Eine differenzierte Betrachtung

Inklusion ist ein wichtiges Thema in der Bildungspolitik. Seit der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 haben Kinder mit Behinderungen einen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung. Doch die Umsetzung gestaltet sich in der Praxis oft schwierig. Inklusion bedeutet: Lehrkräfte unterrichten verstärkt besonders förderbedürftige Schüler:innen.

Eine Forschergruppe des Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation hat nun die Stereotype von angehenden Lehrkräften gegenüber Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf untersucht.

Stereotype angehender Lehrkräfte

Eine aktuelle Studie untersuchte die Stereotype von angehenden Lehrkräften gegenüber Schüler:innen mit Autismus, Down-Syndrom und Legasthenie. Das Ergebnis: Es herrschen ausgeprägte Vorurteile, die sich negativ auf die Förderung dieser Kinder auswirklen können!

Das DIPF-Team arbeitete für seine Untersuchung mit Lehramtsstudierenden zusammen, die sich in unterschiedlichen Phasen des Studiums befanden, die verschiedene Fächer belegt hatten und für verschiedene Schulformen studierten. In einer Vorstudie führten die Wissenschaftlerinnen zunächst Interviews mit 13 Studierenden, in denen diese unter anderem Stereotype nennen sollten, die sie mit den genannten Gruppen verbinden. Dabei zeigte sich, dass die Studienteilnehmenden durchaus differenzierte Einschätzungen hatten, die sich zwischen den Förderbereichen Autismus, Down-Syndrom und Legasthenie unterschieden.

Um diese Befunde zu quantifizieren, befragten die Forschenden in einer zweiten Studie 213 angehende Lehrkräfte aus ganz Deutschland. Studienteilnehmenden haben durchaus differenzierte Einschätzungen, die sich zwischen den Förderbereichen Autismus, Down-Syndrom und Legasthenie unterschieden. Insgesamt bestätigt die Studie, dass Lehrkräfte durchaus differenzierte Sichtweisen auf Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben.

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In die übergreifenden Kategorien „kompetent“ und „warmherzig“ sind systematisch zahlreiche Einzel-Stereotype, die von Lehramtsstudierenden genannt wurden, eingeflossen.

Ergebnisse der Studie

Im Vergleich wurden autistische Schülerinnen und Schüler am kompetentesten und am wenigsten warmherzig, Kinder mit Down-Syndrom als am warmherzigsten und am wenigsten kompetent empfunden. Die Autorinnen und Autoren sind überzeugt, dass diese Einschätzungen das Verhalten von Lehrkräften beeinflussen und sich auf die Lernchancen der Schüler:innen auswirken können.

„Es greift zu kurz, alle Schülerinnen und Schüler in die gleiche Schublade zu stecken. Sie haben spezifisch ausgeprägte Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die sich stark voneinander unterscheiden. Schätzen Lehrkräfte zum Beispiel ein Kind aufgrund einer Autismus-Diagnose von vornherein als sehr intelligent oder gar hochbegabt ein, könnten sie eventuell dessen Förderbedarf übersehen und es nicht genug unterstützen. Schließlich sind viele autistische Schüler:innen nicht hochbegabt.

Um Inklusion erfolgreich umzusetzen, plädieren die Forschenden dafür, die Einstellungen von Lehrkräften stärker in den Blick zu nehmen. Stereotype sollten hinterfragt und Lehrkräfte dabei unterstützt werden, die individuellen Stärken und Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen. Dazu braucht es geeignete Aus- und Fortbildungsangebote, die Lehrkräfte für das Thema sensibilisieren und ihnen Handlungsstrategien an die Hand geben.

Das Autismus-Spektrum

Autismus ist ein Krankheitsbild mit vielen Gesichtern; den Autisten gibt es nicht. Experten sprechen daher vom „Autistischen Spektrum“. Es reicht vom talentierten, schrulligen Menschen (Asperger-Syndrom) bis hin zu der Person, die vollends in ihrer Welt versinkt (Frühkindlicher Autismus). Diese beiden bedeutendsten Formen des Autismus grenzen das weite Feld ein: Am einen Ende der frühkindliche Autismus als schwerste Form, am anderen Ende das Asperger-Syndrom mit seiner leichteren Ausprägung (siehe Kasten). Dazwischen gibt es zahlreiche Abstufungen.

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Es ist eine eigene Welt, in der autistische Menschen leben. Eine Welt, in der Zahlenkolonnen Spielgefährten ersetzen, in der sich die Körpersprache des Nachbarkindes von jener des Teddybären in nichts unterscheidet. Wie weit die Tür von dieser Welt zu jener der Eltern offen steht, hängt von der Ausprägung der Krankheit ab.

Formen und Symptome

Zu der ersten gehören Störungen der sozialen Interaktion. Die Kinder haben große Probleme mit der nonverbalen Kommunikation, sie können Mimik, Gestik und Körpersprache anderer Menschen schwer oder überhaupt nicht deuten. Und sie können diese nonverbalen Zeichen selbst nicht oder nur sehr eingeschränkt einsetzen.

Zur zweiten Symptomgruppe gehören sprachliche Probleme: Die Sprachentwicklung ist meist verzögert. Ist sie es nicht, fällt es den Betroffenen schwer, zu kommunizieren. Sprache dient dabei nicht dazu, Gefühle zu transportieren, sondern lediglich Informationen zu geben à la „Ich habe Hunger“ oder „Ich bin müde“. Small talk ist autistischen Menschen fremd. Dazu kommen Sprachauffälligkeiten wie die Echolalie, also das automatische und zwanghafte Wiederholen von Wörtern oder Sätzen. Auch Gedichte und ganze Gedichtbände sind im Nu gespeichert und werden ohne Probleme fehlerlos rezitiert.

In die dritte Symptomgruppe fallen stereotype Beschäftigungen, Routinen und Interesse an für uns scheinbar unwichtigen Details. Spielt ein nicht autistisches Kind beispielsweise mit einem Auto, stellt es Szenen aus dem Alltag nach: Das Auto fährt einmal langsam, einmal schnell, kollidiert mit anderen Autos, wird abgeschleppt, repariert etc. Ein autistisches Kind konzentriert sich dagegen z. B. auf die Reifen und darauf, wie sie sich drehen. Routinen sind extrem wichtig: der immer gleiche Schulweg, das immer gleiche Frühstück. Das gibt Sicherheit, und die ist für autistische Kinder essenziell.

Kinder mit dieser Form des Autismus sind in der Regel kognitiv beeinträchtigt. Menschen mit Asperger-Syndrom sind normal bis übermäßig intelligent und können die Sprache als Kommunikationsmittel einsetzen. Die Sätze klingen vielleicht seltsam, sind aber verständlich. Intelligenz und Einsatz der Sprache sind zwei Faktoren, durch die sich das Asperger-Syndrom im Wesentlichen vom Frühkindlichen Autismus unterscheidet.

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Ursachen und Diagnose

Forscher gehen heute davon aus, dass die verschiedenen Erscheinungsformen des Autismus entscheidend von genetischen Faktoren bestimmt werden. Man wisse, dass Veränderungen an mehreren Genen beteiligt sind, sagt OA Dr. Wolfgang Kaschnitz, Kinderarzt und Kinder- und Jugendpsychiater an der Grazer Universitäts-Kinderklinik. Klar sei jedoch auch, dass nicht immer die gleichen Gene defekt sind. Die genauen Ursachen sind ungeklärt, vieles liegt noch im Dunkeln.

Ein paar Ecken haben Forscher bisher aber ausgeleuchtet: Sicher nicht ursächlich beteiligt sind sogenannte interaktive psychodynamische Faktoren. „Früher ging man davon aus, dass die sogenannten ‚Kühlschrankmütter‘ ihre Kinder zu Autisten machen, Mütter also, die ihren Kindern nicht genug Wärme geben. Heute wissen wir, dass das Verhalten der Mutter keine Rolle bei der Entstehung von Autismus spielt“, sagt Kaschnitz. Ausgeschlossen sei auch der Einfluss von Quecksilber in Impfungen. Quecksilber war lange Zeit Bestandteil vieler Kinderimpfstoffe, und man nahm an, dass es Autismus hervorruft. Irgendwann verschwand das Quecksilber aus den meisten Impfstoffen, die Zahl der autistischen Kinder sank jedoch nicht.

Autismus macht sich in den ersten drei Lebensjahren bemerkbar - bei einem Kind vielleicht unmittelbar nach der Geburt, bei einem anderen einige Monate oder Jahre später. Buben sind etwa vier Mal häufiger betroffen als Mädchen. Eltern sollten unter anderem dann hellhörig werden, rät Kaschnitz, wenn das Kind nicht zu sprechen beginnt, Worte oder Sätze stets wiederholt (Echolalie), wenn es kein Interesse an Spielzeug zeigt, keine Gegenstände bringt, um sie den Eltern zu zeigen, oder wenn es kein Interesse an anderen Kindern zeigt.

Haben Eltern den Verdacht auf Autismus, führt der erste Weg zum Kinderarzt. Kann er den Verdacht der Eltern nicht ausräumen, ist es sinnvoll, eine auf Autismus spezialisierte Ambulanz aufzusuchen, da es schwer ist, Autismus von anderen Verhaltensstörungen abzugrenzen. „Man braucht viel Erfahrung“, sagt Kaschnitz: So sieht Autismus auf den ersten Blick vielleicht aus wie eine Sprachstörung. Kinder mit Sprachstörungen haben jedoch keine Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Auch Hyperaktivität muss vom Autismus unterschieden werden - die beiden können jedoch bei vielen autistischen Kindern als Paar auftreten.

Therapie und Förderung

Eine Heilung gibt es zwar nicht, wohl aber zahlreiche Möglichkeiten, um das Kind zu fördern. „Autismus lässt sich sehr gut behandeln“, sagt Kaschnitz; und zwar mit Verhaltenstherapie, durch die die Kinder beispielsweise lernen, was ein Kompliment ist oder wie ein Mensch aussieht, der traurig ist - und was sich dieser Mensch dann von seinem Freund oder Spielkameraden wünscht. Kurz: Sie lernen das Grundlegende der Kommunikation. Dazu kommt die Förderung der kognitiven Fähigkeiten. „Viele autistische Kinder sind intelligenter als sie wirken“, sagt Kaschnitz. Der Grund liegt darin, dass sie Verhaltensweisen nicht imitieren können, wozu beispielsweise Kinder mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom, in der Lage sind. „Die Therapie sollte dazu führen, dass das Kind zu imitieren beginnt“, erklärt der Kinderarzt. In einem zweiten Schritt wird an den kognitiven Fähigkeiten gearbeitet: Die Kinder lernen richtig zu sprechen, zu lesen, zu schreiben, zu rechnen.

Medikamente sind bei alldem kaum ein Thema - außer, das Kind geht aggressiv gegen sich oder andere vor. Diese Frühförderung schafft, was Medikamente nie bewirken können: Sie stößt die Tür zwischen der normalen und der autistischen Welt immer weiter auf.

Genaue Daten zur Häufigkeit der Krankheiten des Autismus-Spektrums sind laut eines Berichts der Europäischen Kommission rar; laut Schätzungen sind etwa 30 bis 60 von 10.000 Kindern von einer Form des Autismus betroffen.

Tabelle: Stereotype Einschätzungen von Schülern mit Förderbedarf

Förderbedarf Wahrnehmung der Kompetenz Wahrnehmung der Warmherzigkeit
Autismus Am kompetentesten Am wenigsten warmherzig
Down-Syndrom Am wenigsten kompetent Am warmherzigsten

Quelle: Schell, C., Dignath, C., Kleen, H., John, N. & Kunter, M. (2024). Judging a book by its cover? Investigating pre-service teacher’s stereotypes towards pupils with special educational needs.

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