In Friedrich Schillers Ballade „Der Ring des Polykrates“ heißt es: „Mir grauet vor der Götter Neide. Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil.“ Er beschreibt damit eine existentielle Angst des Menschen, der - einmal aus dem Paradies vertrieben - der Welt und ihren Geschehnissen mit Sorge begegnet und dem Glück des Augenblicks nicht mehr trauen kann.
Eine solche Haltung ist durch vielfältige Lebenserfahrung gestützt, im privaten Lebenskreis und in den großen Zusammenhängen der Geschichte.
Die dunkle Seite der Angst: Schwarzmalerei und Manipulation
Schwarzmalerei und das Schüren von Angst ist derzeit von trauriger Aktualität. Mit diffusen, aufgebauschten Geschichten und möglichst beunruhigenden Meldungen, versuchen Interessensgruppen die verständliche Sorge der Menschen für ihre Zwecke zu missbrauchen, ihnen zu vermitteln, dass der Glaube an das Gute trügerisch ist, und etwa nur ein „starker Mann“ den nötigen Schutz bieten kann.
„Fake News“ heißt ein neues Schlagwort: Mit Falschmeldungen werden gezielt Ängste geschürt.
Christentum und Leidenschaft: Ein komplexes Verhältnis
Seit jeher ist das Verhältnis von Religion und Moral zu den Leidenschaften belastet. „Ein gelassenes Herz bedeutet Leben für den Leib, doch Knochenfraß ist die Leidenschaft", weiß der alttestamentliche Prediger (Spr 14,30). Und Paulus bläst zum Kampf gegen Leidenschaft und andere Laster: „Darum tötet, was irdisch an euch ist: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die Habsucht, die ein Götzendienst ist. All das zieht den Zorn Gottes nach sich" (Kol 3,5).
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Listen mit den verwerflichsten Lastern - bei Paulus Lasterkataloge - wurden über die Jahrhunderte des frühen Christentums weitergetragen und systematisiert, bis daraus im siebten Jahrhundert die sieben Todsünden in ihrer klassischen Aufzählung entstanden: Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei und Wollust.
Die Bekämpfung dieser verwerflichen Leidenschaften stellte neben der Übung der Tugenden die zentrale Herausforderung für ein sittliches Leben dar.
Der Wandel der Perspektiven: Leidenschaften in der Neuzeit
Die beginnende Neuzeit erschloss andere Perspektiven: Auf der einen Seite ließen negative Erfahrungen das Vertrauen in die lasterbezwingende Macht der Vernunft schwinden. Der Mensch wurde mehr als Wesen der Leidenschaft denn als Wesen der Vernunft gesehen. Anderseits konnte man den negativen Leidenschaften auf gesellschaftlicher Ebene auch positive Wirkungen abgewinnen.
Habgier, Machtsucht und Vergnügungssucht würden zu einem Aufblühen der Verbrauchsgüterwirtschaft, des Unterhaltungswesens oder der militärischen Schlagkraft führen, während umgekehrt jene Eigenschaften, die man beim Einzelnen Tugenden nennt - wie Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und zufriedene Zurückgezogenheit - eine Verarmung der Gesellschaft sowie kriegerische Unterlegenheit bewirkten.
Private Laster würden sich zu öffentlichen Vorteilen entwickeln, während private Tugenden öffentliche Nachteile verursachten. Mit dieser provokanten sozialpsychologischen These traf der englische Arzt Bernard de Mandeville den Nerv einer neuen soziopolitischen Ordnung, in der zumindest Neid, Habgier und Geiz von verwerflichen Lastern zu geheimen Tugenden der Ökonomie avancierten.
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Die Ökonomie der Leidenschaften in der heutigen Gesellschaft
Unsere heutige Konkurrenzgesellschaft kokettiert mit diesen Lastern. Zwar würde es niemandem einfallen, sie rundheraus als wünschenswerte Tugenden anzupreisen. Dennoch appelliert man ohne Scham an diese niederen Antriebe. In der Werbung wird die Gier nach dem ultimativen Gewinn oder nach dem besten Schnäppchen augenzwinkernd zugleich vorausgesetzt und angeheizt.
Die heutige globale Wettbewerbsgesellschaft muss die Leidenschaften nicht mehr bekämpfen - sie hat gelernt, sie sich nutzbar zu machen. Wer von der Gier nach dem besten Job, dem meisten Geld, dem Platz an der Sonne oder auf der Titelseite getrieben wird, kann manipuliert, instrumentalisiert und nutzbar gemacht werden. Der moderne Mensch ist zugleich begierig und vernünftig.
Die Faszination des Exzesses: Pop-Ikonen und die Schattenseiten der Leidenschaft
Angesichts dieser Gängelung mit großen Begierden wächst die Faszination von unbändig ausgelebter Leidenschaft. Wer das Arrangement mit der modernen Ökonomie der Leidenschaften eingegangen ist, starrt fasziniert - mit Abscheu, Neid und Bewunderung zugleich - auf jene Freibeuter der Leidenschaft, die die destruktive Wirkung ungezügelter Lebensgier bewusst in Kauf nehmen.
Die Faszinationskraft der Leidenschaften leuchtet grell auf, wo sie bis zum Exzess ausgelebt wird: als ungebremste Lust am Leben, die sich alles leisten und nichts auslassen will.
Eine lange Liste von Idolen gibt es mittlerweile, die dieses Prinzip bis zur bitteren Neige - im wörtlichen Sinne: - ausgelebt haben: in der Schauspielwelt James Dean, der den Spruch vom schnellen Leben und frühen Tod als Lebensmotto vertrat und so berühmt machte (†1955, 24-jährig); die Film-, Sex- und Popikone Marilyn Monroe (†1962, 36-jährig), der österreichische Filmstar Romy Schneider (†1982, 43-jährig), der geniale deutsche Filmemacher Werner Fassbinder (†1982, 37-jährig).
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Die Reaktion der gezähmten Heutigen auf solches selbstzerstörerisches Ausleben der Leidenschaft ist höchst ambivalent. Da findet sich längst nicht nur moralisierende Abscheu, denn man spürt, dass diese Rock-Idole den Göttern unserer modernen Zivilisation nahe kamen. Im Unterschied zu den zahl- und namenlosen Aussteigern, die schnell als Abschaum abgetan werden, haben diese etwas erreicht: Geld, Macht und einen großen Namen.
In kometenhaftem Aufstieg rührten sie an jene Sterne, die uns Heutigen lockend und zugleich unerreichbar vor Augen gestellt werden. Und diesen Aufstieg mussten sie - tragisch - mit dem Tod bezahlen. So sind sie zweierlei zugleich: Wegweiser - denn ein wenig wollen wir doch alle fliegen wie sie - und Warnung: Wer zu hoch hinaus will, wird sich, wie Ikarus, die Flügel versengen und abstürzen.
Christsein als Befreiung der Leidenschaft?
Für den Menschen, der sich der Konkurrenzlogik des Marktes im Kampf um Geld, Macht und Position überantwortet hat, ist eine Befreiung der Leidenschaft höchst angesagt. Das radikale Ausleben der Begierden, wie es uns die Pop-Ikonen vorgestorben haben, scheint hier keine Alternative zu bieten, - es ist schon erahnbar, dass sie sich der Logik des Marktes nicht entziehen konnten und vielleicht gerade deshalb verzweifelten.
Bietet Religion, bietet das Christentum hier eine Alternative? Ein Christentum, das auf moralische Gebote reduziert ist, kann da gewiss nur wenig ausrichten. Um das zu sehen, müssen wir nicht erst Mandeville mit seiner Sicht vom Menschen als dem Sklaven seiner Begierden bemühen.
„Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. ... das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Gegen diese Übermacht negativer Begierde vermag ein noch stärkeres Insistieren auf das Gesetz gar nichts - im Gegenteil: „Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot" (Röm 7,8).
Allein Gottes Gnade kann nach Paulus vom Stachel der Begierde befreien. Und solche Befreiung besteht nicht in einer Paralysierung des Begehrens, sondern in seiner Neuausrichtung auf den wahren Gott. Anstelle der Lust am Niedrigen und Bösen tritt nicht emotionale Windstille, sondern eine neu aufflammende „Lust an Gott und seiner Sache".
„Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen. So hoffe ich, auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen. Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. Brüder, ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist.
Das biblische Menschenbild: Leidenschaft als Teil der Schöpfung
Deutlich wird das bereits bei den Grundworten, mit denen das Alte Testament den Menschen bezeichnet. Gott schuf ihn als eine lebendige „nephesch", heißt es im zweiten Schöpfungsbericht (Gen 2,7). Dieses Wort, das die deutschsprachigen Bibelausgaben meist etwas schmalbrüstig als Seele übersetzen, umfasst die ganze Bandbreite der Leidenschaften von der Sehnsucht nach Gott bis zu den „vitalen Bedürfnissen, ohne deren Stillung der Mensch nicht weiterleben kann".
„Die nephesch als solche steht für das unbegrenzte Begehren" (ebd. 35). Und solche nephesch hat der Mensch nicht nur, „sondern er ist nephesch, er lebt als nephesch" (ebd. 26).
Ähnlich verhält es sich mit den anderen Grundworten, die nicht nur ein Teilvermögen des Menschen kennzeichnen, sondern im hebräischen Verständnis jeweils den Menschen als ganzen, aber unter verschiedenem Hinblick bezeichnen: Er ist basar, Fleisch, was seine Hinfälligkeit bezeichnet, die ihn auf die unausgesetzte lebenserhaltende Schöpfermacht Gottes anweist.
All das wird vom Neuen Testament ohne Abstriche übernommen. Jesus, lebendiges Bild des lebendigen Gottes, ist selber keineswegs frei von Leidenschaften: er lacht und weint und wird wütend. Und er spricht von der mütterlichen Liebe des göttlichen Vaters ebenso wie von dessen furchtbarem Zorn.
Paulus bleibt in derselben Tradition: Wenn er vom schwachen Fleisch des Menschen spricht und die Macht des göttlichen Geistes beschwört, der in uns wirkt, was wir aus eigenen Kräften nicht vermögen, dann darf das nicht im Sinne einer griechisch-dualistischen Anthropologie verstanden werden. Wie im Alten Testament ist es der ganze Mensch, der begierig, hinfällig und auf Gott angewiesen ist.
Bemerkenswerterweise sind es gerade jene Kirchenväter, denen am meisten die Leibfeindlichkeit des Christentums angekreidet wird, die diesem dynamischen begierde-offenen Menschenbild besonders entsprechen. Augustinus ist hier zu nennen: „Du hast uns auf dich hin geschaffen. Und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir", ruft er am Anfang seiner Bekenntnisse Gott zu. Das fasst die biblisch-dynamische Sicht vom Menschen perfekt zusammen.
Die Neuausrichtung des Begehrens: Ein Schlüssel zur Befreiung
Wo die Menschen in destruktiver Begierde gefangen sind, können sie gerettet werden durch eine Neuausrichtung ihres Begehrens auf den wahren Gott. Durch solche Umkehr wird das Begehren nicht erstickt, sondern vielmehr freigesetzt.
„Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Am Anfang steht hier nicht der Totalverzicht, sondern die Aussicht auf einen unvergleichlichen Schatz. Es ist die Erfahrung eines unvergleichlichen Beschenktseins, die die Kraft zum Loslassen entbindet. Wer sich als grundlos und maßlos beschenkt erfährt, wird frei von der Gier nach Leben.
Aus diesem Begehren heraus „verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker". Es ist ein Begehren, das aus Dankbarkeit entspringt, und solches Begehren unterscheidet sich grundlegend von einem Begehren, das einen Handel abschließen will, gemäß dem Motto: „Ich verkaufe alles, was ich habe, dann wird Gott mich wohl mit einem unvergleichlichen Schatz belohnen" (z.B. im Himmel).
Was wir in allgemeinen Überlegungen erschlossen haben, wird konkret in der Lebensgeschichte von Heiligen. Für Franziskus wurde das Schriftwort vom „alles verkaufen" lebensbestimmend. Er nahm es so wörtlich, dass er seinem Vater allen Erbanspruch und Besitz hinwarf, bis er nackt zurückblieb.
Bei aller Radikalität, in der er die Armut als seine ihm von Gott gesandte Geliebte umarmte, konnte er doch jenen Schritt zuviel vermeiden, der die Radikalität in Fanatismus pervertiert hätte. Dies zeigt etwa die Geschichte von einem Mitbruder des Franziskus, der in den harten Fastenübungen schwach geworden war. Franziskus setzte sich mit ihm zu einem gemeinsamen Festmahl zusammen.
Verzicht in Armut und Fasten war hier nicht der Einsatz, mit dem man von Gott einen himmlischen Gewinn aushandeln konnte.
Ein anderes Beispiel ist die heilige Therese von Lisieux. Ihr junges Leben im Karmel war - inmitten von Missverständnis, kleinlichem Neid und in zunehmender Krankheit - ein dorniger Weg totaler Entsagung. Und doch stand dieser Weg nach unten, der als „kleiner Weg" in die Frömmigkeitsgeschichte eingehen sollte, unter einem keineswegs bescheidenen Lebensmotto.
„Ich wähle alles!", hatte das kleine Mädchen auf die Frage geantwortet, wie viele Puppenkleider sie aus dem angebotenen Körbchen haben wollte. Dieses „Alles wählen" hatte Therese auf einen Weg gebracht, der anderen wie ein Totalverzicht erscheinen musste. Das war ohne Krampf und Bitterkeit nur möglich, weil Therese in der gelebten Christusliebe einen Schatz ahnungshaft erfasst hatte, für den sie bereit war alles andere Lockende aufzugeben.
Die Attraktivität einer Religion des freigesetzten Begehrens
Der Gedanke liegt nahe, dass eine solche Religion des freigesetzten und gesteigerten Begehrens auch für die heutige, nur scheinbar so gottferne Welt höchst attraktiv ist. Gehorcht doch unsere kommerzialisierte Welt einer Logik des Begehrens, die nur mittelfristig und letztendlich nur scheinbar befreiend ist, während sie in Wirklichkeit auf eine subtil manipulierende Weise fesselt.
Es muss verlockend sein, sich von den mediokren Zielen dieser Welt abzuwenden, um das Mehr, oder - mit Therese - alles zu gewinnen.
Allerdings ist in Rechnung zu stellen, dass dieser „schmale Weg" (vgl. Mt 7,14) zugleich ein abgründiger ist. Wir haben schon gesehen, dass es minimale Verschiebungen sind, die aus dem Königsweg des freudigen Loslassens ein Geschäft machen, das letztlich nur zur Verzweiflung führt.
Versuchten nicht auch sie nach dem Prinzip zu leben „Ich wähle alles"? Gewiss war da wenig von Heiligkeit spürbar. Da gab es hemmungslosen Egoismus, Vergnügungssucht, zuletzt Selbstzerstörungswut. Aber da war doch auch anderes: Radikalität im Versuch, Leben und Erfahrung/Botschaft miteinander in Einklang zu bringen, und ein großer Mut, auch auf ungewohnten Wegen zu gehen.
Man fühlt sich erinnert an die heiligen Sünder in den Evangelien, an Maria Magdalena oder an den rechten Schächer am Kreuz.
Wer den Weg des Mittelmaßes verlässt, dem nähern sich nicht nur göttliche Mächte, sondern auch teuflische Dämonen. Nirgends ist das so scharf herausgezeichnet wie in der Legende vom heiligen Christophorus. Als kraftstrotzender Mensch zog er aus, um dem Allerhöchsten zu dienen. So trat er zuerst in den Dienst eines mächtigen irdischen Königs. Bald stellte er fest, dass dieser angstvoll zurückschreckte vor einer höheren Macht - dem Teufel. So verließ er den König, um dem Teufel als dem noch Mächtigeren zu dienen, - bis ...
| Heilige/Persönlichkeiten | Lebensdaten | Besondere Merkmale/Aspekte |
|---|---|---|
| James Dean | †1955 (24-jährig) | Lebte nach dem Motto "schnelles Leben und früher Tod" |
| Marilyn Monroe | †1962 (36-jährig) | Film-, Sex- und Popikone |
| Romy Schneider | †1982 (43-jährig) | Österreichischer Filmstar |
| Werner Fassbinder | †1982 (37-jährig) | Deutscher Filmemacher |
| Franziskus von Assisi | 1181/1182 - 1226 | Lebte Armut und Verzicht radikal |
| Therese von Lisieux | 1873 - 1897 | "Kleiner Weg" der Entsagung, wählte "alles" in Christus |