Lange Zeit galt ADHS als reine Kinderkrankheit. Doch ungefähr die Hälfte aller Betroffenen nimmt die Störung mit ins Erwachsenenalter.
Funktionsweise des Gehirns bei ADHS
Bei Menschen mit ADHS funktioniert das Gehirn anders. Zum Beispiel sind im Vergleich zu Menschen ohne ADHS verschiedene Neurotransmitter nicht im Gleichgewicht, insbesondere Dopamin und Noradrenalin. Diese steuern unter anderem Antrieb und Motivation. Menschen mit ADHS reagieren auf stimulierende Substanzen anders als Menschen ohne die Störung. Koffein, Nikotin und Amphetamine wirken bei ihnen nicht anregend, sondern eher beruhigend.
Symptome von ADHS bei Erwachsenen
Hyperaktivität zählt neben Konzentrationsschwierigkeiten und Impulsivität zu Kernsymptomen von ADHS - sie steckt auch schon im Namen: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Wie stark und auf welche Art und Weise die Symptome bei den Betroffenen ausgeprägt sind, ist sehr individuell. Während bei Kindern die Hyperaktivität oft äußerlich sichtbar ist, weil sie nicht stillsitzen können, ist die Unruhe bei Erwachsenen eher nach innen gerichtet. Zudem gibt es auch Formen von ADHS, bei der die Hyperaktivität als Symptom gar nicht auftritt.
Christian Krohn ist einer von ihnen. "Ich kann mit Kaffee im Körper schlafen, das macht mir überhaupt nichts aus. Das beruhigt mich eher", sagt der 52-Jährige aus Berlin. Christian Krohn hat ADHS. Vor zwei Jahren bekam er die Diagnose.
So wie bei Christian Krohn. Er hat vor allem mit sogenannter "Time-Blindness" zu kämpfen, ist also quasi zeitblind. "Ich lebe immer im Jetzt", sagt er. Termine zu organisieren, an Geburtstage zu denken oder Deadlines einzuhalten, das alles fällt ihm sehr schwer.
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Auch die ADHS-typische Impulsivität hat er bereits an sich beobachtet. "Ich bin oft ungeduldig. Mir fällt es schwer, Leute ausreden zu lassen. Außerdem bin ich Impulskäufer."
Zudem spürt Krohn dauerhaft große innere Unruhe und Anspannung in sich - ein Gedanke jagt den nächsten. "Im Kopf ist ständig Turbo", sagt er. "Wie bei einem Motor, der mit einer hohen Drehzahl läuft." Wenn er ein Thema oder eine Aufgabe gefunden hat, woran er wirklich Interesse hat, ist der "Turbo-Gang" natürlich von großem Vorteil. Hyperfokus nennen Experten dieses Phänomen.
"Ich liebe diesen Teil der ADHS. Ich kann in solchen Momenten dauerhaft konzentriert arbeiten und Höchstleistungen erbringen, ohne dass es mich anstrengt", sagt Krohn. Lange war er Unternehmensberater und später für Siemens im Bereich Strategie und Business Development tätig. Mittlerweile hat er sich erfolgreich selbstständig gemacht.
Krohn sagt: "ADHS'ler sind oft sehr offene, sonnige und begeisterungsfähige Menschen. Prominente, die ihre ADHS öffentlich gemacht haben, sind etwa Moderator und Arzt Eckart von Hirschhausen, Sänger und Schauspieler Justin Timberlake und US-Turn-Olympiasiegerin Simone Biles.
Diagnose von ADHS bei Erwachsenen
Zum Teil wird ADHS außerdem immer noch als Kinderkrankheit wahrgenommen, kritisieren Expertinnen und Experten. Dabei nehmen viele Kinder die Störung mit ins Erwachsenenalter - und mitunter wird sie überhaupt erst dann diagnostiziert.
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"Es gibt nicht den ADHS-Patienten", sagt die Psychiaterin und Neurologin Johanna Krause. Sie hat mit ihrem Mann Anfang der 2000er-Jahre ein Standardwerk zu ADHS im Erwachsenenalter* geschrieben und setzt sich dafür ein, dass ADHS bei Erwachsenen richtig diagnostiziert und behandelt wird. "Es hat lange gedauert, bis sich die Fachwelt davon verabschiedet hat, ADHS nur einseitig als Kinderkrankheit zu sehen", erklärt sie. "Teilweise ist das immer noch nicht richtig angekommen, es gibt viel zu wenig Ärzte, die sich mit dem Thema richtig gut auskennen."
Je nach Studie wird bei drei bis sechs Prozent aller Kinder ADHS diagnostiziert, bei Jungen häufiger als bei Mädchen. Etwa die Hälfte von ihnen nimmt ADHS mit ins Erwachsenenleben.
"Die Diagnostik bei ADHS ist zwar zuverlässig, aber auch sehr aufwendig. Es müssen Fragebögen ausgefüllt und ausführliche Gespräche geführt werden", sagt Felix Betzler. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie leitet die ADHS-Sprechstunde für Erwachsene an der Charité Berlin. Es wird bei der Diagnostik unter anderem in die Kindheit und auf das Familienumfeld geschaut. So kommt es nicht selten vor, dass es in der Familie mehr als einen Betroffenen gibt. Häufiger haben ADHS-Patienten auch Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen, teilweise als Folge von Misserfolgen und Problemen im Leben. Obwohl die Patienten teils deshalb behandelt werden, bleibe ADHS oft undiagnostiziert, so Betzler. Ein Teil der Betroffenen finde erst nach einer regelrechten Odyssee den Weg in seine Sprechstunde.
Behandlungsmöglichkeiten
Mittlerweile gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten. "Vor allem bei einer stark ausgeprägten ADHS erzielen Medikamente einen deutlichen Effekt", sagt Betzler. "Das heißt jedoch natürlich nicht automatisch, dass Medikamente für jeden Patienten der richtige Weg sein muss."
Zusätzlich oder alternativ wird eine Psychotherapie empfohlen, in der die Patienten zum Beispiel Strategien entwickeln können, um mit der ADHS im Alltag besser umzugehen.
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Medikamente zur Behandlung von ADHS
In der ADHS-Therapie werden häufig Stimulanzien wie Methylphenidat und Amphetamin eingesetzt. Eine weitere Option ist Atomoxetin, das sich von den typischen Stimulanzien unterscheidet. Atomoxetin verbessert insbesondere die Kernsymptome Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsdefizit.
Atomoxetin
Atomoxetin ist ein Wirkstoff zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Er ist chemisch sehr ähnlich aufgebaut wie das Antidepressivum Fluoxetin. Tatsächlich nimmt er eine Zwischenstellung zwischen ADHS-Medikamenten und Antidepressiva ein. Seine Wirkung stellt sich wie bei Antidepressiva erst nach einigen Wochen ein, jedoch wirkt Atomoxetin nicht antidepressiv.
Im Gehirn fungiert es vielmehr als sogenannter selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Das heißt: Atomoxetin sorgt dafür, dass von Nervenzellen ausgeschüttetes Noradrenalin (ein Botenstoff) nicht so schnell wieder in die Ursprungszelle aufgenommen wird. Dadurch steigt die Konzentration dieses Botenstoffs, und dieser kann länger wirken.
Atomoxetin ist, aufgrund des fehlenden Abhängigkeitspotenzials und seiner Ähnlichkeit zur Fluoxetin, das Mittel der Wahl zur medikamentösen Therapie von ADHS bei gleichzeitiger Angst-, Tic- oder Substanzstörung.
Atomoxetin dient der Behandlung von ADHS bei Kindern ab sechs Jahren, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Therapie sollte von einem Arzt mit entsprechendem Fachwissen durchgeführt werden und in ein Gesamtbehandlungskonzept eingebunden sein, also beispielsweise auch psychologische, pädagogische und soziale Maßnahmen umfassen.
Die Einnahme von Atomoxetin erfolgt üblicherweise als Einzeldosis am Morgen. Die Kapsel kann unabhängig von einer Mahlzeit mit ausreichend Flüssigkeit eingenommen werden.
Bei mehr als jedem zehnten Patienten treten unerwünschte Wirkungen in Form von vermindertem Appetit, Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, erhöhtem Blutdruck und beschleunigtem Herzschlag auf.
Atomoxetin darf nicht eingenommen werden bei: Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff, gleichzeitiger Behandlung mit Monoaminooxidase-Hemmern (MAO-Hemmern), Engwinkel-Glaukom, schwerwiegenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Phäochromozytom.
Atomoxetin ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz verschreibungspflichtig und daher nur nach Vorlage eines ärztlichen Rezepts in der Apotheke erhältlich.
Methylphenidat
Methylphenidat ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Stimulanzien. Es wirkt als sogenannter Wiederaufnahmehemmer der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn.
Durch Methylphenidat verweilen die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin länger an ihren Rezeptoren und wirken somit länger. Das führt im Gehirn zu einer anregenden Wirkung, Wachheit, erhöhter Konzentrations- und Leistungsfähigkeit.
Insgesamt bessert Methylphenidat alle Kardinalsymptome (Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Impulsivität). Sekundär wird aggressives und störendes Verhalten in der Schule reduziert.
Erwachsenen mit ADHS, die im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen überwiegend mit Ruhelosigkeit, Ungeduld und mangelnder Aufmerksamkeit kämpfen, kann Methylphenidat im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts ebenfalls helfen.
Methylphenidat ist zur Therapie von ADHS bei Kindern ab einem Alter von sechs Jahren zugelassen, wenn sich andere Maßnahmen als unzureichend erwiesen haben. Manche Präparate sind darüber hinaus für die Behandlung von Erwachsenen mit einer seit dem Kindesalter fortbestehenden ADHS indiziert.
Methylphenidat-haltige Medikamente werden als Tablette oder Kapsel eingenommen. Oft ist die Arzneiform pharmazeutisch so modifiziert, dass der Wirkstoff verzögert freigesetzt wird (Retard-Präparate), wodurch die sonst eher kurze Wirkdauer ausgeglichen wird.
Sehr häufig sind Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit, Nervosität, Konzentrationsmangel, Geräuschempfindlichkeit, Kopfschmerzen und verstärktes Schwitzen.
Methylphenidat darf man im Allgemeinen in folgenden Fällen nicht anwenden: wenn man überempfindlich oder allergisch auf den Wirkstoff reagiert, erhöhter Augeninnendruck (Glaukom), gleichzeitige Einnahme von Monoaminooxidase-Hemmern (MAO-Hemmern), Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Methylphenidat ist in jeder Darreichungsform und Dosierung als verkehrfähiges und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel eingestuft.
Vergleich von Atomoxetin und Methylphenidat
Die folgende Tabelle vergleicht einige Aspekte von Atomoxetin und Methylphenidat:
| Merkmal | Atomoxetin | Methylphenidat |
|---|---|---|
| Wirkstoffgruppe | Selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer | Stimulans, Wiederaufnahmehemmer von Dopamin und Noradrenalin |
| Abhängigkeitspotenzial | Gering | Potenziell missbräuchlich |
| Verschreibungspflicht | Ja | Betäubungsmittelrezept erforderlich |
| Nebenwirkungen | Verminderter Appetit, Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, Übelkeit | Schlaflosigkeit, Nervosität, Appetitverlust |
| Wirkungsbeginn | Nach einigen Wochen | Schnell |
Umgang mit ADHS im Alltag
Betroffene wünschen sich mehr Verständnis. Mehr Wohlwollen gegenüber ADHS'lern, das würde sein Leben erleichtern, sagt Christian Krohn. Die Symptomatik stoße auf Unwissen und Unverständnis. Oft würde sein Umfeld nicht verstehen, warum er "sich nicht einfach mehr anstrengen" könne, sagt er. "Ich glaube, vielen ist nicht bewusst, dass ich wirklich nicht anders kann."
"Als Betroffener und Angehöriger bleibt einem fast nichts anderes übrig, als das Ganze mit Humor zu nehmen", sagt er schulterzuckend. "Denn so nervig ADHS manchmal ist, so praktisch ist sie in vielen anderen Fällen." Christian Krohn lacht, dann sagt er: "Und langweilig macht sie das Leben auf jeden Fall nicht."
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